Kapitel 84 Auf keiner Karte

Schritt für Schritt arbeiteten wir uns weiter durch den Wald. Täglich hofften wir aufs Neue, Spuren eines Weges zu finden, und jeder Tag endete mit der gleichen Enttäuschung.

Von dem Schwung, der uns zu Anfang angetrieben hatte, war nichts mehr zu spüren. Die Stimmung unter uns verschlechterte sich, und kleinliches Gezänk machte sich breit. Dedans Respekt vor mir war auf einige letzte Reste geschrumpft, und er forderte mich ständig heraus. Er wollte etwa vom Geld des Maer eine Flasche Schnaps kaufen. Ich lehnte ab. Er hielt Nachtwachen für überflüssig und eine Stolperschnur für vollkommen ausreichend. Ich widersprach.

Jede kleine Auseinandersetzung, die ich gewann, steigerte seinen Groll auf mich. Sein zunächst noch verhaltenes Murren wurde immer lauter. Zwar ließ er es nicht auf eine offene Auseinandersetzung ankommen, dafür sparte er nicht an abfälligen Bemerkungen.

Aus meinem Verhältnis zu Tempi dagegen entwickelte sich allmählich so etwas wie Freundschaft. Tempis Aturisch machte gute Fortschritte, mein Ademisch verbesserte sich immerhin von »unverständlich« zu »undeutlich«.

Wenn Tempi seinen Tanz aufführte, ahmte ich ihn weiterhin nach, und er ignorierte mich weiterhin. Nach einigen Tagen glaubte ich in der Bewegungsfolge eine kriegerische Bedeutung zu erkennen. Eine langsame Armbewegung erinnerte mich an einen Faustschlag, das unendlich langsame Heben des Fußes an einen Tritt. Meine Arme und Beine zitterten nicht mehr vor Anstrengung, wenn ich sie im Gleichtakt mit Tempi bewegte, aber meine Schwerfälligkeit ärgerte

Eine von Tempis Übung sah zum Beispiel kinderleicht aus. Er drehte sich, ließ die Arme kreisen und ging einen kleinen Schritt. Sobald ich es ihm allerdings nachtun wollte, stolperte ich unweigerlich. Ich hatte bereits ein halbes Dutzend verschiedene Fußstellungen ausprobiert, aber keine half.

Doch einen Tag nachdem ich die »Geschichte von der losen Schraube« erzählt hatte, wie Dedan sie später nannte, nahm Tempi meine Anwesenheit auf einmal zur Kenntnis. Als ich wieder stolperte, blieb er stehen und sah mich an. Mit einem Fingerschnippen drückte er sein Missfallen aus. »Geh wieder zurück«, sagte er und nahm ebenfalls die Haltung ein, die meinem Stolpern vorausgegangen war.

Ich gehorchte und versuchte anschließend alles genau so zu machen wie er. Wieder verlor ich das Gleichgewicht und musste rasch einen weiteren Schritt vortreten, um nicht zu stürzen. »Meine Füße sind dumm«, murmelte ich auf Ademisch und krümmte zum Zeichen meiner Verlegenheit die Finger der linken Hand.

»Nein.« Tempi fasste mich mit den Händen an den Hüften und drehte mich. Dann drückte er meine Schultern zurück und gab mir einen Klaps auf das Knie. Ich sollte es beugen. »So.«

Ich führte den Schritt nach vorn erneut aus und spürte den Unterschied. Zwar schwankte ich, aber nicht mehr so stark.

»Nein«, sagte Tempi. »Sieh mir zu.« Er klopfte sich auf die Schulter. »Hier.« Nur einen Schritt von mir entfernt wiederholte er dieselben Bewegungen. Er drehte sich, beschrieb mit den Händen einen seitlichen Kreis und stieß mit der Schulter gegen meine Brust, als wollte er eine Tür aufdrücken.

Obwohl die Bewegung weder schnell noch heftig war, schob er mich mit der Schulter mühelos zur Seite. Die Bewegung hatte eine unwiderstehliche Kraft, als würde man auf einer belebten Straße von einem Pferd gestoßen.

Ich machte einen erneuten Versuch und konzentrierte mich auf die Schulter. Diesmal verlor ich das Gleichgewicht nicht.

Da wir die Einzigen im Lager waren, lächelte ich nicht, sondern Untertreibung.

Tempi schwieg. Sein Gesicht zeigte keine Regung, die Hände hingen bewegungslos an ihm hinunter. Er kehrte zu der Stelle zurück, an der er gestanden hatte, und begann wieder von Anfang an zu tanzen. Sein Gesicht hatte er abgewendet.

Ich betrachtete die Unterweisung als großes Kompliment, ließ es mir aber nicht anmerken. Hätte ich mehr über die Adem gewusst, ich hätte begriffen, dass sie noch viel mehr bedeutete.

Marten wartete hinter einer Anhöhe auf Tempi und mich. Da es zum Mittagessen noch zu früh war, hoffte ich schon, er könnte nach langen Tagen des Suchens endlich auf eine Spur der Banditen gestoßen sein.

»Ich wollte euch das hier zeigen«, sagte Marten und deutete auf eine ausladende, farnähnliche Pflanze ein Dutzend Schritte von uns entfernt. »Eine Rarität. Es ist schon Jahre her, dass ich eine gesehen habe.«

»Was ist das?«

»Ein so genanntes An-Blatt.« Marten betrachtete die Pflanze stolz. »Achtet in Zukunft darauf. Nur wenige kennen es. Es könnte uns Hinweise auf die Anwesenheit von Menschen geben.« Er sah abwartend zwischen uns hin und her.

»Inwiefern?«, fragte ich pflichtschuldig.

Marten lächelte. »Das Interessante am An-Blatt ist, dass es die Berührung durch den Menschen nicht erträgt. Berührst du es mit der Haut, verfärbt sich der entsprechende Teil innerhalb weniger Stunden rot wie Herbstlaub. Oder noch röter. So rot wie deine Kleider.« Marten zeigte auf Tempi. »Anschließend verdorrt die ganze Pflanze und geht ein.«

»Wirklich?« Ich brauchte nicht länger Interesse zu heucheln.

Marten nickte. »Ein Tropfen Schweiß bewirkt dasselbe. Meist genügt deshalb schon die Berührung menschlicher Kleider. Oder einer Rüstung oder eines Stocks, den ein Mensch in der Hand gehalten hat.« Er zeigte auf Tempis Hüfte. »Oder auch eines Schwerts. Manche

Marten führte uns ein paar Schritte von dem An-Blatt weg. »Wir befinden uns hier in einer besonders einsamen Gegend. In der Nähe menschlicher Siedlungen begegnet man dem An-Blatt nicht. Diese Gegend ist praktisch auf keiner Karte verzeichnet.«

»Auf unserer sehr wohl«, erwiderte ich. »Wir wissen genau, wo wir sind.«

Marten schnaubte. »Karten haben nicht nur äußere Grenzen, sondern auch innere. Löcher. Die Menschen tun immer so, als wüssten sie alles, vor allem die reichen. Entsprechend gehen sie mit Karten um. Auf der einen Seite einer bestimmten Linie liegen die Felder von Baron Gierschlund, auf der anderen die von Graf Raffzahn.«

Marten spuckte aus. »Karten dürfen für sie keine leeren Stellen enthalten. Deshalb wird eine Fläche etwa grün gefärbt und mit ›Eld‹ beschriftet.« Er schüttelte den Kopf. »Genauso nützlich wäre es, an der Stelle ein Loch in die Karte zu brennen. Der Wald, in dem wir uns befinden, ist so groß wie ganz Vintas. Er gehört niemandem. Wer hier in die falsche Richtung abbiegt, kann hundert Meilen gehen, ohne auf eine Straße zu treffen, von einem Haus oder Acker ganz zu schweigen. Es gibt hier Orte, die noch nie eines Menschen Fuß betreten hat.«

Ich sah mich um. »Aber der Wald sieht genauso aus wie andere Wälder, in denen ich schon war.«

»Ein Wolf sieht auch wie ein Hund aus«, erwiderte Marten. »Er ist aber keiner. Ein Hund ist …« Er brach ab. »Wie nennt man Tiere, die ständig mit den Menschen zusammen leben? Also Kühe und Schafe und so weiter?«

»Domestiziert?«

Marten nickte. »Genau. Und auf einem Bauernhof oder in einem Garten findet man domestizierte Pflanzen. Auch die meisten Wälder werden vom Menschen genützt. Die Menschen sammeln Pilze und Brennholz oder machen einen Spaziergang mit ihren Liebsten.«

Er schüttelte den Kopf und strich mit der Hand über die grobe Rinde eines Baums. Die Geste mutete seltsam behutsam, fast liebevoll an. »Dieser Wald ist anders. Er ist uralt und unberührt. Wir sind

Ich drehte mich langsam um mich selbst und ließ den Blick über verwitterte Felsen und unzählige Bäume schweifen. Der Maer hatte mich in den Eld geschickt wie einen Stein, den man auf einem Tak-Brett verschiebt. Ich wollte gar nicht daran denken. Er hatte mich zu einem Loch in der Karte geschickt, an einen Ort, an dem niemand meine Gebeine finden würde.

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