Kapitel 23 Prinzipien

Ich hab Mola davon erzählt«, sagte ich und mischte die Karten. »Sie hat gesagt, ich hätte mir das nur eingebildet, und hat mich gleich wieder vor die Tür gesetzt.«

»Willkommen im Klub«, sagte Sim bitter.

Ich sah ihn erstaunt an, doch ehe ich fragen konnte, was denn los sei, hielt Wilem mich mit einem Kopfschütteln davon ab. Da ich Sims Vorgeschichte kannte, nahm ich an, dass da wieder mal eine von Anfang an verkorkste Kurzbeziehung schmerzhaft in die Brüche gegangen war.

Also hielt ich den Mund und teilte die Karten aus. Wir drei vertrieben uns die Zeit, bis sich der Schankraum des ANKER’S an diesem Fellingabend so weit gefüllt haben würde, dass ich mit meinem Auftritt beginnen konnte.

»Was glaubst du denn, was dahinter steckt?«, fragte Wilem.

Ich zögerte, da ich Angst hatte, dass sich meine Befürchtungen, sobald ich sie aussprach, auf irgendeine Weise bewahrheiten würden. »Ich habe mich im Handwerkszentrum möglicherweise einer gefährlichen Substanz ausgesetzt.«

Wil sah mich an. »Und was für einer?«

»Eine der Verbindungen, die wir da verwenden. Die dringen direkt durch die Haut und töten dich ganz heimlich, still und leise«, sagte ich und dachte an den Tag zurück, an dem mein Tenten-Glas zerbrochen war. Ich dachte an den Tropfen Leitmittel, der auf meinem Hemd gelandet war. Es war nur ein winziges Tröpfchen gewesen, kaum größer als der Kopf eines kleinen Nagels. Und ich war mir ganz sicher, dass es meine Haut nicht berührt hatte. »Ich hoffe,

»Es könnte auch eine Nachwirkung dieser Pflaumendroge sein«, sagte Sim mit ernster Miene. »Ambrose ist ja kein großer Alchemist. Und so weit ich weiß, ist ein Hauptbestandteil Blei. Wenn er das Zeug selbst fabriziert hat, könnten sich irgendwelche latenten Prinzipien immer noch auf deinen Stoffwechsel auswirken. Hast du heute irgendwas Ungewöhnliches gegessen oder getrunken?«

Ich überlegte. »Ich hab im EOLIAN ziemlich viel Metheglin getrunken«, gestand ich.

»Das Gesöff? Da ist es ja kein Wunder, dass du dich krank fühlst«, meinte Wil.

»Also ich trink das gern«, erwiderte Sim. »Aber es ist ja praktisch selber ein Geheimmittel. Es enthält allerhand Tinkturen. Zwar nichts Alchemisches, aber Muskat, Thymian, Nelken und alle möglichen anderen Gewürze. Es könnte sein, dass eins davon als Auslöser für irgendwelche freien Prinzipien fungiert hat, die in deinem Stoffwechsel noch verblieben sind.«

»Na toll«, grummelte ich. »Und wie kriege ich das wieder weg?«

Sim breitete in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände.

»Dachte ich’s mir doch«, sagte ich. »Aber es klingt immerhin besser als eine Metallvergiftung.«

Dann gewann Simmon vier Stiche in Folge, und als die Partie vorüber war, lächelte er schon wieder. Sich längere Zeit einem Liebeskummer hinzugeben, war einfach nicht seine Art.

Wil sammelte sein Kartenspiel zusammen und steckte es ein, und ich schob meinen Stuhl vom Tisch zurück.

»Spiel das Lied mit der betrunkenen Kuh und dem Butterfass«, sagte Sim.

Da konnte auch ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Vielleicht später«, sagte ich, nahm meinen Lautenkasten und ging damit unter freundlichem Applaus zur Kaminsohle. Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich den Kasten aufbekam, denn ich musste erst den Kupferdraht aufzwirbeln, mit dem ich den verlorenen Verschluss ersetzt hatte.

Dann machte ich zwei Stunden lang Musik. Ich sang Der Kupferkessel, Fliederzweig und Tante Emmes Wanne. Das Publikum lachte und

Dann spürte ich plötzlich einen Kälteschauer, als ob ein kräftiger Winterwind durch den Schornstein hinter mir hereinwehte. Ich musste mich sehr beherrschen, nicht zu schlottern, und spielte die letzte Strophe von Apfelschnaps zu Ende – ein Lied, das ich endlich angestimmt hatte, um Sim einen Gefallen zu tun. Beim Schlussakkord erscholl Applaus, und dann erfüllte bald wieder Gesprächslärm den Raum.

Ich sah mich zu dem Kamin um, aber das Feuer brannte ganz friedlich vor sich hin und ließ keinerlei Luftzug erkennen. Ich stieg von der Kaminsohle herab und hoffte, ein bisschen Bewegung würde das Kältegefühl vertreiben. Doch schon nach wenigen Schritten wurde mir klar, dass dem nicht so war. Vielmehr kroch mir die Kälte nun bis in die Knochen. Ich ging schnell zum Kamin zurück und wärmte mir die Hände.

Wil und Sim gesellten sich zu mir. »Was ist denn mit dir?«, fragte Sim. »Wirst du krank?«

»So was Ähnliches«, erwiderte ich und biss die Zähne zusammen, damit sie nicht anfingen zu klappern. »Geh bitte zu Anker und sag ihm, ich fühl mich nicht gut und muss für heute Abend leider schon Schluss machen. Und dann entzünde bitte an diesem Kaminfeuer eine Kerze und bring sie rauf auf mein Zimmer.« Ich sah die beiden an. »Wil, kannst du mir bitte helfen, hier rauszukommen? Ich will kein Aufsehen erregen.«

Er nickte und bot mir seinen Arm an. Ich stützte mich auf ihn, und so gingen wir zur Treppe, wobei ich mich darauf konzentrierte, meinen Körper am Schlottern zu hindern. Niemand achtete groß auf uns, und ich wirkte wahrscheinlich eher betrunken. Doch mittlerweile waren meine Hände fühllos und schwer, und meine Lippen fühlten sich eiskalt an.

Nach dem ersten Treppenabsatz konnte ich das Schlottern nicht mehr unterdrücken. Ich konnte zwar noch gehen, aber meine Beinmuskulatur zuckte bei jedem Schritt.

Ich schüttelte den Kopf und beugte mich vor, damit er mir entweder die Treppe hochhalf oder mich fallen lassen musste. Er legte einen Arm um mich, und den Rest des Wegs trug er mich mehr als dass er mich stützte.

In meiner Kammer angelangt, ließ ich mich auf dem Bett nieder, und Wil legte mir eine Decke um die Schultern.

Dann hörte man Schritte auf dem Flur, und Sim spähte zur Tür herein. Er hielt einen Kerzenstummel und schirmte die Flamme beim Gehen mit der freien Hand ab. »Ich hab sie. Und was willst du jetzt damit?«

»Stell sie da hin«, sagte ich und zeigte auf den Tisch neben dem Bett. »Du hast sie am Kaminfeuer angezündet, ja?«

Sim guckte ängstlich. »Deine Lippen«, sagte er. »Die Farbe sieht aber gar nicht gut aus.«

Ich zog einen Splitter aus dem groben Holz meines Nachttischs und stach mir damit in den Handrücken. Blut quoll hervor, und ich drehte den Splitter darin umher und benetzte ihn mit dem Blut. »Mach die Tür zu«, sagte ich.

»Du machst jetzt aber bitte nicht das, wonach es aussieht«, sagte Sim.

Ich steckte den Splitter direkt neben dem brennenden Docht in das weiche Kerzenwachs. Er zischte leise auf, und dann umfing ihn die Flamme. Ich murmelte nacheinander zwei Bindungen, und zwar ganz langsam, damit meine tauben Lippen die Worte nicht womöglich undeutlich aussprachen.

»Was machst du da?«, fragte Sim eindringlich. »Willst du dich selber kochen?« Als ich nicht antwortete, trat er vor, als ob er die Kerze umstoßen wollte.

Wil hielt ihn am Arm zurück. »Seine Hände sind eiskalt«, sagte er leise. »Er ist kalt. Durch und durch kalt.«

Sims Blicke schossen zwischen uns beiden hin und her. Dann trat er wieder einen Schritt zurück. »Sei bloß vorsichtig, hörst du?«

Doch ich beachtete ihn schon gar nicht mehr. Ich hatte die Augen

Erst spürte ich nur einen kurzen Wärmekitzel, längst nicht genug. Doch als ich mich inniger konzentrierte, wurde ich von Wärme durchströmt, und mein ganzer Leib entspannte sich. Ich hielt die Augen weiter geschlossen und richtete meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Bindungen, bis ich mehrere lange, tiefe Atemzüge tun konnte, ohne zu schaudern oder zu zittern.

Da schlug ich die Augen wieder auf. Meine beiden Freunde sahen mich erwartungsvoll an, und ich lächelte ihnen zu. »Alles in Ordnung.«

Doch im selben Moment begann ich zu schwitzen. Mir war mit einem Mal sehr warm, viel zu warm, so warm, dass mir schlecht davon wurde. Ich löste so schnell die Bindungen, wie man eine Hand von einer heißen Herdplatte fortreißt.

Dann atmete ich ein paar Mal tief durch und ging ans Fenster. Ich öffnete es und genoss die kühle Herbstluft und den Geruch von totem Laub und nahendem Regen.

Einen Moment lang herrschte Schweigen.

»Das sah aus wie Binderfrost«, sagte Simmon schließlich.

»Es hat sich auch so angefühlt«, erwiderte ich.

»Vielleicht hat dein Körper die Fähigkeit verloren, seine Tempera zu regeln?«, meinte Wilem.

»Temperatur«, berichtigte ihn Sim.

»Das würde aber nicht das Brennen auf meiner Brust erklären«, sagte ich.

Sim sah mich an. »Brennen?«

Ich war inzwischen nassgeschwitzt und daher froh über einen Vorwand, das Hemd ablegen zu dürfen. Große Partien meiner Brust und meines Oberarms waren knallrot, in scharfem Kontrast zu meiner ansonsten so hellen Haut. »Mola meint, das wäre nur ein Ausschlag, und ich soll mich nicht so anstellen. Aber bevor ich in den Bach gesprungen bin, war das noch nicht da.«

Wilem ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Was kann dafür sorgen, dass einem kalt, dann wieder heiß, dann wieder kalt wird?«

Sim gab ihm ein halbherziges Lächeln zur Antwort. »Klingt fast wie ein Rätsel.«

»Ich hasse Rätsel«, sagte ich und griff nach meinem Hemd. Dann schrie ich auf und hielt mir den immer noch nackten, linken Bizeps. Blut quoll mir zwischen den Fingern hervor.

Sim sprang auf und sah sich hektisch um. Er wusste offenbar nicht, was er tun sollte.

Ich fühlte mich wie von einem unsichtbaren Messer gestochen. »Gott. Verdammte. Scheiße«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Als ich die Hand kurz anhob, klaffte in meinem Arm eine kleine, kreisförmige Wunde, die dort plötzlich, wie aus dem Nichts entstanden war.

Simmon blickte mich entsetzt an und hielt sich dann die Hände vors Gesicht. Er sagte etwas, aber ich war in diesem Moment zu sehr damit beschäftigt, mich zu konzentrieren, um ihm zuzuhören. Und ich wusste ohnehin, was er sagte: Sympathievergehen. Natürlich. Das alles war ein Sympathievergehen. Jemand attackierte mich.

Ich versenkte mich in das Steinerne Herz und bot mein gesamtes Alar auf.

Doch der unbekannte Angreifer vergeudete keine Zeit. Knapp unterhalb der Schulter spürte ich einen stechenden Schmerz in der Brust. Diesmal wurde die Haut nicht durchstochen, aber ich sah, wie sich ein dunkelblauer Bluterguss bildete.

Ich stärkte mein Alar, und den nächsten Stich spürte ich kaum mehr als ein leichtes Zwicken. Dann teilte ich meinen Geist in Windeseile in drei Teile auf und gab zweien davon die Aufgabe, das Alar, das mich beschützte, aufrechtzuerhalten.

Erst dann stieß ich einen Seufzer aus. »Alles in Ordnung.«

Ich sah an mir hinab. Zwischen den Fingern quoll mir immer noch Blut hervor, lief mir über den Handrücken und den Arm hinab.

»Es ist so«, erwiderte ich. »Wirklich, Sim.«

»Aber ein Sympathievergehen«, sagte er. »So was gibt’s doch gar nicht mehr.«

Ich setzte mich wieder aufs Bett und drückte weiter die Hand auf die Wunde. »Ich glaube, wir haben hier einen ziemlich eindeutigen Gegenbeweis.«

Wilem nahm ebenfalls wieder Platz. »Mir geht’s wie Simmon. Ich hätte das nie für möglich gehalten.« Er machte eine wütende Geste. »Arkanisten tun so etwas nicht mehr. Das ist der reine Wahnsinn.« Er sah mich an. »Wieso lächelst du?«

»Weil ich erleichtert bin«, erwiderte ich. »Ich dachte schon, ich hätte mir eine Cadmiumvergiftung eingehandelt oder würde an irgendeiner geheimnisvollen Krankheit leiden. Jetzt aber weiß ich, dass bloß irgendwer versucht, mich umzubringen.«

»Wie könnte jemand das tun?«, fragte Simmon. »Ich meine das nicht im moralischen Sinne. Wie könnte jemand an Blut oder Haare von dir gelangt sein?«

Wilem sah ihn an. »Was hast du mit dem Verbandsmaterial gemacht, nachdem du seine Wunde genäht hattest?«

»Das habe ich verbrannt«, erwiderte Sim. »Ich bin ja nicht blöd.«

Wil machte eine beschwichtigende Geste. »Ich will nur die Möglichkeiten eingrenzen«, sagte er. »Die Mediho kommt auch nicht in Frage. Die gehen mit solchen Sachen sehr achtsam um.«

Sim stand auf. »Wir müssen das jemandem sagen.« Er sah zu Wilem hinüber. »Ob Jamison so spät noch in seinem Büro ist?«

»Sim«, sagte ich. »Wie wär’s, wenn wir noch ein wenig damit warten?«

»Was? Aber wieso?«

»Der einzige Beweis, den ich habe, sind meine Verletzungen«, sagte ich. »Das bedeutet, sie werden darauf bestehen, dass mich jemand aus der Mediho untersucht. Und wenn das passiert …« Mit

Sim setzte sich wieder. »Es ist ja erst drei Tage her, nicht wahr?«

Ich nickte. »Sie würden mich rausschmeißen. Und Mola würde gewaltigen Ärger kriegen, weil sie meine Verletzungen verschwiegen hat. Meister Arwyl versteht bei so was keinen Spaß. Und ihr beide kämt wahrscheinlich als Mittäter dran. Ich will das alles nicht.«

Wir schwiegen einen Moment lang. Man hörte nur den gedämpften Lärm unten aus dem Schankraum.

»Müssen wir überhaupt darüber diskutieren, wer dahinterstecken könnte?«, fragte Sim.

»Ambrose«, sagte ich. »Es ist immer Ambrose. Er muss Blut von mir an einem der zerbrochenen Ziegel gefunden haben. Das hätte mir schon vor Tagen klar sein müssen.«

»Woher sollte er wissen, dass es dein Blut ist?«, fragte Simmon.

»Weil ich ihn hasse«, sagte ich in bitterem Ton. »Natürlich weiß er, dass ich das war.«

Wil schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist nicht seine Art.«

»Nicht seine Art?«, sagte Simmon. »Er hat Kvothe von dieser Frau unter Drogen setzen lassen. Das kommt einem Versuch gleich, ihn zu vergiften. Und vergangenes Trimester hat er diese Männer angeheuert, die Kvothe in der Gasse überfallen haben.«

»Eben das meine ich damit«, sagte Wilem. »Ambrose tut Kvothe nichts an. Er engagiert Leute, die das übernehmen. Er hat eine Frau engagiert, ihn unter Drogen zu setzen. Er hat diese Schergen angeheuert, ihn niederzustechen. Und vermutlich hat er nicht mal das getan. Ich wette mit euch, dass ein anderer das alles in seinem Auftrag gemacht hat.«

»Das ist doch egal«, sagte ich. »Wir wissen jedenfalls, dass er dahinter steckt.«

Wilem runzelte die Stirn. »Denk doch mal nach. Es ist doch nicht so, dass Ambrose kein Dreckskerl wäre. Er ist ein Dreckskerl. Aber er ist ein gerissener Dreckskerl. Er achtet sehr darauf, dass man ihn mit seinen Taten nicht in Verbindung bringen kann.«

»Hier lässt sich auch keine Verbindung herstellen«, sagte ich. »Das ist doch der springende Punkt bei der Sympathie. Sie ist indirekt.«

Wil schüttelte wieder den Kopf. »Wenn du in einer Gasse niedergestochen würdest, wären die Leute schockiert. Aber dennoch, so was passiert jeden Tag, überall auf der Welt. Wenn du aber in der Öffentlichkeit zusammenbrechen und plötzlich aufgrund eines Sympathievergehens zu bluten anfangen würdest? Da wären die Leute doch entsetzt. Die Meister würden den Unterricht aussetzen. Reiche Kaufleute und Adlige würden ihre Kinder von der Uni nehmen. Die Polizei aus Imre würde hier einreiten.«

Sim rieb sich die Stirn und blickte nachdenklich zur Zimmerdecke. Dann nickte er, erst langsam, dann entschlossen. »Ja, das klingt schlüssig«, sagte er. »Wenn Ambrose eine Blutspur entdeckt hätte, hätte er das Blut Jamison geben können, damit der den Dieb mit einem Wünschelrutengang findet. Dann hätte man die Mitarbeiter der Mediho gar nicht nach verdächtigen Verletzungen suchen lassen müssen.«

»Ambrose ist ein rachsüchtiger Typ«, bemerkte ich grimmig. »Er könnte das Blut auch vor Jamison verborgen haben. Er könnte es für sich behalten haben.«

Wilem schüttelte den Kopf.

Sim seufzte. »Wil hat recht. So viele fähige Sympathiker gibt es nun auch wieder nicht, und jeder weiß doch, dass Ambrose einen Groll gegen dich hegt. Er ist viel zu vorsichtig, um so was zu tun. Das ließe sich doch direkt zu ihm zurückverfolgen.«

»Und außerdem …«, sagte Wilem. »Wie lange geht das jetzt schon? Seit Tagen. Glaubst du wirklich, Ambrose hätte es so lange ausgehalten, ohne es dir unter die Nase zu reiben? Nicht mal ein bisschen?«

»Ja, das stimmt«, sagte ich widerstrebend. »Das ist nicht seine Art.«

Aber meine Wünsche und die Realität – das waren nun mal zwei Paar Schuhe. Ich atmete tief durch und zwang mich, vernünftig darüber nachzudenken.

»Es wäre sehr leichtsinnig von ihm«, pflichtete ich schließlich bei. »Und er ist einfach nicht der Typ, der sich die Hände schmutzig macht.« Ich seufzte. »Also gut. Großartig. Als wäre es noch nicht genug, dass schon einer versucht, mein Leben zu zerstören.«

»Wer könnte es sein?«, fragte Simmon. »Nur die wenigstens könnten so was mit Haaren anstellen, nicht wahr?«

»Dal könnte das«, sagte ich. »Oder Kilvin.«

»Man kann aber wahrscheinlich davon ausgehen«, bemerkte Wilem trocken, »dass keiner der Meister es darauf angelegt hat, dich umzubringen.«

»Dann muss es jemand sein, der Blut von ihm hat«, sagte Sim.

Ich gab mir Mühe, das flaue Gefühl im Magen, das ich nun bekam, nicht zu beachten. »Es gibt jemanden, der Blut von mir hat«, sagte ich. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie an der Sache beteiligt ist.«

Wil und Sim sahen mich an, und ich bereute schon, dass ich etwas gesagt hatte. »Wieso hat jemand Blut von dir?«, fragte Sim.

Ich zögerte, doch dann wurde mir klar, dass ich nicht umhin kam, es ihnen zu erzählen. »Ich hab mir zu Beginn des Trimesters Geld bei Devi geliehen.«

Keiner der beiden reagierte, wie ich erwartet hatte. Will sagen: Beide reagierten überhaupt nicht.

»Wer ist Devi?«, fragte Sim schließlich.

Ich entspannte mich ein wenig. Vielleicht hatten sie noch nie von ihr gehört. Das würde die Sache fraglos erleichtern. »Sie ist ein Gaelet, drüben auf der anderen Seite des Flusses«, sagte ich.

»Aha«, sagte Simmon. »Und was ist ein Gaelet?«

»Weißt du noch, als wir uns Der Geist und die Gänsehirtin angesehen haben?«, erwiderte ich. »Dieser Ketler – das war ein Gaelet.«

»Ach so, ein Geldverleiher«, sagte Sim, und seine Miene hellte sich

»Die gibt es überall«, sagte ich. »Ohne die könnte die Welt nicht funktionieren.«

»Moment mal«, sagte Wilem und hob eine Hand. »Sagtest du gerade, dieser …« Er hielt inne, versuchte sich an das richtige Wort auf Aturisch zu erinnern. »… Geldverleiher, Gatessor, hieß Devi

Ich nickte. Das war die Reaktion, die ich erwartet hatte.

»Oh Gott«, sagte Simmon entgeistert. »Du meinst Dämonen-Devi?«

Ich seufzte. »Dann habt ihr also von ihr gehört.«

»Von ihr gehört?«, entgegnete Sim in schrillem Ton. »Die haben sie in meinem ersten Trimester rausgeschmissen! Das hat einen Mords-Eindruck bei mir hinterlassen.«

Wilem wiederum schloss einfach nur die Augen und schüttelte den Kopf, als könnte er den Anblick einer so brunzdummen Person wie mir einfach nicht ertragen.

Sim riss die Hände hoch. »Die haben sie damals wegen eines Sympathievergehens rausgeschmissen! Was hast du dir bloß dabei gedacht?«

»Nein, das stimmt nicht«, sagte Wilem zu Simmon. »Sie wurde wegen ungebührlichen Verhaltens rausgeschmissen. Das Sympathievergehen konnte man ihr nicht nachweisen.«

»Ich glaube wirklich nicht, dass sie dahinter steckt«, sagte ich. »Sie ist eigentlich ganz nett und freundlich. Und außerdem habe ich mir nur sechs Talente von ihr geliehen und bin mit der Rückzahlung auch nicht spät dran. Sie hat überhaupt keinen Grund, so was zu tun.«

Wilem sah mich an. »Nur um alle Möglichkeiten zu erkunden …«, sagte er. »Würdest du mir einen Gefallen tun?«

Ich nickte.

»Denk mal an die letzten Gespräche mit ihr zurück«, sagte er. »Und überleg mal ganz genau, ob du irgendwas gesagt oder getan haben könntest, das sie gekränkt oder geärgert haben könnte.«

Ich spielte unser letztes Gespräch noch einmal in Gedanken

»Wie interessiert?«, fragte Wilem langsam und geduldig, als spräche er mit einem geistig unterbelichteten Kind.

»Ziemlich interessiert«, erwiderte ich.

»Ziemlich ist eine ziemlich ungenaue Bezeichnung.«

Ich seufzte. »Also gut. Sie war sehr daran interessiert. So sehr, dass sie –« Ich verstummte.

Wilem hob eine Augenbraue. »Ja? Was wolltest du gerade sagen?«

Ich zögerte. »… dass sie angeboten hat, dafür mit mir ins Bett zu gehen«, sagte ich.

Wilem nickte ganz ruhig, als hätte er so etwas erwartet. »Und auf dieses großzügige Angebot der jungen Dame hast du wie reagiert?«

Ich spürte, dass mir die Wangen zu glühen begannen. »Ich … bin nicht weiter darauf eingegangen, habe es mehr oder weniger ignoriert.«

Wilem schloss die Augen, und sein Gesicht war ein Bild der Bestürzung.

»Diese Devi ist viel gefährlicher als Ambrose«, sagte Sim und hielt sich den Kopf. »Die muss sich keine Sorgen wegen der Meister machen. Und man erzählt sich, sie könnte eine achtfache Bindung herstellen! Achtfach!«

»Ich steckte in einer Klemme«, sagte ich ein wenig gereizt. »Und ich konnte ihr keine Sicherheiten anbieten. Ich gebe ja zu, dass es keine tolle Idee war. Und wenn das alles vorbei ist, können wir gern ein Symposion darüber abhalten, wie unfassbar dumm ich bin. Aber können wir jetzt einfach mal wieder zum Thema zurückkommen?« Ich sah sie flehentlich an.

Wilem rieb sich die Augen und nickte erschöpft.

Simmon versuchte seinen entsetzten Gesichtsausdruck loszuwerden, aber es gelang ihm nicht allzu überzeugend. Er schluckte. »Also gut. Und was machen wir jetzt?«

»Jetzt im Moment kommt es eigentlich gar nicht darauf an, wer dahinter steckt«, sagte ich und sah vorsichtig nach, ob mein Arm aufgehört hatte zu bluten. Er hatte, und ich nahm meine blutbefleckte Hand weg. »Ich werde jetzt einige Vorsichtsmaßnahmen treffen«,

Sim rieb sich die Stirn. »Beim Leib Gottes, du kannst einem manchmal ganz schön auf die Nerven gehen. Und was ist, wenn du wieder angegriffen wirst?«

»Es ist schon zweimal geschehen, während wir hier saßen und miteinander gesprochen haben«, sagte ich leichthin. »Es kitzelt nur noch ein bisschen.« Ich grinste, als ich sah, wie er guckte. »Es ist alles in Ordnung mit mir, Sim. Ehrlich. Ich bin ja nicht umsonst der führende Duellant in Dals Seminar. Ich bin absolut in Sicherheit.«

»Solange du wach bist«, warf Wilem ein, und seine dunklen Augen blickten ernst.

Mein Grinsen erstarrte. »Solange ich wach bin«, wiederholte ich. »Natürlich.«

Wilem erhob sich und klopfte sich betont ausführlich die Kleider ab. »Also. Wasch dich und triff deine Vorsichtsmaßnahmen.« Er sah mich eindringlich an. »Sollen Simmon und ich Dals führenden Duellanten heute Nacht in meinem Zimmer erwarten?«

Ich spürte, dass ich vor Verlegenheit errötete. »Ja, da wäre ich euch sehr dankbar.«

Wil verbeugte sich übertrieben, öffnete die Tür und trat auf den Flur hinaus.

Sim hatte mittlerweile ein breites Grinsen aufgesetzt. »Dann ist es also abgemacht. Aber zieh dir ein Hemd an, bevor du zu uns kommst. Ich werde heute Nacht über dich wachen, als wärst du ein kolikkrankes Kleinkind, aber wenn du vorhast, nackt zu schlafen, weigere ich mich.«

Nachdem Wil und Sim gegangen waren, stieg ich aus dem Fenster und auf die Dächer. Ich ließ mein Hemd im Zimmer zurück, denn ich war immer noch mit Blut beschmiert und wollte es nicht ruinieren. Ich baute auf die Dunkelheit und die späte Stunde und hoffte, dass mich niemand sehen würde, wie ich halbnackt und blutbefleckt über die Dächer der Universität lief.

Meine neue Sorge bestand nun darin, dass sich der Angreifer davon entmutigen lassen und es auf anderem Wege versuchen könnte. Er hätte beispielsweise mithilfe einer Wünschelrute meinen Aufenthaltsort ermitteln und dann auf eine handgreiflichere Angriffsmethode umsatteln können, die sich nicht mit einer schlichten Willensanstrengung abwehren ließ.

So beängstigend ein Sympathievergehen auch ist: Ein Auftragsmörder mit einem scharfen Messer kann einen zehnmal schneller töten, wenn er einem in einer dunklen Gasse auflauert. Und jemanden zu überrumpeln ist verdammt leicht, wenn man ihn mithilfe seines Bluts auf Schritt und Tritt verfolgen kann.

Daher stieg ich auf die Dächer. Mein Plan bestand darin, mir eine Handvoll Blätter zu suchen, sie mit meinem Blut zu benetzen und dann durch das Haus des Windes trudeln zu lassen. Das war ein Trick, den ich schon einmal angewandt hatte.

Doch als ich über eine enge Gasse sprang, sah ich in einer Wolke einen Blitz aufleuchten, und es lag Regen in der Luft. Ein Unwetter war im Anzug. Der Regen würde nicht nur die Blätter am Trudeln hindern und verkleben, sondern auch mein Blut von ihnen herunterspülen.

Wie ich dort so auf dem Dach stand und mich hundeelend fühlte, kamen ungute Erinnerungen an meine Jahre in Tarbean wieder hoch. Ich sah dem Wetterleuchten einen Moment lang zu und bemühte mich, mich von dieser Stimmung nicht überwältigen zu lassen. Ich zwang mich, daran zu denken, dass ich nicht mehr das hilflose, hungernde Straßenkind von damals war.

Dann hörte ich einen leisen, trommelartigen Laut, als hinter mir ein Stück Dachblech durchgebogen wurde. Ich spannte mich

Ich blickte nach rechts und sah sie gut vier Meter neben mir stehen. Wolken verbargen den Mond, aber ich konnte ihr Lächeln hören, als sie sagte: »Ich habe dich über die Dächer laufen sehen.«

Nun wandte ich mich vollends zu ihr um, froh, dass es so dunkel war. Ich wollte gar nicht daran denken, wie Auri reagieren würde, wenn sie mich halbnackt und blutbefleckt sah.

»Hallo, Auri«, sagte ich. »Da kommt ein Unwetter. Du solltest heute Nacht nicht hier oben sein.«

Sie neigte den Kopf zur Seite. »Du bist doch auch hier oben«, sagte sie.

Ich seufzte. »Ja. Aber nur, um –«

Eine riesiger Blitz flammte am Himmel auf und tauchte für eine Sekunde alles in grelles Licht. Als es vorüber war, war ich immer noch geblendet.

»Auri?«, rief ich, da ich fürchtete, mein Anblick könnte sie vertrieben haben.

Es blitzte erneut, und da sah ich sie näher bei mir stehen. Sie zeigte auf mich und lächelte begeistert. »Du siehst aus wie ein Amyr«, sagte sie. »Kvothe ist einer der Ciridae.«

Ich sah an mir hinab, und beim nächsten Blitz verstand ich, was sie meinte. Das getrocknete Blut auf meinen Handrücken sah so ähnlich aus wie die Tätowierungen, mit denen die Amyr früher ihre ranghöchsten Mitglieder geschmückt hatten.

Ich war so erstaunt über diese Bemerkung, dass ich das Allererste vergaß, was ich über Auri gelernt hatte. Ich ließ alle Vorsicht außer Acht und stellte ihr eine Frage. »Auri, woher weißt du denn von den Ciridae?«

Ich bekam keine Antwort. Beim nächsten Blitz sah ich nur noch ein leeres Dach und einen erbarmungslosen Himmel.

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