Kapitel 55 Höflichkeit

Ich spähte durch einen Spalt in der Hecke. Der Maer saß in seinem Garten im Schatten eines Baumes auf einer steinernen Bank und sah mit seinen weiten Ärmeln und der Weste jeder Zoll wie der vornehme Herr aus, der er war. Seine Kleider waren in Saphirblau und Elfenbeinweiß gehalten, den Farben der Alverons. Sie wirkten gediegen, doch nicht protzig. Als Schmuck trug er lediglich einen goldenen Siegelring. Verglichen mit den meisten Höflingen seiner Umgebung war seine äußere Erscheinung geradezu schlicht.

Auf den ersten Blick schien er sich nichts aus höfischer Mode zu machen. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte man den Unterschied. Das Elfenbeinweiß seines Hemds war makellos, das Saphirblau der Weste leuchtete. Ich hätte meine Daumen darauf verwettet, dass er beide Kleidungsstücke höchstens ein halbes Dutzend Mal getragen hatte.

Sie zeigten seinen Reichtum auf eine versteckte, aber umso wirkungsvollere Weise. Sich schöne Kleider leisten zu können war das Eine, aber was mochte es kosten, eine Garderobe zu unterhalten, der man nie auch nur die leiseste Spur des Verschleißes ansah? Mir fiel ein, was Graf Threpe über Alveron gesagt hatte: dass er so reich sei wie der König von Vint.

Der Maer selbst sah genauso aus wie bei unserer ersten Begegnung. Groß und mager, mit grauen, makellos gekämmten Haaren. Ich betrachtete ihn eingehend. Sein Gesicht wirkte müde, seine Hände zitterten ein wenig. Er sieht alt aus, dachte ich, aber er ist es nicht.

Vom Glockenturm schlug die Stunde. Ich richtete mich auf, ging um die Hecke herum und näherte mich dem Maer.

Ich machte eine Verbeugung, die nicht ganz so förmlich ausfiel. »Eure Einladung hat mich sehr gefreut, Euer Gnaden.«

Da Alveron mir nicht bedeutete, ich solle mich setzen, blieb ich stehen. Er wollte wohl prüfen, ob ich mich zu benehmen wusste. »Du hast hoffentlich nichts dagegen, dass wir uns im Freien treffen. Hast du dir den Garten schon angesehen?«

»Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, Euer Gnaden.« Ich hatte ja nicht gewagt, meine Unterkunft zu verlassen, bevor er mich rief.

»Dann erlaube mir, ihn dir zu zeigen.« Er ergriff einen polierten Spazierstock, der am Stamm des schattenspendenden Baumes lehnte. »Ich war schon immer der Meinung, dass frische Luft gegen jegliche Beschwerden des Körpers hilft. Andere sehen das anders.« Er beugte sich vor, als wollte er aufstehen, doch dann lief ein schmerzerfülltes Zucken über sein Gesicht, und er holte mit zusammengebissenen Zähnen scharf Luft. Er ist krank, begriff ich. Nicht alt, krank!

Ich eilte sofort neben ihn und bot ihm meinen Arm an. »Erlaubt mir, Euer Gnaden.«

Der Maer lächelte steif. »Wenn ich jünger wäre, würde ich dein Angebot ausschlagen.« Er seufzte. »Doch Stolz ist der Luxus des Starken.« Er ergriff meinen Arm mit seiner schmalen Hand und zog sich daran hoch. »Ich muss mich mit Höflichkeit begnügen.«

»Sie ist der Luxus des Weisen«, erwiderte ich schlagfertig. »Und Eure Weisheit adelt Euch.«

Alveron lachte leise in sich hinein und tätschelte mir den Arm. »Damit lässt sich meine Hinfälligkeit wohl leichter ertragen.«

»Soll ich Euch den Stock geben?«, fragte ich. »Oder sollen wir zusammen gehen?«

Alveron ließ dasselbe trockene Lachen hören. »›Zusammen gehen‹ ist taktvoll ausgedrückt.« Er nahm den Stock in die rechte Hand und hielt sich mit der linken erstaunlich kräftig an meinem Arm fest.

»Herr im Himmel«, fluchte er leise. »Wie ich es verabscheue, so gesehen zu werden. Aber es ist weniger demütigend, sich auf den Arm eines jungen Mannes zu stützen, als allein durch den Garten zu stolpern.

Wir gingen los, und unser Gespräch verstummte, während wir dem Plätschern der Brunnen und dem Zwitschern der Vögel in den Hecken lauschten. Gelegentlich machte der Maer mich auf eine Statue aufmerksam und sagte, welcher seiner Vorfahren sie in Auftrag gegeben oder – er sprach dann unwillkürlich leiser, wie um sich zu entschuldigen – als Kriegsbeute aus dem Ausland mitgebracht hatte.

So spazierten wir etwa eine Stunde durch den Garten. Alveron stützte sich nach und nach weniger auf mich und benützte mich nur mehr dazu, das Gleichgewicht zu halten. Wir begegneten einigen Adligen, die sich vor dem Maer verneigten oder ihn mit einem Nicken grüßten. Sobald sie außer Hörweite waren, erklärte er mir, um wen es sich jeweils handelte und welchen Rang die betreffende Person bei Hof bekleidete. Seine Informationen garnierte er mit ein wenig Klatsch.

»Sie wollen alle wissen, wer du bist«, sagte er, als sich wieder einmal ein adliges Paar hinter einer Hecke entfernt hatte. »Heute Abend werden sie über nichts anderes sprechen. Bist du ein Gesandter aus Renere? Ein junger Adliger auf der Suche nach einem reichen Lehen mit dazugehöriger Frau? Vielleicht bist du auch mein lange verschollener Sohn, ein Spross meiner wilden Jugend.« Er lachte in sich hinein und tätschelte mir den Arm. Vielleicht hätte er noch eine Weile so weitergeredet, wäre er nicht über eine vorstehende Steinplatte gestolpert und fast gestürzt. Ich fing ihn auf und geleitete ihn zu einer steinernen Bank am Weg.

»Himmeldonnerwetter«, fluchte er, peinlich berührt. »Wie hätte das wohl ausgesehen? Wenn der Maer wie ein Käfer auf dem Rücken liegt und mit Armen und Beinen rudert?« Er sah sich wütend um, doch wir schienen allein zu sein. »Würdest du einem alten Mann einen Gefallen tun?«

»Ich stehe zur Verfügung, Euer Gnaden.«

Alveron musterte mich scharf. »Wirklich? Es ist nur ein kleiner Gefallen. Verrate niemandem, wer du bist und was du hier tust. Du wirst staunen, wie begehrt dich das macht. Je weniger du sagst, desto mehr wollen die anderen von dir wissen.«

Alveron machte ein listiges Gesicht. »Zugegeben. Aber hier kann man uns hören. Du hast bisher viel Geduld gezeigt. Übe dich noch ein wenig darin.« Er blickte zu mir auf. »Wärst du so freundlich, mich in meine Gemächer zu begleiten?«

Ich hielt ihm den Arm hin. »Gewiss, Euer Gnaden.«

Wieder in meiner Unterkunft zog ich meine bestickte Jacke aus und hängte sie in den riesigen Kleiderschrank aus Rosenholz. Er war innen mit Zedern- und Sandelholz ausgekleidet und verströmte ein würziges Aroma. An den Innenseiten der Türen hingen große, blanke Spiegel.

Ich ging über den glänzenden Marmorboden und setzte mich auf eine mit rotem Samt bezogene Ottomane. Müßig überlegte ich, in welcher Haltung man auf einem solchen Möbel am besten ruhte. Es fehlte mir an Erfahrung. Zur richtigen Ruhe brauchte man wahrscheinlich mehr Geld in der Tasche, als ich je gehabt hatte.

Rastlos stand ich wieder auf und wanderte durch das Zimmer. An den Wänden hingen Bilder, fein gemalte Porträts und ländliche Szenen in Öl. Auf einem riesigen Wandteppich war eine gewaltige Seeschlacht in allen Einzelheiten abgebildet. Damit beschäftigte ich mich fast eine halbe Stunde lang.

Aber ich vermisste meine Laute.

Sie zu verpfänden war mir sehr schwer gefallen, geradezu als hätte ich mir die Hand abgeschlagen. Ich hatte erwartet, dass ich die folgenden zehn Tage krank vor Sorge sein würde, ob ich sie auch rechtzeitig auslösen konnte.

Doch der Maer hatte mich ganz unwissentlich in dieser Hinsicht beruhigt. In meinem Schrank hingen sechs Kleidergarnituren, für die sich kein Fürst hätte zu schämen brauchen. Als sie in meine Unterkunft geliefert wurden, hatte ich erleichtert aufgeatmet. Mein erster Gedanke war nicht, dass ich damit in der Gesellschaft bei Hof verkehren

Natürlich hätte ich es mir damit auf alle Zeiten mit dem Maer verdorben. Die Reise nach Severen wäre umsonst gewesen und Threpe so blamiert, dass er womöglich nie mehr mit mir gesprochen hätte. Doch genügte mir schon zu wissen, dass es diesen letzten Ausweg gab. So war ich dem Schicksal nicht ganz hilflos ausgeliefert und brauchte nicht vor Sorge verrückt werden.

Ich vermisste meine Laute, aber wenn ich den Maer als Gönner gewinnen konnte, winkte mir ein sorgenfreies Leben. Er hatte genug Geld, um für mein weiteres Studium an der Universität aufzukommen, und seine Verbindungen konnten mir helfen, meine Nachforschungen über die Amyr fortzusetzen.

Noch mehr nützte vermutlich sein bloßer Name. Wenn er mein Schirmherr wurde, stand ich unter seinem Schutz. Ambroses Vater mochte der mächtigste Baron von ganz Vintas sein und auf Platz zwölf der Thronfolge stehen. Doch Alveron war praktisch selbst ein König. Wieviel einfacher würde mein Leben sein, wenn Ambrose mir nicht mehr auf Schritt und Tritt Steine in den Weg legen konnte! Bei dieser Vorstellung wurde mir ganz schwindlig.

Ich vermisste meine Laute, aber alles hat seinen Preis. Für die Aussicht, den Maer als Schirmherrn zu gewinnen, wollte ich gern die Zähne zusammenbeißen und einige Tage der Langeweile und Sorge ohne Musik ertragen.

Alveron behielt völlig Recht, was die Neugier seiner Höflinge betraf. Nachdem er mich an jenem Abend zu sich gerufen hatte, breiteten sich wie ein Lauffeuer die verschiedensten Gerüchte aus. Ich verstand jetzt auch, warum er selbst eine gewisse Freude am Klatsch zu haben schien. Man beobachtete die neuen Gerüchte gleichsam bei ihrer Entstehung.

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