Kapitel 41 Zum allgemeinen Wohl

Ich sah Simmon an und flüsterte: »Ivare enim euge

Er ächzte. »Du sollst dich doch mit Physiognomie befassen.« Der Brand in Ambroses Gemächern lag mittlerweile eine ganze Spanne zurück, und der Winter bleckte nun doch die Zähne und deckte die ganze Universität mit kniehohen Schneewehen zu. Und wie stets, wenn das Wetter unfreundlich wurde, war die Bibliothek bis unters Dach mit büffelnden Studenten gefüllt.

Da die kleinen Lesezimmer alle belegt waren, waren Simmon und ich gezwungen gewesen, unsere Bücher in den großen Lesesaal zu schleppen. Der hohe, fensterlose Raum war an diesem Tag gut gefüllt, aber dennoch herrschte eine gespenstische Stille. Die dunklen Steinmauern und das gedämpfte Geflüster sorgten für eine leicht unheimliche Atmosphäre, und es war zu spüren, weshalb dieser Saal unter den Studenten auch »die Gruft« genannt wurde.

»Hier geht’s um Physiognomie«, entgegnete ich leise. »Ich hab mir gerade ein paar von Gibeas Schaubildern angesehen. Und sieh mal, was ich gefunden habe.« Ich hielt ihm das Buch hin.

»Gibea?«, flüsterte Simmon empört. »Also wirklich, du lernst doch bloß mit mir, damit du mich ständig unterbrechen kannst.« Er wich vor dem Buch zurück, das ich ihm hinhielt.

»Es ist nichts Groteskes«, erwiderte ich. »Es ist nur … Sieh mal, was da steht.« Simmon stieß das Buch weg, und nun wurde ich wütend. »Pass doch auf!«, fauchte ich. »Das ist ein Original. Das hab ich im hintersten Winkel des Magazins entdeckt, hinter anderen Büchern versteckt, im toten Verzeichnis vergraben. Lorren hackt mir die Daumen ab, wenn damit was passiert.«

Fast hätte ich gescherzt, dass Menschenhaut wahrscheinlich gar keine Tinte annehmen würde, doch als ich Sims Gesichtsausdruck sah, verkniff ich es mir. Dennoch musste mich meine Miene verraten haben.

»Du bist pervers«, spie er und wurde dabei fast unzulässig laut. »Mutter Gottes, weißt du denn nicht, dass er Menschen bei lebendigem Leib aufgeschnitten hat, um zu sehen, wie ihre Organe funktionieren? Ich weigere mich, mir irgendwas anzusehen, das von diesem Monster stammt.«

Ich legte das Buch wieder hin. »Dann könnte man das Medizinstudium auch gleich aufgeben«, sagte ich so sanft und freundlich ich nur konnte. »Gibeas Forschungen am menschlichen Körper waren die gründlichsten, die je durchgeführt wurden. Seine Arbeitsjournale bilden die Grundlage der modernen Medizin.«

Simmon blickte weiterhin streng und beugte sich vor, um leise mit mir sprechen zu können. »Als die Amyr gegen den Herzog vorgingen, fanden sie die Gebeine von zwanzigtausend Menschen. Große Gruben voller Knochen und Asche. Frauen und Kinder. Zwanzigtausend! Und das ist nur das, was sie gefunden haben«, flüsterte er voller Wut.

Ich wartete, bis er sich ein bisschen beruhigt hatte, bevor ich ganz sachlich sagte: »Gibea hat dreiundzwanzig Bücher über die Maschinerie des menschlichen Körpers verfasst«, führte ich so freundlich aus, wie ich nur konnte. »Und als die Amyr gegen ihn vorgingen, brannte ein Teil seines Anwesens nieder, und vier dieser Bücher und alle seine Notizen gingen dabei verloren. Frag doch mal Meister Arwyl, was er dafür geben würde, wenn er diese Bücher wiederbekommen könnte.«

Simmon schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, und etliche Studenten sahen zu uns herüber. »Verdammt noch mal!«, zischte er. »Ich bin dreißig Meilen von Gibea entfernt aufgewachsen! An wolkenlosen Tagen kann man von den Hügeln meines Vaters aus die Ruine sehen!«

Ich wartete eine ganze Weile ab, ehe ich flüsterte: »Das wusste ich nicht.«

Er hatte sich wieder etwas gefangen. »Wir sprechen auch nicht darüber«, sagte er in steifem Ton und strich sich das Haar aus den Augen.

Wir beugten uns wieder über unsere Bücher, und erst eine Stunde später meldete sich Simmon wieder zu Wort. »Was hast du denn gefunden?«, fragte er allzu beiläufig, als wollte er sich seine Neugier nicht anmerken lassen.

»Hier, auf dem Vorsatz«, flüsterte ich aufgeregt. Ich schlug den Einbanddeckel auf, und Sim verzog unwillkürlich das Gesicht, als ob das Buch nach Tod stinken würde.

»… alles vollgespritzt«, hörte ich jemanden sagen, und zwei ältere Studenten betraten den Saal. An ihrer kostspieligen Kleidung sah ich, dass sie Adlige waren, und sie brüllten zwar nicht direkt herum, gaben sich aber auch keine Mühe, leise zu sprechen. »Anisat hat ihn die ganze Sauerei aufwischen lassen, bevor er sich selber waschen durfte. Der stinkt jetzt bestimmt eine ganze Spanne lang nach Urea.«

»Und was gibt es da zu sehen?«, fragte Simmon und blickte auf das Vorsatzblatt hinab. »Da steht doch bloß sein Name und die Daten.«

»Nicht in der Mitte. Oben, ganz am Rand.« Ich deutete auf die Schneckenverzierungen. »Da.«

»Ich wette einen Deut, dass sich der kleine Mops vergiftet, noch bevor das Trimester um ist«, sagte der andere. »Waren wir früher eigentlich auch so dumm?«

»Ich sehe immer noch nichts«, sagte Simmon leise und machte eine ratlose Geste. »Es ist ganz hübsch, wenn man so was mag, aber ich habe nie ein Faible für Buchmalerei gehabt.«

»Ja, was dann?«, fragte ich und schaltete mich auf äußerst unhöfliche Weise in die Unterhaltung ein. Ich musste dazu gar nicht laut werden. Im Lesesaal reichte schon normale Gesprächslautstärke, um im ganzen Raum verstanden zu werden. »Das Letzte habe ich gerade leider nicht mitbekommen.«

Die beiden guckten mich gekränkt an, erwiderten aber nichts.

»Was machst du denn da?«, fuhr mich Sim flüsternd an.

»Für Ruhe sorgen«, sagte ich.

»Beachte die gar nicht«, sagte er. »Hier, ich sehe mir dein verdammtes Buch an. Zeig mir, was ich da sehen soll.«

»Gibea hat in seinen Arbeitsjournalen alle Skizzen selbst angefertigt«, sagte ich. »Und da das hier ein Original ist, kann man davon ausgehen, dass auch diese Verzierungen von ihm stammen, nicht wahr?« Sim nickte und strich sich wieder das Haar aus den Augen. »Was siehst du da?« Ganz langsam fuhr ich mit dem Zeigefinger von einem Teil der Schneckenverzierung zu einem anderen. »Na?«

Sim schüttelte den Kopf.

Ich zeigte noch einmal genauer darauf. »Da«, sagte ich, »Und da, in der Ecke.«

Er bekam große Augen. »Buchstaben! I … v …« Er hielt inne, um es zu entschlüsseln. »Ivare enim euge. Das hast du doch vorhin vor dich hin gemurmelt.« Er schob das Buch wieder von sich fort. »Also, was soll daran so interessant sein – außer dass sein Temisch offenbar miserabel war?«

»Das ist kein Temisch, sondern Tema«, erwiderte ich. »In einem archaischen Sprachgebrauch.«

»Und was soll das heißen?«, fragte er und sah mit gerunzelter Stirn wieder von seinem Buch auf. »Für das große Gute?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Zum allgemeinen Wohl. Na, kommt dir das nicht bekannt vor?«

»Wie gesagt, ich kann heute Abend nicht. Vielleicht am Fellingabend. Am Fellingabend habe ich Zeit.«

»Du solltest vorher hingehen«, riet ich ihm. »Am Fellingabend ist es im ZWEIPENNY immer viel zu voll.«

Sie sahen gereizt zu mir herüber. »Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß, du kleiner Streber«, sagte der Größere der beiden.

Das brachte mich noch mehr in Harnisch. »Oh, entschuldige. Hattest du etwa nicht mit mir gesprochen?«

»Hat es etwa so ausgesehen, als ob ich mit dir sprechen würde?«, entgegnete er.

»Es hat sich so angehört«, sagte ich. »Wenn ich dich noch drei Tische weiter gut hören kann, musst du doch wollen, dass ich an eurer Unterhaltung teilnehme.« Ich räusperte mich. »Die einzige andere denkbare Erklärung wäre, dass ihr beiden zu blöd seid, um euch im Lesesaal still zu verhalten.«

Er lief rot an und hätte wahrscheinlich zu einer Gegenrede angesetzt, aber sein Freund flüsterte ihm etwas ins Ohr, und dann packten die beiden ihre Sachen zusammen und gingen hinaus. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, gab es hier und da leisen Applaus. Ich dankte meinem Publikum mit einem Lächeln und winkte einmal in die Runde.

»Die Bibliothekare hätten sich schon darum gekümmert«, flüsterte Sim vorwurfsvoll, als wir wieder die Köpfe zusammensteckten, um uns weiter zu unterhalten.

»Sie haben sich aber nicht darum gekümmert«, erwiderte ich. »Und außerdem herrscht jetzt hier wieder Ruhe, und das ist es doch, was zählt. Also, woran erinnert dich ›Zum allgemeinen Wohl‹?«

»An die Amyr natürlich«, sagte er. »In letzter Zeit geht’s bei dir ja nur noch um die Amyr. Aber worauf willst du hinaus?«

»Darauf«, flüstere ich aufgeregt, »dass Gibea insgeheim ein Mitglied des Amyr-Ordens war.«

Sim sah mich skeptisch an. »Das ist eine gewagte These, aber es könnte sein. Das muss dann ungefähr fünfzig Jahre gewesen sein,

Ich hätte an dieser Stelle gern darauf hingewiesen, dass Gibea nicht unbedingt heruntergekommen war. Es ging ihm um das gleiche Ziel wie den Amyr – das allgemeine Wohl. So grauenhaft seine Experimente auch waren, hatte sein ganzes Werk doch die Medizin auf geradezu unfassbare Weise vorangebracht. Sein Werk hatte in den Jahrhunderten seither wahrscheinlich zehnmal so viele Leben gerettet, wie es damals gekostet hatte.

Ich glaubte aber nicht, dass Sim dieses Argument gelten lassen würde. »Ob nun heruntergekommen oder nicht – er war jedenfalls insgeheim Mitglied der Amyr. Weshalb sonst hätte er ihr Motto in verschlüsselter Form in sein Arbeitsjournal aufnehmen sollen?«

Simmon zuckte die Achseln. »Also gut, er war ein Amyr. Na und?«

Ich riss empört die Hände hoch und musste mich zusammenreißen, nicht laut zu werden. »Das bedeutet, dass die Amyr Geheimmitglieder hatten, bevor die Kirche sich von dem Orden abwandte! Als der Pontifex den Orden auflöste, hatten die Amyr also insgeheim Verbündete. Verbündete, die ihnen Schutz spenden konnten. Das bedeutet, dass es den Orden der Amyr heute immer noch geben könnte – im Verborgenen, als Geheimorganisation, und dass sie ihre Ziele weiter verfolgen.«

Simmons Gesichtsausdruck veränderte sich plötzlich. Erst dachte ich, er würde mir zustimmen, doch dann spürte ich ein Kribbeln im Nacken, und mir wurde klar, woran es wirklich lag. »Guten Tag, Meister Lorren«, sagte ich in respektvollem Ton, ohne mich umzusehen.

»Mit Studenten an anderen Tischen zu sprechen ist nicht gestattet«, sagte er hinter mir. »Du hast fünf Tage Hausverbot.«

Ich nickte, und wir beide standen auf und packten unsere Sachen. Mit ausdrucksloser Miene streckte mir Lorren eine Hand entgegen.

Ich übergab ihm Gibeas Arbeitsjournal, und eine Minute später standen wir beide blinzelnd im Wintersonnenschein vor dem Portal der Bibliothek. Ich zog den Umhang fester um mich und trat mir den Schnee von den Stiefeln ab.

Ich zuckte die Achseln. Es war mir peinlicher, als ich eingestehen mochte. Ich hoffte, einer der Anwesenden würde Lorren erklären, dass ich eher versucht hatte, für Ruhe zu sorgen als Unruhe zu stiften. »Ich wollte nur das Richtige tun.«

Simmon lachte, und wir gingen langsam in Richtung ANKER’S. Er trat zum Spaß nach einer Schneewehe. »Es bräuchte mehr Leute auf der Welt wie dich«, sagte er in einem Ton, an dem ich erkannte, dass er nun philosophisch wurde. »Du tust etwas. Nicht immer auf die beste oder vernünftigste Weise, aber: Du tust es. Du bist eine Rarität.«

»Wie meinst du das?«, fragte ich, neugierig geworden.

Sim zuckte die Achseln. »Na, heute zum Beispiel. Jemand stört dich, und zack, legst du los.« Er machte eine schnelle Bewegung mit der flachen Hand. »Du weißt ganz genau, was du tust. Du zögerst nicht, du siehst etwas und reagierst sofort.« Er schwieg einen Moment lang nachdenklich. »So, stelle ich mir vor, waren auch die Amyr. Kein Wunder, dass die Leute solche Angst vor ihnen hatten.«

»Ich bin aber nicht immer so fürchterlich selbstsicher«, gestand ich.

Simmon lächelte. »Das finde ich auf eine seltsame Weise beruhigend.«

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