Kapitel 82 Barbaren

Am folgenden Tag verlegten Tempi und ich das Lager, während Dedan und Hespe nach Crosson zurückkehrten, um Proviant zu besorgen. Marten kundschaftete einen abgelegenen Platz in der Nähe einer Quelle aus. Anschließend brachen wir das Lager ab, zogen mit Sack und Pack dorthin, hoben eine Latrinengrube aus, legten einen Feuerplatz an und richteten alles her.

Tempi zeigte sich gesprächsbereit, aber ich zögerte. Ich hatte ihn schon früher durch meine Frage nach dem Lethani erzürnt und mied dieses Thema daher. Doch hatte ich keine Ahnung, was ihn noch kränken würde, wenn er sich schon über eine einfache Frage nach Liedern so sehr aufregte.

Außerdem war seine Miene wieder völlig ausdruckslos, und er wich meinem Blick aus. Wie kann man sich aber vernünftig unterhalten, wenn man nicht weiß, was der Gesprächspartner empfindet? Man tastet sich gleichsam mit verbundenen Augen durch ein fremdes Haus.

Ich entschied mich, auf Nummer sicher zu gehen, und fragte ihn nur nach einigen unverfänglichen Wörtern, überwiegend Gegenständen, da wir beide für eine Pantomime mit den Händen zu beschäftigt waren.

Der größte Vorteil meiner Versuche, einige ademische Wörter zu lernen, war, dass Tempi dabei gleichzeitig sein Aturisch übte. Je mehr Fehler ich in seiner Sprache machte, desto selbstbewusster wurde er in seinen Sprechversuchen.

Und ich machte viele Fehler. Manchmal stellte ich mich so dumm an, dass Tempi mir ein Wort mehrmals und auf verschiedene Weise erklären musste, alles natürlich auf Aturisch.

Jetzt hatte ich das Lager für mich allein. Rasch schmolz ich die Kerzen des Kesslers ein und formte aus dem Wachs zwei kleine Puppen. Ich hatte das schon seit Tagen vorgehabt, aber selbst an der Universität galt die Herstellung solcher Puppen als anstößig, um wie viel mehr also hier in Vintas … Es muss genügen, wenn ich sage, dass ich mit äußerster Diskretion zu Werk gehen musste.

Das Ergebnis war nicht besonders schön. Talg lässt sich viel schwerer formen als Sympathiewachs, doch selbst die primitivste Puppe kann eine verheerende Waffe sein. Ich verstaute die beiden Puppen in meinem Reisesack und fühlte mich gleich viel besser auf etwaige Gefahren vorbereitet.

Ich säuberte meine Finger von den letzten Talgresten, als Tempi splitternackt von seinem Bad zurückkehrte. Dank jahrelanger Bühnenerfahrung gelang es mir, die Ruhe zu bewahren, allerdings nur knapp.

Tempi breitete seine nassen Kleider auf einem Ast zum Trocknen aus und kam ohne das geringste Zeichen von Scham oder Verlegenheit zu mir.

Er streckte die rechte Hand aus. Daumen und Zeigefinger hatte er zusammengedrückt. »Was ist das?« Er öffnete die Finger ein wenig.

Ich beugte mich darüber, froh über die Ablenkung. »Eine Zecke.«

Von Nahem fielen mir wieder die Narben auf, die wie kaum sichtbare Linien Tempis Arme und Brust bedeckten. Ich hatte an der Mediho gelernt, Narben zu lesen. Die von Tempi waren nicht breit, runzlig und rosafarben wie die Narben tiefer Wunden, die durch die verschiedenen Hautschichten und das darunter liegende Fett- und Muskelgewebe gingen. Offenbar hatte es sich um flache Verletzungen gehandelt, dafür Dutzende davon. Ich fragte mich unwillkürlich, wie lange Tempi angesichts so vieler Narben schon Söldner sein mochte. Er wirkte nicht viel älter als zwanzig.

»Gibt es in Ademre keine Zecken?«

»Nein.« Er wollte die Zecke mit den Fingern zerdrücken. »Geht nicht.«

Ich zeigte ihm, wie er sie zwischen den Fingernägeln zerquetschen konnte, was er dann auch mit einiger Genugtuung tat. Er warf sie weg und ging zu seinem Schlafplatz. Dort hob er immer noch nackt seine sämtlichen Kleider hoch und schüttelte sie heftig aus.

Ich hielt den Blick abgewendet und meinte plötzlich gleichsam zu spüren, dass Dedan und Hespe jetzt gleich aus Crosson zurückkehren würden.

Zum Glück täuschte ich mich. Eine Viertelstunde später zog Tempi eine trockene Hose an, nachdem er sie zuvor sorgfältig untersucht hatte.

Mit nacktem Oberkörper kehrte er zu mir zurück. »Ich hasse Zecken«, erklärte er.

Beim Sprechen vollführte er mit der linken Hand eine ruckartige Bewegung, als streife er Krümel von einem Hemd ab. Nur dass er natürlich kein Hemd trug und es von seiner nackten Haut nichts wegzustreifen gab. Außerdem erinnerte ich mich, dass er dieselbe Bewegung schon früher gemacht hatte.

Bei näherem Nachdenken wurde mir klar, dass er dieselbe Bewegung in den vergangenen Tagen ein halbes Dutzend Mal gemacht hatte, wenn auch nicht so heftig.

In mir keimte ein Verdacht. »Was bedeutet das, Tempi?« Ich machte die Bewegung nach.

Er nickte. »Es bedeutet das.« Er verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse.

Meine Gedanken überschlugen sich. Wie oft hatte ich Tempi während unserer Gespräche in der vergangenen Spanne solche merkwürdigen Bewegungen machen sehen! Mir wurde ganz schwindlig.

Tempi nickte und machte eine Handbewegung.

Ich zeigte auf die Hand. »Was bedeutet das?«

Er zögerte und lächelte ein wenig verlegen.

Ich wiederholte die Geste, spreizte die Finger ein wenig und drückte den Daumen von innen an den Mittelfinger.

»Nein«, verbesserte er, »mit der linken Hand.«

»Warum?«

Er klopfte mir mit seiner Hand unmittelbar links des Brustbeins an die Brust und fuhr anschließend mit dem Finger an meinem linken Arm entlang zu meiner linken Hand. Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstand. Die Linke war dem Herzen näher. Tempi hielt die Rechte hoch und ballte sie zur Faust. »Diese Hand ist stark.« Dann die Linke. »Diese ist klug.«

Das leuchtete mir ein. Aus demselben Grund griffen die meisten Lautenspieler die Töne mit der Linken und zupften mit der Rechten. Die Linke ist in der Regel flinker.

Ich wiederholte Tempis Geste also mit den gespreizten Fingern der linken Hand. Tempi schüttelte den Kopf. »Das entspräche dem.« Er verzog einen Mundwinkel zu einem selbstgefälligen Grinsen.

Die Grimasse wirkte auf seinem Gesicht so fehl am Platz, dass ich mich beherrschen musste, ihn nicht erstaunt anzustarren. Ich betrachtete seine Hand genauer und veränderte die Haltung meiner Finger ein wenig.

Tempi nickte billigend. Sein Gesicht zeigte keine Regung, aber ich wusste jetzt, warum.

Ich den folgenden Stunden lernte ich, dass die ademischen Gesten nicht einfach nur bestimmten Gesichtsausdrücken entsprachen. Man kann belustigt, glücklich, dankbar oder zufrieden lächeln. Man kann lächeln, weil man jemanden trösten will oder weil man zufrieden ist oder sich verliebt hat. Eine Grimasse oder ein Grinsen sehen ähnlich aus, bedeuten aber wieder etwas ganz anderes.

Stellt euch vor, ihr wolltet jemandem das Lächeln beibringen und beschreiben, was die verschiedenen Lächeln bedeuten und wann genau

Schlagartig wurde mir vieles klar. Natürlich sah Tempi mich beim Reden nicht an. Das Gesicht des Gesprächspartners war für das Gespräch uninteressant. Man hörte seiner Stimme zu und beobachtete seine Hände.

Ich verbrachte also einige Stunden damit, die Grundlagen der ademischen Gestik zu lernen, ein atemberaubend schwieriges Unterfangen. Wörter sind vergleichsweise einfach. Auf einen Stein kann man zeigen, Laufen oder Springen kann man vorführen. Aber wer könnte Einverständnis pantomimisch darstellen? Oder Achtung? Ironie? Ich glaube, sogar mein Vater wäre daran gescheitert.

Deshalb kam ich nur quälend langsam voran. Trotzdem war ich fasziniert. Ich schloss gewissermaßen Bekanntschaft mit einer anderen Art von Sprache.

Die zudem eine Art Geheimnis war. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Geheimnisse gehabt.

Ich brauchte drei Stunden für einige wenige Gesten. Zwar kam ich nur im Schneckentempo voran, aber als ich die Geste für »Untertreibung« gelernt hatte, erfüllte mich ein kaum zu beschreibender Stolz.

Ich glaube, auch Tempi spürte ihn. »Gut«, sagte er und streckte die Finger flach aus, was offenbar Zustimmung bedeutete. Er rollte ein paar Mal mit den Schultern, stand auf und streckte sich. Dann blickte er zur Sonne auf, die durch die Äste über unseren Köpfen schien. »Jetzt essen?«

»Bald.« Eine Frage beschäftigte mich noch. »Warum sich so viel Mühe machen, Tempi?«, fragte ich. »Ein Lächeln ist so leicht. Warum mit den Händen lächeln?«

»Mit den Händen lächeln ist auch leicht. Und besser, weil …« Er machte eine Handbewegung ähnlich der, mit der er sich eben eingebildete Krümel vom Hemd gewischt hatte. Bedeutete sie nicht Abscheu, sondern Ärger? »Wie sagt man, wenn Menschen zusammenleben? Mit Ordnung und Straßen?« Er fuhr sich mit dem Daumen über das Schlüsselbein. Bedeutete diese Bewegung Ungeduld? »Wie sagt man für gutes Zusammenleben? Jeder nimmt auf den anderen Rücksicht?«

Er nickte und spreizte die Finger. Belustigung. »Ja. Mit den Händen sprechen ist Zivilisation.«

»Aber Lächeln ist etwas Natürliches«, protestierte ich. »Alle Menschen lächeln.«

»Natur ist nicht Zivilisation«, erwiderte Tempi. »Fleisch kochen ist Zivilisation. Gestank abwaschen ist Zivilisation.«

»Ihr lächelt bei euch in Ademre also ausschließlich mit den Händen?« Ich hätte meine Verwirrung gern mit einer entsprechenden Handbewegung ausgedrückt.

»Nein. Lächeln mit Gesicht ist gut für Familie und Freunde.«

»Warum nur dort?«

Tempi fuhr sich wieder mit dem Daumen über das Schlüsselbein. »Wenn man das macht …« Er drückte die Handfläche an die Wange und blies Luft hinein. Es klang, als lasse er einen lauten Furz. »Das ist natürlich, aber man macht es nicht vor anderen. Es ist unhöflich. Aber in der Familie …« Er zuckte mit den Schultern. Belustigung. »… gute Manieren nicht so wichtig.«

»Und wie haltet ihr es mit dem Lachen?«, fragte ich. »Ich habe dich lachen sehen.« Ich lachte, damit er wusste, wovon ich redete.

Er zuckte mit den Schultern. »Lachen ist …«

Ich wartete einen Moment, aber er schien nichts weiter sagen zu wollen. »Warum nicht mit den Händen lachen?«, setzte ich erneut an.

Tempi schüttelte den Kopf. »Nein, Lachen ist anders.« Er trat vor mich und klopfte mit zwei Fingern auf die Stelle über meinem Herzen. »Lächeln?« Er fuhr mit den Fingern meinen linken Arm entlang. »Wütend?« Er klopfte wieder auf mein Herz, machte ein zorniges Gesicht und schob wie schmollend die Unterlippe vor.

»Aber lachen?« Er drückte mit der flachen Hand auf meinen Bauch. »Lachen wohnt hier.« Er fuhr mit den Fingern zu meinem Mund hinauf und spreizte sie. »Lachen unterdrücken ist nicht gut. Nicht gesund.«

»Und Weinen?«, fragte ich und zeichnete mit dem Finger die Spur einer Träne auf meine Wange.

»Auch nicht.« Er legte sich die Hand auf den Bauch, lachte und drückte mit der Hand dagegen, um mir zu zeigen, wie sein Bauch

Ich nickte langsam und versuchte mir vorzustellen, was Tempi inmitten von Leuten empfinden mochte, die ihm ständig ihren Gesichtsausdruck aufdrängten und mit ihren Händen unsinnige Gesten vollführten. »Es muss für dich bei uns sehr anstrengend sein.«

»Geht schon.« Untertreibung. »Wenn ich hierher komme, weiß ich es. Keine Zivilisation. Barbaren sind unhöflich.«

»Barbaren?«

Er machte eine ausholende Handbewegung, die unsere Lichtung, den Wald und ganz Vintas einschloss. »Hier sind alle wie Hunde.« Er machte eine übertrieben wütende Grimasse, fletschte die Zähne, knurrte und rollte wie verrückt mit den Augen. »Ihr wisst es nicht besser.« Er zuckte gelassen mit den Schultern, als wollte er sagen, er sei uns deswegen nicht böse.

»Und die Kinder?«, fragte ich. »Sie lächeln, noch bevor sie sprechen. Ist das falsch?«

Tempi schüttelte den Kopf. »Alle Kinder sind Barbaren. Lächeln alle mit dem Gesicht. Alle Kinder sind unhöflich. Aber sie werden älter, beobachten und lernen.« Er schwieg und überlegte. »Barbaren haben keine Frau, die ihnen Zivilisation beibringt. Barbaren können nicht lernen.«

Ich kann euch versichern, dass er mich nicht kränken wollte, und ich war fester entschlossen denn je, die Gestensprache der Adem zu erlernen.

Tempi stand auf und vollführte einige Streckübungen, die ich von den Akrobaten der Schauspieltruppe kannte, mit der ich in meiner Kindheit unterwegs gewesen war. Nachdem er sich etwa eine Viertelstunde lang aufgewärmt hatte, begann er wieder mit seiner langsamen, an einen Tanz erinnernden Pantomime. Sie trug den Namen Ketan, was ich damals allerdings noch nicht wusste.

Immer noch ein wenig verärgert über seine Bemerkung, Barbaren seien nicht lernfähig, beschloss ich, seine Bewegungen nachzumachen. Schließlich hatte ich nichts Besseres zu tun.

Dabei merkte ich allerdings erst, wie verteufelt schwer es war, die

Ich war erschöpft und entsprechend froh, als wir fertig waren. Anschließend machte ich Feuer und band drei Stöcke zu einem Dreifuß zusammen. Tempi holte wortlos ein Stück Wurst und einige Kartoffeln, die er mit seinem Schwert sorgfältig schälte.

Letzteres überraschte mich, da Tempi mit seinem Schwert ähnlich heikel war wie ich mit meiner Laute. Als Dedan es einmal in die Hand genommen hatte, hatte Tempi mit einem dramatischen Gefühlsausbruch reagiert. Das heißt dramatisch für seine Verhältnisse: Er hatte zwei vollständige Sätze gesprochen und dazu ein wenig die Stirn gerunzelt.

Tempi bemerkte meinen Blick und legte fragend den Kopf schräg.

Ich zeigte auf sein Schwert. »Schwert?«, fragte ich. »Zum Kartoffelschälen?«

Tempi blickte auf die halbgeschälte Kartoffel in seiner Hand und das Schwert in der anderen. »Es ist scharf.« Er zuckte die Schultern. »Und sauber.«

Ich erwiderte die Geste, denn ich wollte nicht zu viel Aufhebens um meine Frage machen. Während der weiteren Essensvorbereitungen lernte ich noch die Wörter für Eisen, Knoten, Blatt, Funke und Salz.

Während wir darauf warteten, dass das Wasser kochte, stand Tempi auf und begann erneut mit seinen Dehnübungen. Wieder folgte ich seinem Beispiel. Diesmal fiel es mir noch schwerer. Die Muskeln meiner Arme und Beine waren noch vom letzten Mal schlaff und zittrig. Gegen Ende konnte ich das Zittern nur noch mühsam unterdrücken, doch hatte ich wieder einiges gelernt.

Tempi beachtete mich weiterhin nicht, aber das war mir egal. Herausforderungen haben mich schon immer gereizt.

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