Kapitel 15 Interessante Tatsachen
Elodin kam fast eine Stunde zu spät in den Hörsaal geschlendert. Seine Kleidung war mit grünen Grasflecken übersät, und in seinem Haar hingen trockene Blätter. Er grinste.
An diesem Tag warteten wir nur noch zu sechst auf ihn. Jarret war zu den letzten beiden Terminen nicht mehr erschienen, und angesichts der beißenden Bemerkungen, die er zuvor losgelassen hatte, glaubte ich nicht, dass er wiederkommen würde.
»Also!«, rief Elodin ohne jede Einleitung. »Erzählt mir was!«
Das war seine neuste Methode, unsere Zeit zu vergeuden. Zu Beginn jeder Vorlesung verlangte er etwas Interessantes zu hören. Natürlich entschied allein Elodin, was interessant war und was nicht, und wenn das erste, was man ihm lieferte, seinen Anforderungen nicht entsprach, oder wenn es nichts Neues mehr für ihn war, verlangte er, etwas anderes zu hören, und dann immer so weiter, bis einer von uns schließlich etwas vortrug, das ihn amüsierte.
Er zeigte auf Brean. »Los!«
»Spinnen können unter Wasser atmen«, sagte sie.
Elodin nickte. »Gut.« Er sah Fenton an.
»Südlich von Vintas gibt es einen Fluss, der falsch herum fließt«, sagte Fenton. »Es ist ein Salzwasserfluss, der von der Sundersee aus landeinwärts fließt.«
Elodin schüttelte den Kopf. »Das wusste ich schon.«
Fenton sah auf ein Blatt Papier. »Kaiser Ventoran hat einmal ein Gesetz erlassen, das –«
»Langweilig«, schnitt Elodin ihm das Wort ab.
Elodin bewegte mit nachdenklicher Miene den Mund, so als versuchte er, mit der Zunge ein kleines Knorpelstück zwischen den Zähnen hervorzupulen. Dann nickte er. »Das lasse ich gelten.« Er zeigte auf Uresh.
»Eine unendliche Zahl kann man unendlich oft teilen und erhält dabei immer wieder unendliche Zahlen«, sagte Uresh mit seinem eigentümlichen Lenatti-Akzent. »Teilt man aber eine nicht unendliche Zahl unendlich oft, erhält man nicht unendlich kleine Zahlen. Da sie nicht unendlich klein sind, es aber unendlich viele sind, ist die Summe daraus wieder unendlich. Daraus folgt, dass letztlich jede Zahl unendlich ist.«
»Wow«, sagte Elodin nach längerem Schweigen. Dann richtete er mit ernster Miene einen Zeigefinger auf den Mann aus Lenatt. »Uresh, deine nächste Hausaufgabe besteht darin, dich sexuell zu betätigen. Falls du nicht weißt, wie du das anstellen sollst, sprich mich bitte nach der Veranstaltung an.« Er richtete den Blick auf Inyssa.
»Das yllische Volk hat nie eine Schriftsprache hervorgebracht«, sagte sie.
»Das stimmt nicht«, sagte Elodin. »Sie hatten früh eine Knotenschrift.« Er bewegte die Finger, als würde er etwas flechten. »Und zwar lange bevor wir hier anfingen, Bildschriftzeichen auf Schafleder zu malen.«
»Ich habe nicht gesagt, dass sie keine sprachlichen Aufzeichnungen hatten«, murmelte Inyssa. »Ich sprach von der Schriftsprache.«
Elodin gelang es, seine grenzenlose Langeweile mit einem schlichten Achselzucken auszudrücken.
Ilyssa sah ihn finster an. »Also gut. In Sceria gibt es eine Hunderasse, die ihre Jungen durch einen rudimentären Penis hindurch gebären«, sagte sie.
»Gut«, sagte Elodin. »Weiter.« Er deutete auf Fela.
»Vor achtzig Jahren entdeckte man in der Mediho, wie man bei einem menschlichen Auge eine Katarakt, einen grauen Star also, beheben kann«, sagte sie.
»Das wusste ich«, sagte Elodin und winkte ab.
Elodin legte neugierig den Kopf zur Seite.
Fela fuhr fort: »Als sie dann sehen konnten, zeigte man ihnen bestimmte Objekte. Eine Kugel, einen Kubus und eine Pyramide, die alle auf einem Tisch standen.« Während sie sprach, ahmte Fela mit den Händen die Gestalt dieser Objekte nach. »Und dann fragten die Ärzte, welches der drei Objekte rund sei.«
Fela machte eine effektvolle Pause und sah uns alle an. »Vom Sehen allein konnten sie das nicht entscheiden. Sie mussten die Objekte erst berühren. Erst als sie die Kugel angefasst hatten, wussten sie, dass sie rund war.«
Elodin lachte begeistert. »Echt wahr?«
Fela nickte.
»Fela gewinnt den großen Preis!«, rief Elodin und riss die Hände hoch. Dann zog er aus einer Tasche etwas Braunes, Längliches hervor und drückte es ihr in die Hände.
Sie betrachtete es neugierig. Es war eine Samenkapsel von einer Seidenpflanze.
»Kvothe hat noch gar nichts beigetragen«, sagte Brean.
»Egal«, sagte Elodin. »Kvothe ist bei ›Interessante Tatsachen‹ meist eh ein Versager.«
Ich blickte ihn so finster an, wie ich nur konnte.
»Also gut«, sagte Elodin. »Was hast du in petto?«
»Die Söldner der Adem haben eine geheime Kunst, die sie ›Lethani‹ nennen«, sagte ich. »Sie ist der Schlüssel dazu, dass sie so fähige Krieger sind.«
Elodin legte den Kopf auf die Seite. »Tatsächlich?«, sagte er. »Und was ist das?«
»Keine Ahnung«, erwiderte ich flapsig und hoffte ihn damit zu ärgern. »Es ist ja, wie gesagt, geheim.«
Elodin schien einen Moment lang darüber nachzudenken. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Das ist zwar interessant, aber keine Tatsache. Da könnte ich ja auch behaupten, die kealdischen Geldverleiher
Ich versuchte mir etwas anderes einfallen zu lassen, aber es gelang mir nicht. Ich hatte den Kopf immer noch voll mit Märchengeschichten und meinen zu nichts führenden Recherchen über die Chandrian.
»Siehst du«, sagte Elodin zu Brean. »Da kommt nichts.«
»Ich verstehe einfach nicht, warum Ihr unsere Zeit mit so etwas vergeudet«, schnauzte ich los.
»Hättest du denn etwas Besseres zu tun?«, fragte Elodin.
»Allerdings! Ich habe unzählige wichtigere Dinge zu tun! Wie zum Beispiel etwas über den Namen des Windes zu lernen!«
Elodin hob einen Finger und versuchte, die Pose eines Weisen einzunehmen, was ihm aber aufgrund des Laubs in seinem Haar nicht recht gelang. »Kleine Tatsachen führen zu großem Wissen«, intonierte er. »Ebenso wie kleine Namen zu großen Namen führen.«
Er klatschte in die Hände und rieb sie dann eifrig. »Also gut! Fela! Öffne deinen Preis, damit wir Kvothe die Lektion erteilen können, nach der er sich so sehnt.«
Fela zerbrach die trockene Hülle der Samenkapsel. Die weißen, flaumigen Flugsamen ergossen sich über ihre Hände.
Der Meister der Namenskunde forderte Fela mit einer Handbewegung auf, es in die Luft zu werfen. Fela tat es, und wir alle sahen zu, wie der weiße, flaumige Haufen zur Saaldecke hinaufflog und dann wieder zu Boden fiel.
»Verdammt«, sagte Elodin. Er ging steifbeinig zu dem Samenklumpen, hob ihn auf und fuchtelte damit herum, bis die ganze Luft von schwebenden weißen Flugsamen erfüllt war.
Dann fing Elodin an, diesen Samen durch den ganzen Saal hinterherzujagen, versuchte sie mit den Händen aus der Luft zu haschen. Er stieg dabei über Stühle, lief quer über das Podium und sprang schließlich auf den Tisch vorn im Saal.
Und die ganze Zeit haschte er nach den Samen. Erst nur mit einer Hand, wie man einen kleinen Ball fängt. Als es ihm auf diese Weise nicht gelang, ging er dazu über, nach ihnen zu klatschen, als wären
Doch er schaffte es einfach nicht. Je länger er den Samen nachjagte, desto hektischer wurde er, desto schneller lief er umher, desto wilder griff er danach. Das ging eine Minute lang so weiter. Zwei Minuten. Fünf Minuten. Zehn.
Es wäre wohl das ganze restliche Seminar so weitergegangen, wäre er nicht schließlich über einen Stuhl gestolpert. Er fiel auf den Steinboden, riss sich ein Hosenbein auf und schlug sich das Knie blutig.
Sein Bein haltend, saß er auf dem Boden und ließ eine so unflätige Schimpfkanonade los, wie ich das in meinem ganzen Leben noch nicht gehört hatte. Er brüllte und knurrte und spie. Er fluchte in mindestens acht Sprachen, und selbst wenn ich die Worte, die er gebrauchte, nicht verstand, zog sich mir allein schon bei ihrem Klang der Magen zusammen und stellten sich mir die Unterarmhärchen auf. Er äußerte Dinge, bei denen mir der Schweiß ausbrach. Er äußerte Dinge, bei denen mir speiübel wurde. Er äußerte Dinge, von denen ich gar nicht wusste, dass man so etwas überhaupt äußern konnte.
Das wäre wahrscheinlich noch eine Weile so weitergegangen, doch als er einmal wütend Luft holte, sog er einen der umherschwebenden Samen in seinen Mund ein und begann heftig zu würgen und zu husten.
Schließlich spie er den Samen wieder aus, bekam wieder Luft, erhob sich mühsam und humpelte aus dem Hörsaal, ohne noch ein weiteres Wort gesagt zu sagen.
Das war kein sonderlich ungewöhnlicher Tag in Meister Elodins Seminar.
Nach Elodins Seminar aß ich im ANKER’S eine Kleinigkeit zum Mittag und trat dann meine Schicht in der Mediho an, wo ich den erfahreneren El’the dabei zusah, wie sie bei neu eingetroffenen Patienten
Zuerst schaute ich im EOLIAN vorbei, obwohl es viel zu früh war, als dass Denna dort sein konnte. Ich plauderte mit Stanchion und Deoch und ging anschließend weiter zu einigen anderen Wirtshäusern, von denen ich wusste, dass sie sie gelegentlich frequentierte: im ZAPFHAHN, im FASS & BALLEN und im HUND IN DER WAND. Doch auch dort traf ich sie nicht an.
Dann schlenderte ich durch einige öffentliche Parkanlagen. Die meisten Bäume hatten ihr Laub schon abgeworfen. Ich schaute bei sämtlichen Musikinstrumentengeschäften hinein, die ich finden konnte, sah mir die Lauten an, die man auf Lager hatte, und erkundigte mich, ob eine schöne, dunkelhaarige Frau gesehen worden sei, die sich für Harfen interessierte. Dem war nicht so.
Mittlerweile war es dunkel geworden. Ich ging noch einmal ins EOLIAN und schlenderte langsam durchs Publikum. Denna war immer noch nirgends zu sehen, aber ich traf Graf Threpe. Wir tranken etwas miteinander und lauschten einigen Liedern, bevor ich wieder ging.
Ich zog den Umhang fester um mich, als ich mich auf den Rückweg zur Universität machte. Auf den Straßen von Imre war nun viel mehr los als tagsüber, und trotz der abendlichen Kühle lag eine festliche Stimmung in der Luft. Musik unterschiedlichsten Stils drang aus den Eingängen der Wirtshäuser und Theater. Menschen strömten in die Restaurants und Ausstellungssäle.
Da hörte ich inmitten des Stimmengewirrs ein hohes, klares Lachen. Dieses Lachen hätte ich überall wiedererkannt. Es war Dennas Lachen. Ich kannte es so gut wie meine Handrücken.
Ich wandte mich um und spürte, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht breitmachte. Es war immer so. Erst dann schien ich sie finden zu können, wenn ich die Hoffnung schon aufgegeben hatte.
Nun ließ ich den Blick über die Gesichter schweifen und entdeckte
Ich machte einen Schritt auf sie zu und blieb abrupt stehen. Ich sah, dass sie mit jemandem sprach, der hinter der offenen Tür einer Kutsche stand. Das Einzige, was ich von ihm sehen konnte, war sein Hinterkopf. Er trug einen Hut mit einer großen weißen Feder.
Kurz darauf schloss Ambrose den Wagenschlag. Er warf ihr ein reizendes Lächeln zu und sagte etwas, das sie zum Lachen brachte. Lampenschein glitzerte auf dem Goldbrokat seiner Jacke, und seine Handschuhe waren im selben, königlichen Purpurton gefärbt wie seine Stiefel. Die Farbe hätte an ihm eigentlich grell wirken müssen, tat es aber nicht.
Als ich dort so stand und starrte, wäre ich um ein Haar von einem vorbeifahrenden Pferdekarren erfasst worden, was ganz allein meine Schuld gewesen wäre, denn schließlich stand ich mitten auf der Straße. Der Kutscher fluchte und schlug mit seiner Peitsche nach mir. Der Hieb traf mich im Nacken, aber ich spürte ihn kaum.
Gerade noch rechtzeitig fand ich mein Gleichgewicht wieder, um zu sehen, wie Ambrose Denna die Hand küsste. Dann bot er ihr mit einer anmutigen Geste seinen Arm, und sie gingen gemeinsam in das Café.