Kapitel 79 Spuren
Nach dem Frühstück zeigte Marten Tempi und mir, wie wir nach Spuren der Banditen suchen konnten.
Ein zerrissenes Hemd, das an einem Ast hängt, oder einen tief in den Boden eingedrückten Fußabdruck sieht jeder. In einem Theaterstück mag derlei vorkommen, im wirklichen Leben nicht. Ganz im Ernst: Wer hat ein Hemd je so stark zerrissen, dass er gleich das ganze Kleidungsstück zurückgelassen hätte?
Niemand. Die Banditen, hinter denen wir her waren, waren mit allen Wassern gewaschen, und wir durften nicht erwarten, dass sie deutlich sichtbare Spuren hinterließen. Marten hatte als Einziger von uns eine genauere Vorstellung davon, wonach wir eigentlich suchten.
»Zum Beispiel nach abgebrochenen Zweigen«, sagte er. »Vor allem im dichten Unterholz auf Höhe der Hüften oder Knöchel.« Er tat so, als zwänge er sich zwischen Büschen hindurch und schiebe Äste mit den Händen zur Seite. »Die eigentlichen Bruchstellen sind oft schwer zu erkennen, achtet lieber auf die Blätter.« Er deutete auf einen Busch. »Was seht ihr dort?«
Tempi zeigte auf einen tiefhängenden Ast. Er trug an diesem Morgen seine einfachen grauen Kleider anstelle der roten und wirkte damit noch unscheinbarer.
Ich folgte seinem Arm und sah, dass der Ast gebrochen war.
»Ist hier also jemand entlanggegangen?«, fragte ich.
Marten rückte den Bogen, der ihm von der Schulter zu rutschen drohte, mit einer Bewegung zurecht. »Das war ich gestern Abend. Seht ihr, wie die Blätter anfangen zu verwelken?«
Ich nickte.
»Bedeutet das, dass jemand diesen Weg wiederholt und im Abstand von einigen Tagen gegangen ist.«
Marten nickte. »Während ich die Gegend erkunde und nach den Banditen Ausschau halte, sucht ihr nach solchen Spuren. Wenn ihr welche findet, ruft mich.«
»Rufen?« Tempi legte die Hände trichterförmig an den Mund und drehte sich in verschiedene Richtungen. Dann zeigte er mit einer ausholenden Handbewegung auf unsere Umgebung und legte die Hand wie lauschend ans Ohr.
Marten runzelte die Stirn. »Du hast recht, ihr solltet mich besser nicht rufen.« Er rieb sich ratlos den Nacken. »Verdammt, daran haben wir nicht gedacht.«
Ich lächelte. »Ich schon«, sagte ich und zog eine einfache Holzpfeife aus der Tasche, die ich am Vorabend geschnitzt hatte. Sie hatte nur zwei Töne, aber mehr brauchten wir auch nicht. Ich hielt sie an den Mund und blies hinein. Ta-ta diiiie, ta-ta diiiie.
Marten grinste. »Das ist der Ruf einer Nachtschwalbe, nicht wahr? Die Tonhöhe stimmt genau.«
Ich nickte.
Marten räusperte sich und machte ein entschuldigendes Gesicht. »Schade nur, dass es sich um eine Nachtschwalbe handelt. Nacht-Schwalbe, verstehst du? Jeder Mensch, der sich im Wald auskennt, wird Verdacht schöpfen, wenn er sie bei Tag hört.«
Ich betrachtete die Pfeife in meinen Händen. »Mist«, schimpfte ich, »daran hätte ich denken müssen.«
»Aber die Idee ist gut«, sagte Marten. »Wir brauchen nur noch eine Pfeife für einen Tagvogel. Vielleicht einen Goldsänger.« Er pfiff zwei Töne. »Das wäre einfach.«
»Heute Abend baue ich eine andere.« Ich hob einen Zweig vom Boden auf, brach ihn auseinander und gab Marten die eine Hälfte. »Bis dahin verständigen wir uns mit dem.«
»Wenn du dir etwas ansehen sollst, das wir gefunden haben, mache ich folgendes.« Ich konzentrierte mich, murmelte eine Bindung und bewegte meine Hälfte des Zweigs.
Marten machte erschrocken einen Satz und ließ den Zweig fallen. Wenigstens schrie er nicht. »Was zum Teufel war das?«, fauchte er und rieb sich die Hand.
Ich war selbst erschrocken und mein Herz raste. »Tut mir leid, Marten, das war nur ein wenig Sympathie.« Zwischen seinen Augenbrauen erschien eine Falte. »Ein kleiner Zauber, eine Art Zauberschnur, mit der ich zwei Dinge verbinde.«
Elxa Dal hätte sich über diese Beschreibung wahrscheinlich die Haare gerauft, aber ich sprach schnell weiter: »Ich verbinde also die beiden Hälften des Zweigs, und wenn ich dann meine Hälfte bewege …« Ich ging zu der Stelle, an der Martens Zweig auf dem Boden lag, und hob meine Hälfte. Die Hälfte auf dem Boden hob sich ebenfalls.
Meine Vorführung erzielte die gewünschte Wirkung. Die beiden sich gleichartig bewegenden Zweige sahen aus wie eine Art primitiver Marionette. Nichts, wovor man Angst haben musste. »Ich ziehe gleichsam an einer unsichtbaren Schnur, nur dass sich nichts verheddern kann.«
»Aber wie stark ziehst du?«, fragte Marten misstrauisch. »Ich will nicht beim Kundschaften von einem Baum fallen.«
»Ich rucke ganz vorsichtig daran, wie am Schwimmer einer Angel.«
Marten hörte auf, sich die Hand zu reiben, und seine Anspannung ließ ein wenig nach. »Ich bin nur erschrocken«, sagte er.
»Das ist meine Schuld. Ich hätte dich warnen sollen.« Ich hob den Zweig betont gleichgültig auf, als handelte es sich um einen ganz gewöhnlichen Zweig. Das stimmte ja auch, ich musste nur noch Marten davon überzeugen. Denn wie Teccam gesagt hat: Nichts auf der Welt ist schwerer, als jemandem eine ungewohnte Wahrheit nahe zu bringen.
Der alte Jäger erwies sich als ein erstaunlich guter Lehrer. Er beanspruchte uns nicht über Gebühr, behandelte uns nicht von oben herab und beantwortete bereitwillig unsere Fragen. Sogar Tempis Sprachschwierigkeiten begegnete er mit großer Geduld.
Doch dauerte der Unterricht Stunden, sogar einen vollen halben Tag. Dann, als wir schon glaubten, wir seien fertig, hieß Marten uns ins Lager zurückkehren.
»Den Weg kennen wir schon«, sagte ich. »Üben wir doch lieber gleich in der richtigen Richtung.«
Doch Marten war bereits vorausgegangen. »Sagt mir, was ihr seht.«
Zwanzig Schritte weiter zeigte Tempi auf den Boden. »Moos«, sagte er. »Mein Fuß. Das war ich.«
Ich begriff, was wir tun sollten, und machte mich ebenfalls auf die Suche nach den Spuren, die Tempi und ich hinterlassen hatten. Drei demütigende Stunden lang führte Marten uns Schritt für Schritt durch den Wald und zeigte uns, womit wir unsere Anwesenheit verraten hatten: hier hatten wir eine Flechte von einem Baumstamm abgerissen, dort war Moos von einem Felsen abgerieben oder hatten umgedrehte Kiefernadeln eine hellere Färbung.
Am schlimmsten waren ein halbes Dutzend leuchtend grüner Blätter, die zerkleinert in einem ordentlichen Halbkreis auf dem Boden lagen. Marten hob die Augenbrauen, und ich wurde rot. Ich hatte sie von einem Busch abgepflückt und abwesend in kleine Stücke gerissen, während ich Marten zuhörte.
»Seid ständig auf der Hut und tretet vorsichtig auf«, mahnte Marten. »Und passt auch aufeinander auf.« Er sah zwischen Tempi und mir hin und her. »Was wir hier tun, ist gefährlich.«
Er zeigte uns, wie wir unsere Spuren verwischen konnten. Dabei wurde schnell klar, dass eine nur flüchtig verdeckte Spur oft noch mehr auffiel. Im Lauf der nächsten beiden Stunden lernten wir, eigene Spuren zu verbergen und Spuren, die andere hatten verbergen wollen, zu entdecken.
Ich dachte an die langen Tage, die vor uns lagen. Dabei fiel mir ein, wie quälend lang mir die Suche in der Bibliothek etwa nach dem Bauplan eines Gram vorgekommen war. Verglichen mit der Suche nach einem abgebrochenen Zweig im Wald erschien sie mir jetzt kinderleicht.
In der Bibliothek hatte ich Zufallsentdeckungen gemacht. Außerdem hatte ich dort Freunde gehabt, mit denen ich sprechen und scherzen konnte. Ich warf Tempi einen Blick von der Seite zu. Die Worte, die er an diesem Tag gesagt hatte, konnte ich zählen, es waren vierundzwanzig. Außerdem hatte er mich dreimal angesehen.
Wie lange würden wir brauchen? Zehn Tage? Zwanzig? Grundgütiger Tehlu, konnte ich einen Monat hier zubringen, ohne verrückt zu werden?
In solche Gedanken versunken, fiel mein Blick auf ein Stück von einem Baum abgerissene Rinde und ein Büschel Gras, das sich zur falschen Seite neigte. Erleichterung durchströmte mich.
Doch ich zwang mich zur Ruhe und winkte Tempi zu mir. »Fällt dir hier etwas auf?« Er nickte, fingerte am Kragen seines Hemds herum und zeigte auf das Grasbüschel, das auch mir schon aufgefallen war. Dann deutete er noch auf eine bloßliegende, verschrammte Wurzel, die ich nicht bemerkt hatte.
Schwindlig vor Aufregung zog ich meinen Zweig aus der Tasche und benachrichtigte Marten. Ich ruckte nur ganz vorsichtig daran, damit er nicht schon wieder einen Schrecken bekam.
Wenige Augenblicke später tauchte er vor uns aus dem Wald auf. Ich hatte mir in dieser kurzen Zeit schon drei Pläne ausgedacht, wie wir die Banditen fangen und töten konnten. Des weiteren hatte ich fünf Monologe verfasst, in denen ich Denna um Verzeihung bat, und beschlossen, nach meiner Rückkehr nach Severen der Thelanerkirche zum Dank für dieses Wunder Geld zu spenden.
Ich rechnete damit, dass Marten verärgert sein würde, weil wir ihn jetzt schon riefen, doch er verzog keine Miene.
»Gut«, sagte Marten ernst. »Gut gemacht. Dort drüben hängt noch ein abgeknickter Zweig.« Er zeigte auf einen Busch in einigen Schritten Entfernung.
Ich drehte mich in die Richtung, in welche die Spur offenbar verlief. »Vermutlich sind sie nach Norden gegangen«, sagte ich. »Von der Straße weg. Meinst du, wir sollten ihnen jetzt gleich folgen oder bis morgen warten, wenn wir ausgeruht sind?«
Marten sah mich von der Seite an. »Mein Gott, Junge, das sind doch keine echten Spuren. So offenkundig und so dicht beisammen.« Er musterte mich prüfend. »Ich habe sie hinterlassen. Ich wollte mich vergewissern, dass ihr nicht schon nach ein paar Minuten Suche in eurer Aufmerksamkeit nachlasst.«
Meine Begeisterung fiel in sich zusammen. Ich muss ein jämmerliches Gesicht gemacht haben, denn Marten lächelte entschuldigend. »Tut mir leid, ich hätte es dir sagen sollen. Ich werde euch täglich irgendwelche Spuren hinterlassen. Nur so bleiben wir wachsam. Ich suche nicht zum ersten Mal nach einer Stecknadel im Heuhaufen.«
Als wir Marten zum dritten Mal zurückriefen, schlug er uns eine Wette vor. Tempi und ich sollten für jede gefundene Spur einen Halbpenny bekommen, er dagegen einen Silberbit für jede, die wir übersahen. Ich schlug sofort ein. Die Wette würde uns wach halten, außerdem rechnete ich mir gute Chancen aus.
Der Rest des Tages verging schnell. Einige Spuren übersahen wir: einen geringfügig verschobenen Baumstamm, einige auf dem Boden verstreute Blätter und ein zerrissenes Spinnennetz. Das Spinnennetz fand ich ein wenig übertrieben. Trotzdem hatten Tempi und ich bei unserer Rückkehr ins Lager an diesem Abend zwei Pennys Vorsprung.
Beim Abendessen erzählte Marten die Geschichte vom Sohn einer Witwe, der auszog, um sein Glück zu machen. Ein fahrender Händler verkaufte ihm ein Paar Zauberstiefel, mit deren Hilfe er eine Prinzessin aus einem Turm im Gebirge befreite.
Es war eine gute Geschichte. Auch ein hungriger Riese kam in ihr vor und ein Rätsel, das gelöst werden musste. Der Sohn der Witwe meisterte alles, und am Ende befreite er die Prinzessin und heiratete sie. Die Geschichte klang vertraut, und ich fühlte mich an jene längst vergangene Zeit erinnert, als ich noch ein Zuhause und eine Familie gehabt hatte.