Kapitel 7 Zulassungsprüfungen

Am nächsten Morgen klatschte ich mir etwas Wasser ins Gesicht und stapfte nach unten. Der Schankraum des ANKER’S füllte sich gerade mit Leuten, die ein frühes Mittagessen zu sich nehmen wollten, und einige besonders verzweifelte Studenten fingen hier auch schon so früh zu trinken an.

Benommen von zu wenig Schlaf ließ ich mich an meinem üblichen Ecktisch nieder und begann mir wegen des bevorstehenden Prüfungsgesprächs den Kopf zu zerbrechen.

Kilvin und Elxa Dal bereiteten mir keine Sorgen. Für deren Fragen war ich gewappnet. Gleiches galt größtenteils auch für Arwyl. Die übrigen Meister aber waren mir in unterschiedlichem Maße ein Rätsel.

Jeder Meister stellte jedes Trimester im Lesesaal der Bibliothek eine Reihe von Büchern auf ein besonderes Bord. Darunter waren grundlegende Werke für die E’lir und weiterführende Lektüren für die Re’lar und El’the. Diese Bücher zeigten an, welches Wissen die Meister für besonders wertvoll erachteten. Das waren die Bücher, die ein cleverer Student vor der Zulassungsprüfung durchackerte.

Ich jedoch konnte nicht wie jedermann sonst einfach so in den Lesesaal spazieren. Seit über zehn Jahren war ich der erste Student, der in der Bibliothek Hausverbot erhalten hatte, und jeder wusste davon. Der Lesesaal war der einzige hell erleuchtete Raum im ganzen Gebäude, und während der Zulassungsprüfungen hielten sich dort rund um die Uhr Studenten auf und lasen.

Ich war daher gezwungen, Exemplare der empfohlenen Werke im Magazin der Bibliothek aufzustöbern. Es ist wirklich erstaunlich,

In den vergangenen Nächten hatte ich so viel gelesen, wie ich nur konnte, aber es kostete wertvolle Zeit, die richtigen Bücher aufzutreiben, und daher war ich immer noch jämmerlich schlecht vorbereitet.

In derlei sorgenvolle Gedanken war ich versunken, als ich Anker sagen hörte: »Kvothe sitzt übrigens gleich da drüben.«

Ich hob den Blick und sah eine Frau am Tresen sitzen. Sie war nicht wie eine Studentin gekleidet, sondern trug ein kunstvoll geschneidertes, burgunderrotes Kleid mit langem Rock und schmaler Taille und dazu passende burgunderrote Handschuhe, die ihr bis zu den Ellenbogen reichten. Sie stieg mit bedächtigen Bewegungen von ihrem Hocker und kam an meinen Tisch. Ihr blondes Haar war kunstvoll in Locken gelegt und ihre Lippen tiefrot geschminkt. Unwillkürlich fragte ich mich, was sie an einem Ort wie dem ANKER’S verloren hatte.

»Bist du derjenige, der diesem Flegel Ambrose Jakis einen Arm gebrochen hat?«, fragte sie. Sie sprach Aturisch, mit einem kräftigen und melodischen modeganischen Akzent. Das erschwerte zwar ein klein wenig die Verständigung, aber ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich es nicht attraktiv fand. So ein modeganischer Akzent trieft geradezu vor Sinnlichkeit.

»Ja, der bin ich«, sagte ich. »Es war zwar nicht direkt Absicht, aber ich habe es getan.«

»Dann muss ich dich unbedingt zu einem Gläschen einladen«, sagte sie im Tonfall einer Frau, die generell bekommt, was sie will.

Ich lächelte ihr zu und wäre gern schon länger als zehn Minuten wach gewesen und nicht mehr ganz so benebelt. »Du wärst nicht die Erste, die mich deshalb einlädt«, sagte ich freimütig. »Wenn du darauf bestehst, nehme ich ein Greysdale-Met.«

Ich sah zu, wie sie zum Tresen zurückging. Wenn sie eine Studentin war, war sie neu. Wäre sie schon länger als einige wenige Tage

Die Modeganerin kam wieder, setzte sich mir gegenüber und schob mir einen Holzkrug über den Tisch. Anker musste ihn gerade erst gespült haben, denn wo sie mit ihrem roten Handschuh den Griff berührt hatte, waren ihre Finger feucht.

Sie hob ihr Glas, das mit Rotwein gefüllt war. »Auf Ambrose Jakis!«, sagte sie mit plötzlicher Heftigkeit. »Möge er in einen Brunnenschacht fallen und verrecken.«

Ich nahm meinen Krug und trank einen Schluck und fragte mich, ob es im Umkreis von fünfzig Meilen um die Universität auch nur eine einzige Frau gab, der Ambrose noch nicht übel mitgespielt hatte. Diskret wischte ich mir die Hand an der Hose trocken.

Die Frau trank eine tiefen Schluck Wein und stellte dann unsanft ihr Glas ab. Ihre Pupillen waren geweitet. Trotz der frühen Stunde musste sie schon einiges intus haben.

Mit einem Mal nahm ich Muskat- und Pflaumengeruch wahr. Ich roch an meinem Krug und sah mir dann die Tischplatte an, weil ich dachte, jemand hätte etwas von einem Getränk vergossen. Doch da war nichts.

Die Frau mir gegenüber brach urplötzlich in Tränen aus. Und das war kein dezentes Schluchzen, sondern wirkte, als hätte jemand einen Hahn aufgedreht.

Sie sah auf ihre behandschuhten Hände hinab und schüttelte den Kopf. Dann zog sie sich den feucht gewordenen Handschuh aus, sah mich an und presste ein Dutzend Worte Modeganisch hervor.

»Tut mir leid«, sagte ich hilflos, »aber ich spreche kein –«

Doch da war sie schon aufgesprungen. Sie wischte sich mit der Hand übers Gesicht und lief zum Ausgang.

Anker, der hinterm Tresen stand, und alle anderen im Raum starrten mich an.

»Das ist nicht meine Schuld«, sagte ich und wies in Richtung Tür. »Sie ist ganz von allein plötzlich durchgedreht.«

Ich wäre ihr nachgelaufen und hätte versucht, die Sache aufzuklären, aber sie war bereits draußen, und mein Prüfungsgespräch begann

Das Gute dabei war, dass mir diese sonderbare Begegnung einen klaren Kopf verschafft hatte und ich den Schlafmangel nicht mehr spürte. Also beschloss ich, das zu nutzen und die Prüfung hinter mich zu bringen.

Auf dem Weg zum Hollows kaufte ich mir an einem Karren eine goldbraune Fleischpastete. Mir war klar, dass ich jeden Penny für die Studiengebühren brauchte, aber das Geld für eine halbwegs anständige Mahlzeit machte da auch keinen Unterschied mehr. Die Pastete war schön warm und enthielt Hühnerfleisch, Möhren und Salbei. Ich aß sie im Gehen und genoss die kleine Freiheit, mir etwas nach meinem Geschmack zu leisten, statt mich mit dem zu begnügen, was Anker übrig hatte.

Als ich gerade den letzten Rest Kruste verputzte, roch ich Honigmandeln. Ich kaufte mir eine große Portion in einem Beutel aus getrockneten Maisblättern. Das kostete vier Deut, aber ich hatte seit Jahren keine Honigmandeln mehr gegessen, und ein bisschen zusätzlicher Zucker im Blut konnte mir beim Beantworten der Prüfungsfragen nicht schaden.

Die Schlange der Prüflinge erstreckte sich quer über den Hof. Das war nicht ungewöhnlich, ärgerte mich aber dennoch. Ich entdeckte ein Gesicht, das ich aus dem Handwerkszentrum kannte, und gesellte mich zu der jungen, grünäugigen Frau, die ebenfalls für die Prüfung anstand.

»Hallo«, sagte ich. »Du heißt Amlia, nicht wahr?«

Sie lächelte nervös und nickte.

»Ich bin Kvothe«, sagte ich mit einer angedeuteten Verbeugung.

»Ich weiß, wer du bist«, sagte sie. »Ich habe dich schon im Handwerkszentrum gesehen.«

Ich hielt ihr meinen Beutel hin. »Magst du eine Honigmandel?«

Amlia schüttelte den Kopf.

Sie griff zögernd zu und nahm sich eine.

»Ist das hier die Schlange für zwölf Uhr mittags?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Wir müssen noch ein paar Minuten warten, bis wir uns überhaupt anstellen können.«

»Es ist doch lächerlich, dass sie uns so herumstehen lassen«, sagte ich. »Wie Schafe auf einer Koppel. Das ganze Prozedere ist doch für alle Beteiligten die reine Zeitverschwendung – und noch dazu eine Unverschämtheit.« Ich sah eine gewisse Besorgnis auf Amlias Gesicht. »Was ist denn?«, fragte ich.

»Du redest ein bisschen zu laut«, sagte sie und blickte sich um.

»Ich hab halt bloß keine Angst, das auszusprechen, was alle denken«, erwiderte ich. »Das ganze Prozedere der Zulassungsprüfungen ist absoluter Murks, hochgradiger Schwachsinn. Meister Kilvin weiß, was ich kann. Elxa Dal ebenso. Brandeur könnte mich ohnehin nicht von einem Loch im Boden unterscheiden. Wieso sollte der gleiches Mitspracherecht haben, was meine Studiengebühren angeht?«

Amlia zuckte die Achseln und wich meinem Blick aus.

Ich biss auf eine weitere Mandel und spuckte sie sofort aufs Kopfsteinpflaster. »Bäh!« Ich hielt ihr den Beutel hin. »Schmecken die für dich auch so nach Pflaumen?«

Sie guckte vage angewidert und richtete den Blick dann hinter mich.

Ich drehte mich um und sah Ambrose über den Hof auf uns zukommen. Er machte wie stets eine gute Figur, war in weißes Leinen, Samt und Brokat gekleidet. Er trug einen Hut mit einer großen weißen Feder, und dieser Anblick weckte in mir einen ganz übertriebenen Groll. Wie es sonst gar nicht seine Art war, kam er allein und war nicht von seiner üblichen Entourage aus Speichelleckern umgeben.

»Na wunderbar«, sagte ich, sobald er in Hörweite war. »Ambrose, deine Gegenwart ist gewissermaßen das Sahnehäubchen aus Scheiße auf dem Riesenhaufen Scheiße, den dieses ganze Prüfungsverfahren darstellt.«

»Ich bin vorhin einer Ex von dir begegnet«, sagte ich. »Sie litt an einer schweren seelischen Erschütterung, und ich nehme an, das kommt daher, dass sie dich nackt gesehen hat.«

Da wurde sein Blick dann doch ein wenig säuerlich, und ich beugte mich zu Amlia hinüber und flüsterte ihr weithin hörbar zu: »Ich weiß aus sicherer Quelle, dass Ambrose nicht nur einen absoluten Winzpimmel hat, sondern den auch nur hochkriegt, wenn er entweder einen toten Hund oder ein Gemälde des Herzogs von Gibea oder einen barbrüstigen Galeerentrommler vor sich hat.«

Amlias Gesichtszüge erstarrten.

Ambrose sah sie an. »Du solltest jetzt besser gehen«, sagte er in freundlichem Ton. »So was musst du dir nicht anhören.«

Amlia nahm Reißaus.

»Eins muss ich dir lassen«, sagte ich und sah ihr nach. »Niemand schlägt die Frauen so schnell in die Flucht wie du.« Ich tippte mir an meinen nicht vorhandenen Hut. »Das könntest du unterrichten. Da könntest du Kurse geben.«

Ambrose stand einfach nur da, nickte zufrieden und sah mich auf seltsam besitzergreifende Weise an.

»Mit diesem Hut siehst du aus, als würdest du auf kleine Jungs stehen«, fügte ich hinzu. »Und ich hätte nicht übel Lust, ihn dir vom Kopf zu schlagen, wenn du dich nicht auf der Stelle verpisst.« Ich sah ihn an. »Apropos: Wie geht’s denn dem Arm?«

»Im Moment schon sehr viel besser«, sagte er freundlich und rieb ihn sich gedankenverloren, während er dort stand und lächelte.

Ich warf mir noch eine Honigmandel in den Mund, verzog das Gesicht und spuckte sie wieder aus.

»Was ist denn?«, fragte Ambrose. »Magst du keinen Pflaumengeschmack?« Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er kehrt und ging davon. Und dabei lächelte er.

Es besagt einiges über meine Geistesverfassung, dass ich ihm einfach nur verwirrt nachsah. Ich hob den Beutel unter meine Nase und roch daran. Es roch nach Maisblättern, Honig und Zimt. Nicht

Dann ging mir ein Licht auf. Und im gleichen Moment schlug es zwölf Uhr, und alle, die das gleiche Terminplättchen erhalten hatten wie ich, stellten sich in einer langen, gewundenen Schlange auf dem Hof an. Die Zeit für meine Prüfung war gekommen.

Im Schweinsgalopp verließ ich den Hof.

Ich pochte wie wild an die Tür, außer Atem, nachdem ich ins zweite Obergeschoss des Mews hinaufgerannt war. »Simmon!«, rief ich. »Mach auf! Ich muss mit dir sprechen!«

Auf dem ganzen Flur gingen Türen auf, und Studenten spähten heraus, um zu sehen, was das für ein Lärm war. Einer der Studenten war Simmon. »Kvothe?«, sagte er. »Was machst du da? Das ist doch gar nicht meine Tür.«

Ich lief hinüber, drängte ihn zurück ins Zimmer und schloss die Tür hinter uns. »Simmon! Ambrose hat mich unter irgendwelche Drogen gesetzt! Mit meinem Kopf stimmt irgendwas nicht, aber ich weiß nicht, was es ist!«

Simmon grinste. »Das hab ich mir schon gedacht … Hey, was machst du da? Spuck hier nicht auf den Fußboden!«

»Ich hab so einen seltsamen Geschmack im Mund«, erklärte ich.

»Na und?«, sagte er verärgert und verwirrt. »Was ist los mit dir? Hat dir deine Mutter keine Manieren beigebracht? Bist du in einer Scheune geboren?«

Ich verpasste ihm eine kräftige Ohrfeige, die ihn an die Wand warf. »Ja, ich bin tatsächlich in einer Scheune geboren«, sagte ich grimmig. »Passt dir daran was nicht?«

Sim stand da, stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und hielt sich mit der anderen die gerötete Wange. Sein Blick war ein Bild des Erstaunens. »Um Gottes willen, was hast du denn?«

»Ich habe gar nichts«, erwiderte ich. »Aber du solltest mal besser aufpassen, was für einen Ton du mir gegenüber anschlägst. Ich mag dich, aber dass ich keine reichen Eltern habe, bedeutet nicht, dass du

Mit einem Mal guckte Sim, als hätte er etwas kapiert. »Dieser seltsame Geschmack in deinem Mund«, sagte er. »Ist das Pflaumenaroma und irgendwelche Gewürze?«

Ich nickte. »Es ist abscheulich.«

»Bei Gottes grauer Asche«, stieß Sim in bitterem Ernst hervor. »Also gut. Du hast recht. Du wurdest unter Drogen gesetzt. Ich weiß, was es ist.« Er verstummte, als ich kehrt machte und die Tür öffnete. »Was machst du?«

»Jetzt bringe ich Ambrose um«, sagte ich. »Weil er mich vergiftet hat.«

»Das ist kein Gift. Es ist –« Er hielt inne und fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Wo hast du denn das Messer her?«

»Das trage ich immer am Bein festgeschnallt, unter der Hose«, sagte ich. »Für Notfälle.«

Sim atmete tief durch. »Gibst du mir bitte kurz die Gelegenheit, das zu erklären, bevor du losläufst und Ambrose umbringst?«

Ich zuckte die Achseln. »Also gut.«

»Würde es dir etwas ausmachen, dich hinzusetzen, während wir uns unterhalten?« Er zeigte auf einen Stuhl.

Ich seufzte und setzte mich. »Aber mach schnell. Meine Prüfung fängt bald an.«

Sim nickte ganz ruhig und ließ sich mir gegenüber auf der Bettkante nieder. »Kennst du das: Wenn jemand betrunken ist und sich in den Kopf setzt, irgendeinen Blödsinn anzustellen? Und man kann es ihm einfach nicht ausreden, obwohl es ganz offensichtlich eine schlechte Idee ist?«

Ich lachte. »Wie damals, als du vor dem EOLIAN diese Harfenistin anquatschen wolltest und stattdessen ihr Pferd vollgekotzt hast?«

Er nickte. »Ja, genau. Es gibt etwas, das Alchemisten herstellen können und das die gleiche Wirkung hat, bloß viel extremer.«

Ich schüttelte den Kopf. »Aber ich fühle mich überhaupt nicht betrunken. Mein Kopf ist ganz klar.«

Sim nickte erneut. »Es fühlt sich auch nicht so an, als ob man betrunken

Ich überlegte kurz. »Ich glaube nicht, dass es das ist«, sagte ich. »Mir ist überhaupt nicht danach, Dummheiten zu begehen.«

»Es gibt eine Möglichkeit, das festzustellen«, sagte Sim. »Kannst du jetzt im Moment an etwas denken, das dir als schlechte Idee erscheint?«

Ich grübelte und tippte mir dabei mit der flachen Messerklinge an den Stiefel.

»Es wäre eine schlechte Idee, wenn ich …« Ich verstummte und grübelte weiter. Sim sah mich erwartungsvoll an.

»… jetzt vom Dach springen würde?«, sagte ich so, dass es wie eine Frage klang.

Sim sagte nichts darauf und sah mich weiter an.

»Ich glaube, ich sehe das Problem«, sagte ich. »Ich scheine überhaupt keine Hemmungen mehr zu haben.«

Sim lächelte erleichtert und nickte mir ermutigend zu. »Genau das ist es. Alle deine Hemmungen sind so säuberlich entfernt worden, dass du erst gar nicht merkst, dass sie weg sind. Alles andere bleibt dabei unverändert. Du bist nüchtern, redegewandt und vernünftig.«

»Du schlägst schon wieder so einen herablassenden Ton an«, sagte ich und richtete das Messer auf ihn. »Tu’s nicht.«

Er blinzelte. »Ist ja gut. Fällt dir eine Lösung für dieses Problem ein?«

»Natürlich. Ich brauche eine Art moralischen Prüfstein. Du musst mein moralischer Kompass sein, denn deine Hemmungen sind ja noch intakt.«

»Das wollte ich dir auch gerade vorschlagen«, sagte er. »Also vertraust du mir?«

Ich nickte. »Außer wenn es um Frauen geht. Was Frauen angeht, bis du ein Vollidiot.« Ich nahm mir ein Glas Wasser von einem Tisch, spülte mir damit den Mund aus und spuckte es auf den Boden.

Sim lächelte zweifelnd. »Also gut. Erstens: Du darfst Ambrose nicht umbringen.«

»Ja, ich bin sicher. So ziemlich alles, was du mit diesem Messer tun könntest, wäre eine schlechte Idee. Du solltest es mir geben.«

Ich zuckte die Achseln und reichte es ihm, mit dem Ledergriff voran.

Sim wirkte erstaunt, ergriff aber das Messer. »Grundgütiger Tehlu«, sagte er mit tiefem Seufzer und legte das Messer aufs Bett. »Danke.«

»War das ein Extremfall?«, fragte ich und spülte mir noch einmal den Mund aus. »Wir sollten wahrscheinlich so eine Art Rangliste einführen. Von eins bis zehn.«

»Wasser auf meinen Boden spucken ist eine Eins«, erwiderte er.

»Oh«, sagte ich. »Tschuldigung.« Ich stellte das Glas auf seinen Tisch zurück.

»Macht nichts«, sagte er leichthin.

»Ist Eins hoch oder niedrig?«, fragte ich.

»Niedrig«, sagte er. »Ambrose umzubringen wäre eine Zehn.« Er zögerte. »Na ja, vielleicht auch nur eine Acht.« Er rutschte ein wenig hin und her. »Oder eine Sieben.«

»Echt?«, sagte ich. »So hoch? Also gut, dann nicht.« Ich beugte mich auf meinem Sitz vor. »Du musst mir ein paar Tipps für die Prüfung geben. Ich muss mich jetzt gleich wieder anstellen.«

Simmon schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein. Das wäre eine ganz schlechte Idee. Eine Acht.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich«, sagte er. »Das ist eine sehr heikle gesellschaftliche Situation. Da kann viel schiefgehen.«

»Aber wenn ich –«

Sim seufzte und strich sich das rotblonde Haar aus den Augen. »Bin ich nun dein Prüfstein oder nicht? Das wird sehr mühsam, wenn ich dir alles dreimal sagen muss, bis du mal auf mich hörst.«

Ich überlegte kurz. »Du hast recht. Zumal, wenn ich kurz davor stehe, etwas zu tun, das möglicherweise gefährlich wäre.« Ich sah mich um. »Wie lange wird das andauern?«

»Höchstens acht Stunden.« Er öffnete den Mund, um fortzufahren, und schloss ihn gleich wieder.

»Was?«, fragte ich.

»Darüber kann ich mir später Sorgen machen«, sagte ich und streckte eine Hand aus. »Gib mir dein Terminplättchen. Du kannst jetzt zur Prüfung gehen. Ich nehme dann deinen Termin.«

Er breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus. »Ich war doch schon zur Prüfung«, sagte er.

»Tehlus Krätze und Gekröse!«, fluchte ich. »Also gut. Hol Fela her.«

Er winkte mit beiden Händen ab. »Nein. Nein, nein, nein. Das wäre eine Zehn.«

Ich lachte. »Nicht deswegen. Sie hat einen späten Termin am Cendling.«

»Und du meinst, sie tauscht mit dir?«

»Sie hat es mir schon angeboten.«

Sim stand auf. »Ich geh sie suchen.«

»Und ich bleibe hier«, sagte ich.

Sim nickte und sah sich nervös im Zimmer um. »Es wäre wahrscheinlich am besten, wenn du gar nichts tun würdest, während ich weg bin«, sagte er und öffnete die Tür. »Einfach nur auf den Händen dasitzen und nichts tun, bis ich wiederkomme.«

Sim blieb nur fünf Minuten fort, und das war wahrscheinlich gut so.

Es klopfte an der Tür. »Ich bin’s!«, drang Sims Stimme herein. »Ist alles in Ordnung da drin?«

»Weißt du, was seltsam ist?«, sagte ich durch die Tür hindurch. »Ich habe überlegt, was ich in deiner Abwesenheit Witziges anstellen könnte, aber mir ist nichts eingefallen.« Ich blickte mich im Zimmer um. »Ich glaube, das bedeutet, dass Humor auf gesellschaftlicher Grenzüberschreitung beruht. Ich kann aber keine Grenzen mehr überschreiten, weil mir nicht klar ist, was gesellschaftlich unzulässig wäre. Mir erscheint irgendwie alles zulässig.«

»Nein«, sagte ich. »Ich war ganz brav. Hast du Fela gefunden?«

»Ja. Sie ist hier. Aber bevor wir reinkommen, musst du versprechen, dass du nichts tust, ohne mich vorher zu fragen. Abgemacht?«

Ich lachte. »Abgemacht. Aber bring mich nicht dazu, vor ihren Augen irgendwelchen Blödsinn zu tun.«

»Versprochen«, sagte Sim. »Setz dich bitte hin. Nur für alle Fälle.«

»Ich sitze bereits«, sagte ich.

Sim öffnete die Tür. Ich sah Fela über seine Schulter spähen.

»Hallo, Fela«, sagte ich. »Ich muss mit dir den Termin tauschen.«

»Erst mal«, sagte Sim, »ziehst du dein Hemd wieder an. Das ist eine Zwei.«

»Oh«, sagte ich. »Tschuldige. Mir war so warm.«

»Du hättest das Fenster aufmachen können.«

»Ich hielt es für sicherer, meine Interaktionen mit äußeren Gegenständen strikt einzuschränken«, sagte ich.

Sim hob eine Augenbraue. »Das ist eine ausgezeichnete Idee. Sie hat dich nur in diesem Fall in eine leicht falsche Richtung gelenkt.«

»Wow«, hörte ich Felas Stimme draußen auf dem Flur. »Ist das sein Ernst?«

»Absolut«, sagte Sim. »Und ehrlich gesagt, glaube ich, dass es jetzt zu gefährlich für dich wäre, da reinzugehen.«

Ich zog mir das Hemd wieder an. »Angezogen!«, sagte ich. »Ich setze mich auch gern auf meine Hände, wenn dir das lieber ist.« Ich tat es, schob sie mir unter die Oberschenkel.

Sim ließ Fela herein und schloss hinter ihr die Tür.

»Fela, du bist einfach hinreißend«, sagte ich. »Ich würde dir alles Geld, das ich in meinem Beutel habe, dafür geben, wenn ich dich nur zwei Minuten nackt ansehen dürfte. Ich würde alles, was ich besitze, dafür geben. Nur nicht meine Laute.«

Schwer zu sagen, wer von den beiden röter wurde. Ich glaube, Sim.

»Das hätte ich nicht sagen sollen, nicht wahr?«

»Nein«, sagte Sim. »Das ist eine Fünf.«

»Aber das ergibt doch keinen Sinn«, sagte ich. »Frauen sind auf

Sim nickte. »Ja, das stimmt. Aber dennoch: Sitz einfach einen Moment lang nur da, ohne irgendwas zu sagen oder zu tun, ja?«

Ich nickte.

»Ich kann das kaum glauben«, sagte Fela, und die Röte wich ihr aus den Wangen. »Ich habe den Verdacht, dass ihr mir einen ausgeklügelten Streich spielt.«

»Schön wär’s«, sagte Simmon. »Aber dieses Zeug ist wirklich äußerst gefährlich.«

»Wie kann es sein, dass er sich an Aktgemälde erinnert, aber nicht daran, dass es sich gehört, in der Öffentlichkeit sein Hemd anzubehalten?«, fragte sie Sim, ohne mich aus den Augen zu lassen.

»Es erschien mir einfach nicht wichtig«, sagte ich. »Ich habe mein Hemd auch ausgezogen, als ich ausgepeitscht wurde, und das war in der Öffentlichkeit. Es erscheint mir seltsam, dass man deshalb Ärger kriegen sollte.«

»Weißt du, was passieren würde, wenn du versuchen würdest, Ambrose niederzustechen?«, fragte Simmon.

Ich überlegte. Es war, als wollte man sich daran erinnern, was man einen Monat zuvor zum Frühstück gegessen hatte. »Es würde wahrscheinlich zu einem Gerichtsverfahren kommen, nehme ich mal an«, sagte ich langsam. »Und alle möglichen Leute würden mir was zu trinken spendieren.«

Fela hätte fast losgelacht und hielt sich schnell eine Hand vor den Mund.

»Oder nehmen wir mal folgende Frage«, sagte Simmon zu mir. »Was ist schlimmer: Ein Stück Kuchen zu klauen oder Ambrose umzubringen?«

Ich dachte einen ganzen Moment lang gründlich darüber nach. »Sandkuchen oder Obstkuchen?«

»Wow«, sagte Fela atemlos. »Das …« Sie schüttelte den Kopf. »Da läuft’s einem ja kalt den Rücken runter.«

Simmon nickte. »Es ist ein beängstigendes Werk der Alchemie, eine Variante eines Sedativums, das man Pflaumenschlag nennt. Man muss es nicht mal schlucken. Es dringt einfach so durch die Haut.«

Sim lächelte matt. »Mandrag hält in jedem Alchemie-Seminar, das er gibt, einen Vortrag darüber. Ich habe die Geschichte mittlerweile bestimmt schon ein Dutzend Mal gehört. Es ist sein Lieblingsbeispiel dafür, wie sich die Alchemie missbrauchen lässt. Ein Alchemist hat es mal vor gut fünfzig Jahren dazu genutzt, das Leben einiger aturischer Regierungsbeamter zu ruinieren. Es wurde nur aufgedeckt, weil eine Gräfin bei einer Hochzeitsfeier Amok lief, ein Dutzend Menschen umbrachte und –«

Sim hielt inne und schüttelte den Kopf. »Es war jedenfalls eine schlimme Sache. So schlimm, dass die Geliebte des Alchemisten ihn an die Polizei verraten hat.«

»Ich hoffe, er hat seine gerechte Strafe erhalten.«

»Durchaus«, sagte Sim grimmig. »Aber wichtig ist, dass es bei jedem Menschen ein wenig anders wirkt. Es senkt nicht einfach nur die Hemmschwelle. Es verstärkt auch die Emotionen. Es setzt verborgene Sehnsüchte frei und verursacht ein seltsam selektives Gedächtnis, fast wie eine Art moralische Amnesie.«

»Ich fühle mich aber ganz und gar nicht schlecht«, sagte ich. »Ja, mir geht’s sogar richtig gut. Ich mach mir bloß Sorgen wegen der Prüfung.«

Sim wies in meine Richtung. »Siehst du? An die Prüfung erinnert er sich. Die ist ihm wichtig. Andere Dinge aber … sind wie ausgelöscht.«

»Ist das nicht heilbar?«, fragte Fela nervös. »Sollten wir ihn nicht in die Mediho bringen?«

Simmon wirkte nun ebenfalls nervös. »Nein, ich glaube nicht. Die würden es wahrscheinlich mit einem Purgativum versuchen, aber es ist ja nicht so, dass er eine Droge intus hätte, die nun ihre Wirkung entfaltet. Nach diesem Schema funktioniert Alchemie nicht. Er steht unter dem Einfluss ungebundener Prinzipien. Das kann man nicht aus jemandem herausspülen, so wie man es bei Quecksilber oder Ophalum versuchen würde.«

»Purgativum klingt nicht sonderlich spaßig«, sagte ich. »Falls meine Meinung hier auch noch irgendwie zählt.«

»Außerdem bestünde die Möglichkeit, dass sie annehmen, er

Ich sprang auf und ballte die Fäuste. »Lieber lass ich mich in der Hölle in Stücke hacken, als dass sie mich ins Refugium kriegen«, sagte ich wütend. »Nicht mal für eine Stunde. Nicht mal für eine Minute.«

Sim erbleichte, wich einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände. Seine Stimme aber blieb fest und ruhig. »Kvothe, ich befehle dir: Hör auf.«

Ich hielt inne. Fela sah mich verängstigt an.

Simmon fuhr mit Entschlossenheit fort: »Kvothe, ich befehle dir: Setz dich.«

Ich setzte mich.

Fela, die hinter ihm stand, sah Simmon erstaunt an.

»Danke«, sagte Simmon freundlich und ließ die Hände wieder sinken. »Ich stimme dem zu. Die Mediho ist jetzt nicht der richtige Ort für dich. Wir können das auch hier überstehen.«

»Das klingt doch schon viel besser«, sagte ich.

»Selbst wenn in der Mediho alles glatt laufen sollte«, fügte Simmon hinzu, »wärst du doch mehr als üblich geneigt, dich ungezügelt auszusprechen.« Er lächelte ein wenig schief. »Geheimnisse sind die Grundsteine der menschlichen Zivilisation, und ich weiß, dass du ein paar Geheimnisse mehr hast als die meisten anderen Leute.«

»Ich glaube nicht, dass ich irgendwelche Geheimnisse habe«, sagte ich.

Sim und Fela lachten gleichzeitig los. »Ich fürchte, du hast gerade bewiesen, dass seine Diagnose stimmt«, sagte Fela. »Ich weiß, dass du wenigstens ein paar Geheimnisse hast.«

»Ich auch«, sagte Sim.

»Du bist mein Prüfstein«, sagte ich mit einem Achselzucken. Dann lächelte ich Fela zu und zog meinen Geldbeutel hervor.

Sim schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein. Das habe ich dir doch schon gesagt. Sie nackt zu sehen wäre jetzt das Schlimmste überhaupt.«

»Was ist denn?«, fragte ich. »Befürchtest du, dass ich über sie herfalle?« Ich lachte.

Sim sah mich an. »Würdest du das nicht tun?«

»Natürlich nicht«, sagte ich.

Er sah zu Fela hinüber, dann wieder zu mir. »Könntest du sagen, wieso nicht?«, fragte er neugierig.

Ich überlegte. »Weil …« Ich verstummte und schüttelte den Kopf. »Weil … ich es einfach nicht könnte. Ich weiß, dass ich keine Steine essen kann. Und ich weiß, dass ich nicht durch Wände gehen kann. Und so ist es auch damit.«

Ich konzentrierte mich noch einmal auf die Frage, und mir wurde schwindelig. Ich hielt mir eine Hand vor die Augen und versuchte, dieses plötzliche Schwindelgefühl nicht zu beachten. »Sag mir bitte, dass ich recht damit habe«, bat ich, mit einem Mal ängstlich. »Ich kann keine Steine essen, nicht wahr?«

»Ja, du hast recht damit«, sagte Fela. »Das kannst du nicht.«

Ich hörte auf, in meinem Hirn nach Antworten zu kramen, und schlagartig ließ das Schwindelgefühl nach.

Sim beobachtete mich aufmerksam. »Wenn ich bloß wüsste, was das jetzt zu bedeuten hatte«, sagte er.

»Ich glaube, ich weiß es«, sagte Fela sehr leise.

Ich zog das Terminplättchen aus Elfenbein aus meinem Geldbeutel. »Ich wollte nur tauschen«, sagte ich. »Es sei denn, du wärst bereit, dich mir nackt zu zeigen.« Ich wog meinen Geldbeutel in der anderen Hand und sah Fela in die Augen. »Sim sagt, das wäre schlimm, aber er ist, was Frauen angeht, ein absoluter Vollidiot. Ich mag ja im Augenblick nicht ganz richtig im Kopf sein, aber das weiß ich noch genau.«

Es dauerte vier Stunden, bis meine Hemmungen allmählich wiederkehrten, und dann noch einmal zwei Stunden, bis der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt war. Simmon blieb den ganzen Tag lang bei mir, bewies eine Engelsgeduld und sagte ständig Sachen wie: Nein, du solltest jetzt nicht eine Flasche Schnaps für uns kaufen gehen.

Bei Sonnenuntergang war ich schließlich wieder ein halbwegs moralisch intakter Mensch. Simmon befragte mich ausführlich, ehe er mich zurück auf mein Zimmer im ANKER’S brachte. Dort ließ er mich bei der Milch meiner Mutter schwören, dass ich den Raum nicht vor dem Morgen verlassen würde. Und ich schwor es.

Doch alles war noch nicht wieder in Ordnung mit mir. Meine Emotionen kochten immer noch bei der kleinsten Kleinigkeit hoch. Und was noch schlimmer war: Mein Gedächtnis war nicht einfach nur zu seinem Normalzustand zurückgekehrt, sondern arbeitete auf einmal vollkommen unkontrolliert und auf Hochtouren.

Solange ich bei Simmon gewesen war, war das noch nicht so ins Gewicht gefallen. Er hatte mich auf angenehme Weise abgelenkt. Doch ganz allein in meiner Dachkammer im ANKER’S war ich meinem Gedächtnis auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Es war, als wäre mein Geist wild entschlossen, alles, was ich an Schmerzlichem je gesehen hatte, wieder hervorzuholen und mir vor Augen zu führen.

Man sollte ja glauben, dass meine schlimmsten Erinnerungen die an die Ermordung meiner Truppe waren. Wie ich damals ins Lager zurückkam und dort alles in Flammen stand. Die widernatürlichen Gestalten, welche die toten Körper meiner Eltern im Zwielicht abgaben. Der Gestank von angesengter Zeltleinwand, Blut und verbranntem Haar. Die Erinnerungen an diejenigen, die sie ermordet hatten. An die Chandrian. An den Mann, der zu mir sprach und dabei die ganze Zeit grinste. Die Erinnerungen an Cinder.

Das waren tatsächlich schlimme Erinnerungen, aber ich hatte sie im Laufe der Jahre so oft hervorgeholt und von allen Seiten betrachtet, dass sie ihre brennende Schärfe fast verloren hatten. Ich erinnerte mich an den Klang von Haliax’ Stimme so klar und deutlich wie an den Klang der Stimme meines Vaters. Cinders Gesicht vermochte ich mit Leichtigkeit vor meinem geistigen Auge erstehen zu lassen. Sein makelloses, grinsendes Gebiss. Sein weißes, lockiges Haar. Seine Augen, schwarz wie Tintentropfen. Seine Stimme, voller Die Eltern von irgendwem haben die falschen Lieder gesungen.

Man sollte glauben, dass dies meine schlimmsten Erinnerungen waren. Doch da würde man sich irren.

Nein: Die schlimmsten Erinnerungen waren die aus meiner frühen Kindheit. Das gemächliche Dahinzockeln, wenn ich im Wagen mitfuhr und mein Vater die Zügel locker ließ. Seine starken Hände auf meinen Schultern, als er mir zeigte, wie ich auf der Bühne zu stehen hatte, damit mein Körper stolz, traurig oder schüchtern aussagte. Seine Finger, die meine auf den Saiten seiner Laute zurechtrückten.

Meine Mutter, wie sie mir durchs Haar strich. Das Gefühl, wie sie mich in den Armen hielt. Wie perfekt mein Kopf in ihre Halsbeuge passte. Wie ich abends zusammengerollt auf ihrem Schoß am Lagerfeuer saß, schläfrig, glücklich und geborgen.

Das waren die schlimmsten Erinnerungen. Sie waren kostbar und rein. Und sie waren so scharf wie ein Mund voll Glassplitter. Ich lag im Bett, bebend und verkrampft, konnte nicht einschlafen, konnte an nichts anderes denken, konnte nicht aufhören, mich daran zu erinnern. Und es nahm einfach kein Ende.

Dann klopfte es ganz leise an mein Fenster – so leise, dass ich es erst bemerkte, als es wieder aufhörte. Dann hörte ich, wie das Fenster geöffnet wurde.

»Kvothe?«, fragte Auri leise.

Ich biss die Zähne zusammen, um mein Schluchzen zu unterdrücken, und lag so reglos da, wie ich nur konnte, in der Hoffnung, dass sie annahm, ich schliefe, und wieder verschwand.

»Kvothe?«, sagte sie noch einmal. »Ich hab dir –« Sie verstummte, und nach kurzem Schweigen sagte sie: »Oh.«

Ich hörte ein leises Geräusch hinter mir. Der Mondschein warf ihren schmalen Schatten auf die Wand, während sie durchs Fenster stieg. Ich spürte, wie sich das Bett bewegte, als sie sich darauf niederließ.

Eine kleine, kühle Hand strich mir über die Wange.

»Ist ja gut«, sagte sie leise. »Komm her.«

Ich hielt die Tränen nicht mehr zurück, und sie nahm meinen

»Ich weiß«, sagte sie mit trauriger Stimme. »Manchmal ist es schlimm, nicht wahr?«

Sie streichelte mir das Haar, und da weinte ich nur noch heftiger. Ich konnte mich nicht erinnern, wann mich jemand das letzte Mal liebevoll berührt hatte.

»Ich weiß«, sagte sie. »Du hast einen Stein im Herzen, und an manchen Tagen ist er so schwer, dass man es kaum ertragen kann. Aber deshalb musst du nicht alleine sein. Du hättest zu mir kommen sollen. Ich verstehe das.«

Mein ganzer Körper krampfte sich zusammen, und mit einem Mal hatte ich wieder diesen Pflaumengeschmack im Mund. »Sie fehlt mir«, sagte ich, bevor mir klar wurde, dass ich überhaupt etwas sagte. Dann biss ich die Zähne zusammen, bevor ich noch etwas sagen konnte. Ich schüttelte heftig den Kopf, wie ein Pferd, das sich gegen seine Zügel sträubt.

»Du kannst es ruhig sagen«, sagte Auri ganz sanft.

Ich schüttelte erneut den Kopf, schmeckte wieder Pflaumenaroma, und mit einem Mal strömten die Worte nur so aus mir heraus. »Sie hat gesagt, ich habe schon gesungen, bevor ich sprechen konnte. Sie hat gesagt, als ich noch ein Säugling war, hat sie mir immer etwas vorgesummt, wenn sie mich auf dem Arm hielt. Kein richtiges Lied, nur eine absteigende Terz. Einfach nur, um mich zu beruhigen. Und dann, eines Tages, ging sie mit mir im Lager umher, und da hörte sie, wie ich es wiederholte. Zwei Oktaven höher. Eine kleine, piepsende Terz. Sie hat gesagt, das war mein erstes Lied. Wir haben es einander immer wieder vorgesungen. Jahrelang.« Ich bekam kein weiteres Wort mehr heraus und biss die Zähne zusammen.

»Du kannst es ruhig sagen«, sagte Auri sanft.

»Ich werde sie nie wiedersehen«, presste ich hervor. Und dann brach ich richtig in Tränen aus.

»Ist ja gut«, sagte Auri leise. »Ich bin ja da. Du bist in Sicherheit.«

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