Kapitel 43 Ohne ein Wort

Ich sah aus einem Schankraumfenster des ANKER’S zu, wie es schneite, und drehte dabei Dennas Ring in der Hand hin und her. Der Winter hatte die Universität mittlerweile fest im Griff, und Denna war seit über einem Monat fort. Mir blieben noch drei Stunden bis zu meinem Seminar bei Elodin, und ich überlegte, ob die geringe Chance, sie zu finden, den langen Marsch durch die Kälte nach Imre wert war.

Und während ich dort am Fenster stand, kam ein Kealde zur Tür herein, trat sich den Pulverschnee von den Stiefeln und blickte sich neugierig um. Da es noch recht früh am Tag war, war ich der einzige Anwesende.

Er kam zu mir, und die Schneeflocken auf seinem Bart schmolzen zu Wassertropfen. »Entschuldigung, ich suche jemanden«, sagte er, und ich war überrascht, dass er ganz ohne kealdischen Akzent sprach. Er griff in seinen langen Mantel und zog einen dicken Briefumschlag hervor, auf dem ein blutrotes Siegel prangte. »Kvo-the«, las er langsam und hielt mir den Umschlag entgegen, so dass ich die Anschrift lesen konnte.

Kvothe – Gasthaus ANKER’S.

Universität. (Zwei Meilen westlich von Imre.)

Belenay-Barren

Zentrales Commonwealth

Es war Dennas Handschrift. »Das spricht sich Kvoth aus«, sagte ich. »Das ›e‹ ist stumm.«

»Ja«, sagte ich.

Er nickte zufrieden. »Also, ich hab diesen Brief vor ungefähr einer Spanne unten in Tarbean übernommen. Hab ihn für einen harten Penny jemandem abgekauft. Der hat behauptet, er hätte ihn in Junpui einem Seemann abgekauft – für einen vintischen Silber-Bit. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie die Stadt hieß, wo der Seemann ihn herhatte, aber es war irgendwo im Landesinnern.«

Der Mann sah mir in die Augen. »Ich erzähle Euch das, damit Ihr nicht glaubt, ich wollte Euch begaunern. Ich habe einen ganzen harten Penny dafür bezahlt und bin von Imre hierher gekommen, obwohl das ein Umweg für mich ist.« Er sah sich im Schankraum um. »Aber ich denke mal, ein Mann, der ein so schönes Wirtshaus besitzt, wird sich nicht darüber streiten, einem Boten zu geben, was er ihm schuldig ist.«

Ich lachte. »Das ist nicht mein Wirtshaus«, sagte ich. »Ich habe hier nur ein Zimmer.«

»Oh«, sagte er, offensichtlich ein wenig enttäuscht. »Ihr standet gerade da, als würde Euch der ganze Laden gehören. Aber sei’s drum: Ihr versteht sicher, dass ich meine Unkosten wieder reinkriegen muss.«

»Ja, das verstehe ich«, sagte ich. »Wie viel haltet Ihr denn für angemessen?«

Er musterte mich und meine Kleidung. »Ich denke mal, ich wäre zufrieden, wenn ich meinen harten Penny wieder reinkriegen würde, und einen weichen Penny dazu.«

Ich zückte meinen Geldbeutel und suchte darin herum. Glücklicherweise hatte ich einige Tage zuvor beim Kartenspielen etwas aturisches Geld gewonnen. »Einverstanden«, sagte ich und gab ihm die Münzen.

Er schickte sich an aufzubrechen, kam dann aber doch noch einmal zurück. »Nur so aus Neugier«, sagte er. »Hättet Ihr dafür auch zwei harte Penny gezahlt?«

»Wahrscheinlich schon«, erwiderte ich.

»Kist!«, fluchte er, verließ das Lokal und knallte die Tür hinter sich zu.

In dem Brief stand:

Lieber Kvothe,

es tut mir leid, dass ich ohne ein Wort aus Imre abgereist bin. Ich habe Dir am Abend meiner Abreise einen Brief geschickt, aber ich nehme an, dass Du ihn nie bekommen hast.

Ich bin außer Landes gereist, um mich nach besseren Möglichkeiten umzusehen. Ich mag Imre und schätze Deine gelegentliche Gesellschaft sehr, aber es ist doch recht kostspielig, dort zu leben, und meine Aussichten waren in letzter Zeit sehr mager.

Yll ist wunderschön, sanfte Hügel, wohin man sieht. Das Wetter ist ganz nach meinem Geschmack: Es ist wärmer hier, und außerdem riecht man das Meer. Vielleicht kann ich hier einmal einen ganzen Winter verbringen, ohne dass mich meine Lunge aufs Krankenlager wirft. Das wäre das erste Mal seit vielen Jahren.

Ich habe einige Zeit in den kleinen Königreichen verbracht und auch ein Gefecht zwischen zwei berittenen Truppen mit angesehen. Ein solches Geschepper und Pferdegeschrei hast du noch nicht gehört. Ich habe auch einige Zeit auf See verbracht und alle möglichen Seemannsknoten gelernt und wie man richtig spuckt. Meinen Schimpfwortschatz habe ich auch sehr erweitert.

Wenn Du mich nett bittest, werde ich Dir bei unserem nächsten Treffen meine neu erworbenen Fertigkeiten gerne vorführen.

Außerdem habe ich auch meine erste Adem-Söldnerin gesehen. (Man nennt diese Leute hier »Bluthemden«.) Sie ist kaum größer als ich und hat unglaubliche graue Augen. Sie ist hübsch, aber fremdartig und schweigsam und immer irgendwie am Zucken. Ich habe sie noch nicht kämpfen sehen und weiß auch nicht, ob ich das wirklich sehen will. Aber neugierig bin ich schon.

Von der Harfe bin ich immer noch überaus angetan. Gegenwärtig wohne ich bei einem sehr begabten Mann (sein Name tut nichts zur Sache), um mein Harfenspiel zu verfollkommnen.

Ich habe ein bisschen Wein getrunken, während ich Dir diesen Brief schrieb. Ich erwähne das nur, um die obige Flaschreibung von »vervollkommnen« zu entschuldigen. Falschschreibung. Kist. Du weißt schon, was ich meine.

Entschuldige bitte, dass ich Dir nicht schon früher geschrieben habe, aber ich bin viel umhergereist und habe erst jetzt die Möglichkeit, einen richtigen Brief zu schreiben. Und nachdem ich das nun getan habe, könnte es noch eine Weile dauern, bis ich einen Reisenden finde, der mir vertrauenswürdig genug erscheint, um dieses Schreiben mit seiner Hilfe auf den langen Weg zu Dir zu schicken.

Ich denke oft und gern an Dich.

Deine

D.

PS: Ich hoffe, der Lautenkasten leistet Dir gute Dienste.

Elodins Seminar begann an diesem Tag sehr seltsam.

Zum einen kam er tatsächlich pünktlich. Darauf waren wir nicht gefasst. Wir verbliebenen sechs Studenten hatten uns angewöhnt, die ersten zwanzig, dreißig Minuten der Veranstaltung damit zu verbringen, zu tratschen, Karten zu spielen und darüber zu meckern, wie wenig wir dort lernten. Wir bemerkten den Meister der Namenskunde erst, als er schon halb die Treppe des Hörsaals heruntergeschritten war und in die Hände klatschte, um unsere Aufmerksamkeit zu erlangen.

Der zweite seltsame Umstand war, dass Elodin seine Amtstracht trug. Ich hatte ihn zwar schon früher darin gesehen, wenn es der Anlass verlangte, doch er legte sie stets nur widerwillig an. Sogar bei den Zulassungsprüfungen wirkte sein Gewand meist zerknittert und ungepflegt.

An diesem Tag jedoch trug er es, als sei es ihm ernst damit. Und es sah aus wie frisch gewaschen. Auch sein Haar war nicht, wie sonst üblich, zerzaust, sondern wirkte frisch geschnitten und gekämmt.

Vorn im Saal angelangt, erklomm er das Podium und trat ans

»Vor langer Zeit«, sagte er ohne jede Vorrede, »war das hier ein Ort, an den die Menschen kamen, um Geheimnisse zu erfahren. Männer und Frauen kamen an die Universität, um das Wesen der Welt zu studieren.«

Er sah uns an. »An der damaligen Universität war keine Kunst so gefragt wie die Namenskunde. Alles andere erschien dagegen banal. Die Namenskundler schritten wie Halbgötter durch die Straßen dieses Orts. Sie vollbrachten schreckliche und wunderbare Dinge, und alle anderen neideten es ihnen.

Nur wenn sie gut in Namenskunde waren, konnten Studenten zu höheren Rängen aufsteigen. Ein Alchemist, der keine Ahnung von Namenskunde hatte, wurde als bedauernswerter Tropf angesehen und genoss nicht mehr Respekt als ein einfacher Koch. Die Sympathie wurde zwar hier vor Ort erfunden, aber ein Sympathiker, der sich nicht auch auf Namenskunde verstand, hätte genauso gut auch ein Droschkenkutscher sein können. Und ein Handwerkskünstler der Magie galt, wenn er nicht auch die Namenskunde beherrschte, wenig mehr als ein Schuster oder Schmied.

Sie alle kamen, um die Namen der Dinge zu erlernen«, sagte Elodin, und seine dunklen Augen blickten uns eindringlich an, und seine volltönende Stimme wühlte uns auf. »Aber die Namenskunde lässt sich nun einmal nicht lehren, indem man Regeln pauken lässt oder etwas zum Auswendiglernen aufgibt. Jemandem beizubringen, ein Namenskundler zu sein, ist, als wollte man ihm beibringen, sich zu verlieben. Es ist nicht zu machen. Es ist aussichtslos.«

Da lächelte der Meister der Namenskunde ein wenig, und zum ersten Mal sah er wieder so aus, wie wir ihn kannten. »Aber dennoch versuchten Studenten, es zu lernen. Und Professoren versuchten, es ihnen beizubringen. Und manchmal gelang es ihnen sogar.«

»Fela!«, sagte Eldodin, zeigte auf sie und winkte sie herbei. »Komm.«

Fela erhob sich von ihrem Platz und betrat sichtlich nervös das Podium.

»Ihr alle habt euch einen Namen ausgesucht, den ihr zu erlernen

Ich kämpfte gegen den Drang an, betreten den Blick abzuwenden, denn mir war bewusst, dass meine Anstrengungen bestenfalls halbherzig gewesen waren.

»Doch was euch nicht gelungen ist, hat Fela vollbracht«, sagte Elodin. »Sie hat den Namen des Steins gefunden …« Er sah zu ihr hinüber. »Wie oft?«

»Acht Mal«, erwiderte sie, den Blick zu Boden gewandt, und rang nervös die Hände.

Ehrfurchtsvolles Gemurmel. Das hatte sie uns gegenüber bei all unserem Gemecker nie erwähnt.

Elodin nickte, als billigte er unsere Reaktion. »Als Namenskunde noch unterrichtet wurde, trugen wir Namenskundler unser Können mit Stolz. Ein Student, der die Herrschaft über einen Namen erlangt hatte, trug einen Ring, als Zeichen seiner besonderen Fähigkeit.« Elodin streckte vor Fela eine geschlossene Hand aus und öffnete sie. Darin lag ein großer, dunkler Kieselstein. »Das hier wird Fela nun vollbringen, zum Beweis ihrer Fähigkeit.«

Sie sah Elodin erschrocken an. Dann huschte ihr Blick zwischen ihm und dem Stein hin und her, und sie wirkte verzweifelt und wurde blass.

Elodin sah sie mit einem beruhigenden Lächeln an. »Nur zu«, sagte er ganz sanft. »Im Grunde deines Herzens weißt du, dass du das kannst. Und noch viel mehr.«

Fela biss sich auf die Lippen und nahm den Stein in die Hand. Bei ihr sah er größer aus als zuvor bei Elodin. Sie schloss die Augen und atmete langsam tief ein. Dann atmete sie langsam wieder aus, hob den Stein und öffnete die Augen so, dass er das Erste war, was sie nun erblickte.

Fela starrte den Stein an, und einen Moment lang herrschte Stille. Im Raum baute sich eine immense Anspannung auf.

Eine Minute verging. Zwei Minuten. Drei Minuten, entsetzlich lang.

Schließlich seufzte Elodin ungehalten und löste damit die Anspannung Sieh ihn!« Er riss die Hand wieder weg.

Fela hob den Stein weiter empor und riss die Augen auf. Daraufhin verpasste ihr Elodin mit der flachen Hand einen Schlag auf den Hinterkopf.

Sie wandte sich zu ihm um und guckte empört. Doch Elodin zeigte nur auf den Stein, den sie immer noch in der Hand hielt. »Sieh!«, sagte er eindringlich.

Felas Blick richtete sich wieder auf den Stein, und sie lächelte, als erblickte sie einen alten Freund. Sie schloss die Hand um den Stein und führte sie an den Mund. Ihre Lippen bewegten sich.

Dann gab es plötzlich einen Knall – als wäre ein Wasserspritzer in einer Pfanne mit heißem Fett gelandet. Und noch Dutzende Male knallte es weiter, und es hörte sich an, als ließe ein alter Mann seine Fingerknöchel knacken, oder als prasselte ein Hagelschauer auf ein Schieferdach.

Fela öffnete schließlich die Hand, und Sand und Kies fielen heraus. Mit zwei Fingern griff sie in die dunklen Steinsplitter auf ihrer Handfläche und zog einen Ring aus schwarzem Stein daraus hervor. Er war vollkommen rund und so glatt, als wäre er aus poliertem Glas.

Elodin lachte triumphierend und schloss Fela begeistert in die Arme. Sie erwiderte die Umarmung ebenso innig. So gingen sie zusammen ein paar Schritte, und halb war es ein Taumel, halb ein Tanz.

Immer noch lächelnd, streckte Elodin eine Hand aus. Fela legte den Ring hinein, und er betrachtete ihn von allen Seiten und nickte schließlich.

»Fela«, sagte er in ernstem Ton. »Hiermit erhebe ich dich in den Rang eines Re’lar.« Er hielt den Ring empor. »Deine Hand, bitte.«

Beinahe schüchtern hielt Fela ihm ihre Hand entgegen. Doch Elodin schüttelte den Kopf. »Die linke«, sagte er. »Die rechte würde etwas ganz anderes bedeuten. So weit seid ihr alle noch lange nicht.«

Fela hielt ihm die andere Hand hin, und Elodin steckte ihr den

Fela strahlte und hielt den Ring so, dass alle ihn sehen konnten. Er war nicht glatt, wie ich zunächst angenommen hatte. Vielmehr war er mit tausenden winzigen, flachen Facetten überzogen. Sie waren in feinsten, wirbelnden Mustern arrangiert, und so etwas hatte ich noch nie gesehen.

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