Kapitel 60 Mutter der Weisheit

Die Augen des Maer weiteten sich für einen kurzen Moment, dann schloss er sie wieder halb. Trotz aller Hinfälligkeit war sein Verstand messerscharf. »Gut, dass du so leise gesprochen hast«, sagte er. »Du wagst dich auf gefährliches Terrain. Aber sprich weiter, ich höre dir zu.«

»Threpe hat in seinem Brief wahrscheinlich nicht erwähnt, dass ich nicht nur Musiker bin, sondern auch an der Universität studiere, Euer Gnaden.«

Der Maer blickte mich vollkommen unbewegt an. »An welcher Universität?«

»An der Universität, Euer Gnaden. Ich bin Mitglied des Arkanums.«

Alveron runzelte die Stirn. »Dazu bist du viel zu jung. Und warum hätte Threpe es in seinem Brief unterschlagen sollen?«

»Ihr habt keinen Arkanisten gesucht, Euer Gnaden. Außerdem genießt dieses Studium hier im Osten nicht den besten Ruf.« Deutlicher konnte ich die Wahrheit nicht aussprechen: Die Vintaner sind so abergläubisch, dass es an Dummheit grenzt.

Der Maer starrte mich an, und seine Miene verfinsterte sich. »Also gut«, meinte er schließlich, »wenn du wirklich bist, was du behauptest, zaubere etwas für mich.«

»Ich bin noch in der Ausbildung, Euer Gnaden. Aber wenn ich etwas zaubern soll …« Ich sah die drei Lampen an den Wänden an, leckte mir zwei Finger an, konzentrierte mich und drückte den Docht der Kerze auf dem Nachttischchen aus.

Im Zimmer wurde es dunkel, und ich hörte den Maer geräuschvoll einatmen. Ich zog meinen silbernen Ring aus der Tasche. Im

»Das genügt«, sagte der Maer. Wenn er erschrocken war, war es ihm jedenfalls nicht anzumerken.

Ich ging zum Fenster und öffnete die Läden. Sonnenlicht strömte herein und mit ihm der feine Duft der Selasblüten und Vogelgezwitscher. »Ich war schon immer der Meinung, dass frische Luft gegen jegliche Beschwerden des Körpers hilft. Andere sehen das anders«, sagte ich und lächelte den Maer an.

Er erwiderte mein Lächeln nicht. »Ja gewiss, du bist sehr schlau. Komm her und setz dich.« Ich zog mir einen Stuhl ans Bett und gehorchte. »Rechtfertige deine Behauptung von vorhin.«

»Ich sagte Caudicus, ich würde an einem Buch mit Geschichten über die Adelshäuser von Vintas schreiben. Dieser Vorwand erklärt zugleich, warum ich so viel Zeit mit Euch verbringe.«

Der Maer starrte mich weiter grimmig an. Schmerzen trübten seinen Blick wie eine Wolke, die sich vor die Sonne schob. »Dein Geschick als Lügner ist kaum geeignet, dir mein Vertrauen zu verdienen.«

Ich spürte einen Knoten im Magen, denn ich hatte nicht damit gerechnet, dass der Maer sich so sehr gegen die Wahrheit sperren würde. »Aber doch, Euer Gnaden. Ihn habe ich belogen, Euch dagegen sage ich die Wahrheit. Da er mich für einen etwas einfältigen Junker hielt, ließ er mich zusehen, wie er Eure Arznei mischte.« Ich hielt das bernsteinfarbene Fläschchen hoch. Das Glas reflektierte die Sonne in allen Regenbogenfarben.

Alveron rührte sich nicht. Seine sonst so klaren Augen blickten verwirrt und von Schmerzen getrübt. »Ich will von dir Beweise für deine Behauptung, und du kommst mir mit einer Geschichte. Caudicus dient mir seit einem Dutzend Jahre treu. Trotzdem will ich über deine Worte nachdenken.« Seinem Ton nach zu schließen, würde sein Urteil nicht lange auf sich warten lassen und für mich ungünstig ausfallen. Er streckte die Hand nach dem Fläschchen aus.

Ärger stieg in mir auf, und mir wurde trotz der Angst, die mir die Glieder lähmte, ganz warm. »Ihr wollt einen Beweis?«

»Euer Gnaden, ich …«

»Wie kannst du es wagen, mir ins Wort zu fallen?«, rief Alveron wütend und setzte sich mühsam auf. »Du gehst zu weit! Verschwinde augenblicklich, dann überlege ich mir, ob ich dich in meinen Diensten behalte.« Er zitterte vor Empörung und hatte die Hand immer noch nach dem Fläschchen ausgestreckt.

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Ich hielt ihm das Fläschchen hin, aber bevor es nehmen konnte, sagte ich: »Ihr habt vor kurzem erbrochen, und das Erbrochene war milchig weiß.«

Die Stimmung war zum Zerreißen gespannt, doch der Maer sah mich nur wie versteinert an. »Eure Zunge fühlt sich dick und schwer an«, fuhr ich fort. »Euer Mund ist trocken und von einem sonderbar scharfen Geschmack erfüllt. Ihr habt Heißhunger auf Süßigkeiten und Zucker. Ihr wacht nachts auf und könnt Euch nicht rühren und nicht sprechen. Ihr leidet an Lähmungserscheinungen, Koliken und Angstzuständen.«

Während ich sprach, zog der Maer die Hand langsam von dem Fläschchen zurück. Seine Wut schien verschwunden. In seine Augen war ein unsicherer, geradezu verängstigter Blick getreten, aber sie blickten wieder klar, als hätte die Angst ihn zur Besinnung gebracht.

»Das weißt du von Caudicus«, sagte er, aber es klang keineswegs überzeugt.

»Würde Caudicus mit einem Fremden in aller Ausführlichkeit über Eure Krankheit sprechen? Ich sorge mich um Euer Leben. Wenn ich mich ungebührlich verhalten muss, um es zu retten, dann sei es so. Gebt mir zwei Minuten Zeit, und ich liefere Euch den Beweis, den Ihr verlangt.«

Alveron nickte langsam.

»Ich behaupte nicht, genau zu wissen, was da drin ist.« Ich zeigte auf das Fläschchen. »Aber ich weiß, dass Ihr vor allem durch Blei vergiftet werdet. Das Blei ist für die Lähmungserscheinungen, die Schmerzen in Euren Muskeln und Eingeweiden und die Übelkeit verantwortlich.«

»Ich habe keine Lähmungen.«

»Was ist es dann?«

»Mehr eine Arznei oder Droge.«

»Was heißt das?«, brauste er auf. »Ist es nun ein Gift oder eine Arznei?«

»Habt Ihr je Laudanum genommen?«

»Einmal, als ich noch jünger war und wegen eines gebrochenen Beins vor Schmerzen nicht schlafen konnte.«

»Ophalum wirkt ähnlich, wird aber nur selten gegeben, weil es in höchstem Maße abhängig macht.« Ich machte eine Pause. »Man nennt es auch Denner-Harz.«

Der Maer erbleichte, als er das hörte, und der Blick seiner Augen war auf einmal vollkommen klar. Jeder kannte die Harzsüchtigen.

»Caudicus hat es vermutlich hinzugefügt, weil Ihr die Arznei nicht regelmäßig eingenommen habt«, sagte ich. »Das Ophalum macht Euch danach süchtig, während es gleichzeitig die Schmerzen lindert. Es würde auch Euren Heißhunger auf Zucker und Eure Schweißausbrüche erklären. Wenn Ihr seltsame Träume habt, geht das ebenfalls darauf zurück. Was könnte er noch hineingemischt haben?«, überlegte ich laut. »Wahrscheinlich Stichwurz oder Mannum, damit Ihr nicht zu viel erbrecht. Höchst raffiniert und zugleich schrecklich.«

»Nicht raffiniert genug.« Der Maer lächelte angestrengt. »Es ist ihm nicht gelungen, mich zu töten.«

Ich zögerte und beschloss dann, ihm die Wahrheit zu sagen. »Das wäre einfach gewesen, Euer Gnaden. Er hätte in dieser Flüssigkeit mühelos genügend Blei auflösen können, um Euch zu töten.« Ich hielt das Fläschchen ins Licht. »Die Kunst besteht darin, Euch krank zu machen, ohne Euch zu töten oder zu lähmen.«

»Aber warum? Warum sollte er mich vergiften, wenn er mich nicht töten will?«

»Dieses Rätsel könnt Ihr selbst besser lösen als ich. Ihr wisst mehr über die Machtkämpfe bei Hof.«

»Warum will er mich überhaupt vergiften?« Der Maer klang aufrichtig verwirrt. »Ich bezahle ihn üppig. Er steht als Mitglied des

»Vielleicht tut er es für Geld?«, schlug ich vor. »Jeder Mann hat seinen Preis, heißt es.«

Der Maer schüttelte wieder den Kopf. Dann sah er plötzlich auf. »Nein. Mir ist gerade etwas eingefallen. Ich war schon lange krank, bevor Caudicus mit seiner Behandlung anfing.« Er überlegte. »Ja, das stimmt. Ich fragte bei ihm an, ob er meine Krankheit behandeln könnte. Und die Symptome, die du aufgezählt hast, zeigten sich erst Monate nachdem er mit seiner Behandlung begonnen hatte. Damit konnte er nichts zu tun haben.«

»In kleinen Dosen verabreicht wirkt Blei nur langsam, Euer Gnaden. Wenn er Euch vergiften wollte, konnte er nicht daran interessiert sein, dass Ihr seine Arznei einnehmt und zehn Minuten später wie verrückt kotzt.« Mir fiel plötzlich wieder ein, mit wem ich sprach. »Entschuldigt bitte meine Ausdrucksweise, Euer Gnaden.«

Der Maer nickte steif. »Vieles von dem, was du sagst, kommt der Wahrheit so nahe, dass ich es nicht einfach ignorieren kann. Trotzdem fällt mir schwer zu glauben, dass Caudicus so etwas tut.«

»Wir können die Probe aufs Exempel machen, Euer Gnaden.«

Er hob den Kopf. »Wie das?«

»Lasst ein halbes Dutzend Vögel hierher bringen. Flittiche wären ideal.«

»Flittiche?«

»Kleine, leuchtend gelbe und rote Vögel.« Ich hob die Hand und hielt Daumen und Zeigefinger etwa fünf Zentimeter auseinander. »Sie bevölkern Euren Garten in Scharen und trinken den Nektar der Selasblüten.«

»Ach so. Wir nennen sie Schnipper.«

»Wir mischen Eure Arznei mit ihrem Nektar und warten ab, was passiert.«

Er sah mich düster an. »Wenn Blei so langsam wirkt, wie du sagst, müssten wir monatelang warten. Ich werde aber wegen einer unbewiesenen

»Die Vögel sind viel leichter als Ihr, und ihr Stoffwechsel ist viel schneller. Wir hätten nach einem oder spätestens zwei Tagen ein Ergebnis.« Hoffte ich jedenfalls.

Der Maer überlegte. »Also gut«, sagte er schließlich und hob die Glocke auf seinem Nachttisch.

»Darf ich Euch bitten, einen Grund zu erfinden, aus dem Ihr diese Vögel braucht?«, sagte ich hastig, bevor er läuten konnte. »Wir sollten Vorsicht walten lassen.«

»Ich kenne Stapes schon, so lange ich lebe«, erwiderte der Maer bestimmt. Sein Blick war so klar und wach wie zu Beginn unserer Bekanntschaft. »Ich würde ihm mein Vermögen, meine Ländereien und mein Leben anvertrauen. Ich will nie wieder eine Andeutung von dir hören, die seine vollkommene Vertrauenswürdigkeit in Zweifel zieht.« Aus seiner Stimme klang felsenfeste Überzeugung.

Ich schlug die Augen nieder. »Ja, Euer Gnaden.«

Er läutete. Kaum zwei Sekunden später öffnete der korpulente Kammerdiener die Tür. »Jawohl, Herr?«

»Stapes, ich vermisse die Spaziergänge im Garten. Könnt Ihr mir ein halbes Dutzend Schnipper ins Zimmer bringen?«

»Schnipper, Herr?«

»Ja«, sagte der Maer, als bestelle er etwas zum Mittagessen. »Es sind niedliche Dinger. Ihr Gezwitscher könnte mir beim Einschlafen helfen.«

»Ich will sehen, was ich tun kann, Herr.« Bevor Stapes die Tür schloss, warf er mir noch einen finsteren Blick zu.

Nachdem er gegangen war, sah ich den Maer an. »Darf ich Euch fragen, warum Ihr ihn doch nicht eingeweiht habt?«

»Damit er nicht zu lügen braucht. Er ist dafür nicht begabt. Und du hattest nicht unrecht. Vorsicht ist die Mutter der Weisheit.« Eine dünne Schweißschicht bedeckte sein Gesicht.

»Die heutige Nacht wird für Euch voraussichtlich sehr anstrengend werden.«

»Das gilt in letzter Zeit für alle meine Nächte«, sagte er bitter. »Warum sollte die heutige schlimmer sein als die vorangegangenen?«

»Drück dich klar aus.«

»Ihr werdet Schmerzen in Kopf und Kiefergelenken haben, Schweißausbrüche, Übelkeitsanfälle und Krämpfe besonders in den Beinen und im Kreuz. Ihr werdet vielleicht die Kontrolle über den Darm verlieren und abwechselnd Durst haben und Euch erbrechen.« Ich blickte auf meine Hände. »Es tut mir leid, Euer Gnaden.«

Alveron hatte mir mit wachsendem Unbehagen zugehört, doch jetzt nickte er. »Es ist mir lieber, wenn ich es weiß.«

»Doch gibt es auch Mittel, die Euch Linderung verschaffen können, Euer Gnaden.«

Seine Miene hellte sich ein wenig auf. »Zum Beispiel?«

»Einmal Laudanum, nur eine kleine Menge, um die Gier Eures Körpers zu lindern. Und noch einige andere Substanzen. Ihre Namen sind unwichtig. Ich kann sie zu einem Tee für Euch mischen. Ein weiteres Problem ist das viele Blei, das noch in Eurem Körper steckt und das nicht von allein verschwindet.«

Dies schien ihn mehr zu beunruhigen als alles, was ich bisher gesagt hatte. »Ich scheide es nicht von selbst wieder aus?«

Ich schüttelte den Kopf. »Metalle sind tückische Gifte. Sie sammeln sich im Körper an. Ein Metall aus Euch herauszuziehen erfordert eine besondere Anstrengung.«

Der Maer verzog das Gesicht. »Ihr denkt an Blutegel? Wie ich diese Tiere verabscheue!«

»Nein, Euer Gnaden. Nur Quacksalber setzen heutzutage noch Blutegel für solche Zwecke ein. Das Blei muss Euch entzogen werden.« Ich überlegte, ob ich ihm die Wahrheit sagen sollte, dass er nämlich wahrscheinlich nie alles Blei loswerden würde, beschloss dann aber, diese Prognose für mich zu behalten.

»Und kannst du das tun?«

Ich überlegte lange. »Wahrscheinlich am besten von allen, die hier leben, Euer Gnaden. Die Universität ist weit weg. Ich wette, dass nicht einer von zehn Ärzten hier eine richtige Ausbildung hat, und ich weiß auch nicht, welcher Arzt wiederum mit Caudicus in Verbindung

»Ich danke dir für deine Ehrlichkeit.«

»Was ich dazu brauche, kann ich wahrscheinlich größtenteils auch hier bekommen. Allerdings …« Ich verstummte und hoffte, der Maer würde begreifen, worauf ich hinauswollte, und mir die Peinlichkeit ersparen, ihn um Geld zu bitten.

Er sah mich verständnislos an. »Allerdings …?«

»Ich benötige dazu Geld, Euer Gnaden. Was Ihr braucht, ist nicht ganz leicht zu beschaffen.«

»Ach ja, natürlich.« Er griff nach einer Geldbörse und gab sie mir. Dass er eine gut gefüllte Geldbörse in Reichweite seines Bettes aufbewahrte, überraschte mich ein wenig. Mir fiel unwillkürlich ein, wie ich vor Jahren einen Schneider in Tarbean angeherrscht hatte. Was hatte ich gesagt? Ein Gentleman hat seine Börse immer griffbereit? Ich unterdrückte einen höchst unpassenden Lachanfall.

Stapes kehrte schon nach kurzer Zeit zurück. Vor sich schob er einen schrankgroßen Gitterkäfig auf Rädern her, in dem ein Dutzend Flittiche saßen. Seine Findigkeit verblüffte mich.

»Meiner Treu, Stapes!«, rief der Maer, als der Kammerdiener mit dem gewaltigen Käfig durch die Tür rollte. »Diesmal hast du dich selbst übertroffen.«

»Wohin wünschen Euer Gnaden, dass ich ihn stelle?«

»Lass ihn an der Tür stehen. Kvothe wird ihn an die gewünschte Stelle schieben.«

Stapes sah ihn gekränkt an. »Es wäre für mich keine Mühe.«

»Ich weiß doch, Stapes, ich weiß. Aber ich hatte gehofft, du könntest mir stattdessen einen neuen Krug Apfeltee bringen. Ich habe das Gefühl, das würde meinem Magen gut tun.«

»Sehr wohl.« Stapes eilte nach draußen und schloss die Tür hinter sich.

Sobald sie zu war, trat ich zu dem Käfig. Die farbenprächtigen kleinen Vögel flatterten schwindelerregend schnell von einer Sitzstange zu anderen. »Hübsche Dinger«, hörte ich den Maer murmeln. »Als Kind haben sie mich fasziniert. Ich weiß noch, wie ich dachte,

An der Außenseite des Käfigs waren drei Futterspender angebracht, mit Zuckerwasser gefüllte gläserne Röhren. Zwei hatten wie kleine Selasblüten geformte Tüllen, der dritte war einer stilisierten Iris nachempfunden. Ideale Haustiere für Adlige. Wer sonst konnte es sich leisten, täglich Zucker an seine Lieblinge zu verfüttern?

Ich schraubte die Futterspender oben auf und goss jeweils ein Drittel der Arznei hinein. Das leere Fläschchen hielt ich dem Maer hin. »Was tut ihr normalerweise damit?«

Er stellte es auf den Tisch neben seinem Bett.

Ich wartete, bis einer der Vögel zu einem Futterspender flog und trank. »Wenn Ihr Stapes sagt, Ihr wolltet die Vögel selber versorgen, füttert er sie dann nicht mehr?«

»Nein. Er gehorcht mir immer aufs Wort.«

»Gut. Füllt die Futterspender erst nach, wenn die Vögel sie leer getrunken haben. Dann nehmen sie eine konzentriertere Dosis zu sich, und wir sehen das Ergebnis schneller. Wohin soll ich den Käfig stellen?«

Er ließ den Blick langsam durchs Zimmer wandern. »Neben die Kommode im Ankleidezimmer«, sagte er schließlich. »Dort kann ich ihn von hier sehen.«

Ich rollte den Käfig vorsichtig ins Nachbarzimmer. Bei meiner Rückkehr schenkte Stapes dem Maer gerade ein Glas Apfeltee ein.

Ich verbeugte mich vor Alveron. »Wenn Ihr erlaubt, Euer Gnaden.«

Er entließ mich mit einer Handbewegung. »Kvothe wird am späteren Nachmittag noch einmal kommen, Stapes. Lass ihn bitte herein, auch wenn ich schlafe.«

Stapes nickte steif und warf mir erneut einen missbilligenden Blick zu.

»Er bringt vielleicht ein paar Dinge mit. Bitte sprich mit niemandem darüber.«

»Wenn Ihr etwas wünscht …«

Alveron lächelte müde. »Ich weiß, du könntest es mir auch besorgen, Stapes. Aber ich will den Jungen beschäftigen. Dich habe ich lieber

Mein Ausflug in die Unterstadt von Severen dauerte einige Stunden länger als geplant. Ich wollte diese Verzögerung nicht, aber sie war unumgänglich.

Unterwegs bemerkte ich, dass sich einige Leute an meine Fersen geheftet hatten. An sich überraschte mich das nicht. Nach meinen bisherigen Erfahrungen mit dem von Gerüchten beherrschten Hof des Maer hatte ich sogar damit gerechnet, dass der eine oder andere Diener mir auf meinen Ausgängen folgen würde. Bei Hof war man wie gesagt sehr neugierig auf mich, und ihr könnt euch nicht vorstellen, zu welchen Mitteln gelangweilte Adlige greifen, wenn sie in den Angelegenheiten anderer herumschnüffeln wollen.

Die Gerüchte selber kümmerten mich nicht weiter, doch ihre Folgen konnten für mich katastrophal sein. Wenn Caudicus erfuhr, dass ich nach meinem Besuch beim Maer in Apotheken eingekauft hatte, was würde er tun? Wer den Maer vergiftete, würde nicht zögern, mich auszulöschen wie eine Kerze.

Um also keinen Verdacht zu erregen, kaufte ich mir in Severen zunächst einmal etwas zu essen. Ein schmackhaftes, heißes Eintopfgericht und dazu grobes Brot. Das feine Essen, das immer schon lauwarm war, wenn es in meinen Räumen ankam, hatte ich gründlich satt.

Danach kaufte ich zwei kleine Fläschchen, wie man sie üblicherweise für Schnaps verwendet. Anschließend sah ich an einer Straßenecke eine erholsame halbe Stunde lang einer kleinen Schauspieltruppe zu, die den letzten Akt von Der Geist und die kleine Gänsehirtin spielte. Die Schauspieler waren zwar keine Edema Ruh, schlugen sich aber wacker. Als anschließend der Hut herumging, spendete ich großzügig aus der Börse des Maer.

Dann betrat ich endlich eine wohlsortierte Apotheke. Ich kaufte scheinbar willkürlich und zerstreut einige Dinge ein. Nachdem ich alles hatte, was ich brauchte, und auch einiges, das ich nicht brauchte,

Der Apotheker nickte ernst und empfahl mir ohne eine Miene zu verziehen verschiedene Mittelchen. Ich kaufte von jedem eine kleine Menge und machte einen ungeschickten Versuch, ihn durch Drohung und Bestechung zum Stillschweigen zu verpflichten. Als ich schließlich ging, war er gekränkt und wütend. Auf entsprechende Fragen würde er gewiss von dem rüpelhaften Herrn erzählen, der sich für Mittel gegen Impotenz interessiert hatte. Ich war zwar nicht sonderlich scharf auf diesen zweifelhaften Ruhm, aber wenigstens verhinderte ich dadurch, dass über meine anderen Einkäufe geredet wurde und Caudicus davon erfuhr. Ich hatte Laudanum, Taubnessel, Bissklein und andere gleichermaßen verdächtige Drogen erworben.

Zuletzt löste ich noch meine Laute beim Pfandleider aus – einen Tag vor Ablauf der Frist. Die Börse des Maer war danach fast leer, aber es war auch meine letzte Besorgung. Bei meiner Rückkehr an den Fuß der Bastion ging die Sonne unter.

Zwischen der Ober- und der Unterstadt von Severen gab es nur ein paar wenige Verbindungswege. Die gebräuchlichsten waren zwei Treppen, die sich im Zickzack die Felswand hinaufwanden. Sie waren alt, ausgetreten und zum Teil sehr schmal, dafür aber gratis und deshalb bei dem in der Unterstadt wohnenden gemeinen Volk sehr beliebt.

Wer nicht eine enge Treppe sechzig Meter hinaufsteigen wollte, hatte andere Möglichkeiten. Zwei ehemalige Studenten der Universität betrieben einen Lastenaufzug. Sie waren zwar keine fertig ausgebildeten Arkanisten, verstanden aber genug von Sympathie und Technik, um die sehr profane Aufgabe zu bewältigen, mittels einer großen hölzernen Plattform Fuhrwerke und Pferde die Bastion hinauf und hinunter zu befördern.

Für Passagiere kostete die Fahrt nach oben einen Penny, die nach unten einen halben. Allerdings musste man gelegentlich warten, bis ein Kaufmann seine Waren ein- oder ausgeladen hatte.

Die Adligen fuhren nicht mit dem Lastenaufzug. Misstrauisch gegen alles entfernt Arkanische wie alle Vintaner, nahmen sie den

Da das Geld in meiner Börse nicht meines war, entschied ich mich für den Pferdelift.

Ich gesellte mich zu vier Herren und einer Dame, die bereits an der Station anstanden, wartete mit ihnen darauf, dass der Lift sich herabsenkte, zahlte mit einer dünnen silbernen Münze und stieg ein.

Bei dem Lift handelte es sich im Grunde nur um einen offenen Kasten mit umlaufendem Messinggeländer. Dicke, mit den Ecken verbundene Handseile stabilisierten ihn ein wenig, trotzdem brachte jede ruckartige Bewegung ihn auf höchst beunruhigende Weise zum Schwanken. Ein adrett gekleideter Liftjunge fuhr mit den Passagieren mit, öffnete das Gatter und signalisierte den Pferdeführern droben, wann sie mit Ziehen anfangen sollten.

Es ist unter Adligen Brauch, der Stadt bei solchen Fahrten den Rücken zuzukehren. Gaffen war eine Sache des gemeinen Volkes. Da mir herzlich egal war, was die Adligen von mir dachten, stellte ich mich an das vordere Geländer. Wir hoben vom Boden ab, und mein Magen machte einen Satz.

Ich betrachtete Severen, das unter mir ausgebreitet lag. Eine alte, stolze Stadt. Die hohe Mauer, die sie einfasste, erinnerte an längst vergangene kriegerische Zeiten. Wie der Maer es wünschte, wurde sie selbst in diesen friedlichen Zeiten hervorragend in Schuss gehalten. Alle drei Stadttore waren mit Wachen besetzt und wurden allabendlich bei Sonnenuntergang geschlossen.

Wir stiegen weiter auf, und ich sah die verschiedenen Stadtteile von Severen so deutlich wie auf einer Landkarte. Ein wohlhabendes Viertel mit weitläufigen Gärten und Parks und aus Ziegeln und Steinen erbauten altehrwürdigen Häusern und das Armenviertel mit engen, gewundenen Gassen und Dächern, die mit Teer und Holzschindeln

Die Fahrt endete viel zu schnell. Ich ließ die anderen Passagiere aussteigen, beugte mich noch einmal über das Geländer und blickte in die Tiefe hinunter.

»Mein Herr?«, fragte der Liftboy ein wenig ungeduldig. »Alles aussteigen.«

Ich drehte mich um und stieg aus. An der Spitze der oben anstehenden Schlange sah ich Denna.

Ich starrte sie sprachlos an. Bevor ich noch reagieren konnte, hob sie den Kopf und entdeckte mich. Ein Leuchten ging über ihr Gesicht. Sie rief meinen Namen, eilte auf mich zu, und ehe ich mich versah, hatte sie sich schon an meine Brust geworfen. Ich nahm sie in die Arme und legte die Wange an ihr Ohr. Wir schmiegten uns aneinander wie Tänzer, als hätten wir jede Bewegung schon tausendmal geübt. Dennas Körper fühlte sich warm und weich an.

»Was tust du hier?«, fragte sie. Ihr Herz raste, und ich spürte jeden einzelnen Schlag an meiner Brust.

Ich brachte immer noch keinen Ton heraus. Denna trat einen Schritt zurück. Erst jetzt bemerkte ich einen alten, bereits gelblich verfärbten Bluterguss auf ihrer Wange. Trotzdem hätte ich mir nach zwei Monaten und tausend Meilen keinen schöneren Anblick als Denna vorstellen können. »Was tust du hier?«, fragte ich.

Sie lachte ihr silberhelles Lachen und fasste mich am Arm. Doch dann wanderte ihr Blick über meine Schulter, und Bestürzung malte sich auf ihrem Gesicht. »Warte!«, rief sie dem Jungen zu, der gerade das Gatter des Lifts schließen wollte. »Ich muss mitfahren, sonst komme ich zu spät.« Sie warf mir einen verzweifelten, um Entschuldigung bittenden Blick zu und ging an mir vorbei in den Lift. »Du wirst mich finden.«

Der Junge schloss das Gatter hinter ihr, und der Lift entfernte sich langsam in die Tiefe. Verloren blickte ich ihr nach. »Wo soll ich dich suchen?« Ich trat näher an den Rand der Station.

Sie blickte zu mir auf. Ihr Gesicht hob sich weiß vor dem abendlichen Dunkel ab, ihre Haare waren nur als schwarzer Schatten zu

Die Nacht schluckte sie, und ich blieb allein zurück. Dennas Geruch hüllte mich ein. Meine Hände waren noch warm von ihr, und ich spürte ihr Herz, das zitternd wie ein gefangener Vogel an meiner Brust geschlagen hatte.

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