Kapitel 28 Feuer fangen

Die Attacken kamen nicht besonders oft, aber sie kamen ohne Vorwarnung.

Am fünften Tag, seit wir begonnen hatten, nach dem Bauplan zu suchen, musste Ambrose entweder bockig gelaunt oder sehr gelangweilt gewesen sein, denn es waren insgesamt acht: Eine, als ich in Wilems Zimmer erwachte, zwei beim Mittagessen, zwei weitere, während ich in der Mediho Physiognomie studierte, und dann drei in schneller Folge, während ich im Handwerkszentrum Eisen bearbeitete.

Am nächsten Tag aber gab es überhaupt keine Attacken. In mancher Hinsicht war das schlimmer. Man wartete nur Stunde um Stunde darauf, dass es wieder losging.

Und so lernte ich, ein stahlhartes Alar aufrechtzuerhalten, während ich aß und badete, an Seminaren teilnahm und mich mit meinen Lehrern und Freunden unterhielt. Ich hielt es sogar aufrecht, während ich mich in meinem Sympathie-Seminar duellierte. Am siebten Tag unserer Suche führte diese Ablenkung und meine allgemeine Erschöpfung dazu, dass ich das erste Mal nach einer langen Serie siegreicher Duelle gegen zwei Kommilitonen verlor.

Ich könnte behaupten, dass ich zu erschöpft gewesen sei, als dass mir das groß etwas ausgemacht hätte, aber das würde nicht so ganz der Wahrheit entsprechen.

»Ich hab’s«, sagte sie, und ihre Augen strahlten. Ihre Stimme klang so aufgeregt, dass sie geradezu leidenschaftlich wirkte. »Ich hab ein Exemplar gefunden.« Sie hielt uns das Buch hin, und auf dem Titelschild des dicken Lederbands stand in goldenen Lettern: Facci-Moen ve Scrivani.

Wir waren im Laufe unserer Suche auf die Scrivani gestoßen. Das war eine umfassende Sammlung von Bauplänen des vor langer Zeit schon verstorbenen Magiers und Handwerksmeisters Surthur. Zwölf umfangreiche Bände voll detaillierter Abbildungen und Beschreibungen. Als wir das Register fanden, glaubten wir, schon fast am Ziel unserer Suche angelangt zu sein, denn darin stand: »Bau-Plan für eyn wundersam Fünffer-Gramme«. Zu finden in Band 9, ab Seite 82.

Wir spürten acht Ausgaben der Scrivani in der Bibliothek auf, aber keine war vollständig. Die Bände 7, 9 und 11 fehlten bei jeder. Sie waren zweifellos in Kilvins Privatbibliothek versteckt.

Auf diese Suche verwandten wir zwei ganze Tage, bis wir die Hoffnungen, die wir in die Scrivani gesetzt hatten, schließlich wieder aufgaben. Nun aber hatte Fela es gefunden: nicht nur ein Puzzleteil, sondern gewissermaßen das ganze Puzzle, fertig gelöst.

»Ist es wirklich der richtige Band?«, fragte Simmon aufgeregt und ungläubig.

Fela nahm langsam die Hand vom unteren Teil des Buchrückens, und eine goldene 9 kam zum Vorschein.

Ich sprang vom Stuhl auf, stieß ihn dabei fast um und stürmte zu ihr. Sie aber lächelte und hielt sich das Buch hoch über den Kopf. »Erst musst du mir ein Abendessen versprechen«, sagte sie.

Ich lachte und griff nach dem Buch. »Wenn das hier vorbei ist, lade ich euch alle zum Abendessen ein.«

Sie seufzte. »Und du musst mir sagen, dass ich die beste Bibliothekarin aller Zeiten bin.«

»Igitt«, sagte sie und gab mir das Buch. »Bitte schön.«

Ich legte es auf den Tisch und schlug es hastig auf. »Bestimmt fehlen die Seiten mit dem Bauplan oder irgendwas in der Art«, sagte Simmon leise zu Wil. »Es kann jetzt nicht so einfach sein. Ich weiß ganz sicher, dass jetzt wieder irgendwas dazwischenkommt.«

Ich hörte auf zu blättern, rieb mir die Augen und starrte auf die Schrift.

»Wusst’ ich’s doch«, sagte Sim, kippelte auf seinem Stuhl nach hinten und hielt sich die Augen zu. »Lass mich raten: Schimmelbefall. Oder Bücherwürmer. Oder beides.«

Fela blickte mir über die Schulter. »Oh nein!«, sagte sie. »Ich hab gar nicht reingeguckt. Ich war so aufgeregt.« Sie sah uns an. »Kann einer von euch Alt-Vintisch lesen?«

»Ich kann das seltsame Kauderwelsch lesen, das ihr Aturisch nennt«, sagte Wilem säuerlich. »Ich finde, damit bin ich mehrsprachig genug.«

»Ich beherrsche nur ein paar Brocken«, sagte ich. »Nur ein paar Dutzend Vokabeln.«

»Ich kann’s«, sagte Sim.

»Echt?« Ich spürte wieder Hoffnung in mir aufkeimen. »Wann hast du das denn gelernt?«

Sim rutschte auf seinem Stuhl herbei. »In meinem ersten Trimester als E’lir hab ich mal einige alt-vintische Gedichte gehört. Und dann hab ich beim Rektor drei Trimester lang Alt-Vintisch studiert.«

»Für Lyrik hab ich mich ja nie groß interessiert«, sagte ich.

»Da entgeht dir was«, sagte Sim und blätterte ein wenig in dem Buch hin und her. »Die alt-vintische Lyrik ist mächtig gewaltig. Das haut einen um.«

»Was ist das denn für ein Versmaß?«, fragte ich, nun doch neugierig geworden.

»Nach solchen Sachen brauchst du mich nicht zu fragen, die Fachbegriffe kenne ich nicht«, sagte Simmon und fuhr mit einem Finger die vor ihm liegende Buchseite hinab. »Es geht ungefähr so:

Wir suchten des Surthur

Das lange verlorene,

Doch fest in der Freundschaft

Erhitzt von der Hatz

Ihr Herz schlägt heftig,

Die Wangen vor Wallung

Wortwerk Scrivani,

ohne Hoffnung im Herzen.

ward die Buchbringerin fündig.

jauchzt die Jägerin Fela.

zum Blühen bringt das Blut

im Rot-Schein der Schönheit.

Ich sah, wie Fela den Kopf in seine Richtung wandte und Simmon anschaute, als wäre sie erstaunt, ihn dort sitzen zu sehen.

Nein, es war eher, als hätte er bis dahin nur ein bestimmtes Quantum Raum um sie her eingenommen, wie ein Möbelstück, wie ein Teil des Inventars. Doch als sie ihn diesmal ansah, nahm sie ihn zum ersten Mal richtig wahr. Sein rotblondes Haar, sein kantiges Kinn, seine breiten Schultern unter dem Hemd. Als sie ihn diesmal ansah, sah sie ihn.

Und ich muss sagen: Allein diesen Augenblick mitzuerleben, war die ganze langwierige und nervenaufreibende Suche in der Bibliothek wert. Es war das vergossene Blut und die Todesangst wert, mit anzusehen, wie sich Fela in ihn verliebte. Nur ein kleines bisschen. Es war nur der erste Anflug von Verliebtheit, so zart, dass sie es selbst wahrscheinlich gar nicht bemerkte. Es war nicht dramatisch, nichts von wegen Blitz und Donnerschlag. Es war eher, wie wenn ein Feuerstein auf Stahl trifft und der Funke fast zu schnell wieder verfliegt, um überhaupt wahrgenommen zu werden, man aber dennoch weiß, dass es ihn gegeben hat und er nun drunten, wo man nicht hinsehen kann, ein Feuer entfacht.

»Wer hat dir denn alt-vintische Gedichte vorgelesen?«, fragte Wil. Fela blinzelte und wandte sich wieder dem Buch zu.

»Puppet«, sagte Sim. »Als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin.«

»Puppet!« Wil schien drauf und dran, sich die Haare auszuraufen. »Himmel Herrgott, wieso sind wir nicht gleich damit zu ihm gegangen? Wenn es von diesem Werk eine aturische Übersetzung gibt, weiß er garantiert, wo sie steht!«

»Außerdem weiß Puppet, was auf der Schwarzen Liste steht«, sagte Fela. »Und ich bezweifle mal, dass er das einfach so ausplaudern würde.«

»Kennen denn wirklich alle außer mir diesen Puppet?«, fragte ich.

»Wenn man in der Bibliothek arbeitet, kennt man ihn«, sagte Wilem.

»Ich glaube, das Meiste davon kann ich mir zusammenreimen«, sagte Simmon und sah zu mir herüber. »Ergibt dieses Diagramm für dich irgend einen Sinn? Das verstehe ich nämlich überhaupt nicht.«

»Das da sind die Runen«, sagte ich und zeigte darauf. »Ganz eindeutig. Und das sind metallurgische Symbole.« Ich sah es mir genauer an. »Aber das andere da … Keine Ahnung. Vielleicht irgendwelche Abkürzungen. Aber das können wir wahrscheinlich nach und nach entschlüsseln.«

Ich lächelte und wandte mich wieder an Fela. »Herzlichen Glückwunsch! Du bist immer noch die beste Bibliothekarin aller Zeiten!«

Mit Simmons Hilfe entzifferte ich innerhalb von zwei Tagen die Diagramme in dem Scrivani-Band. Genauer gesagt, kostete uns die Entzifferung selbst nur einen Tag, doch dann setzten wir noch einen weiteren Tag daran, alles noch einmal doppelt und dreifach zu überprüfen.

Als ich dann wusste, wie ich mir ein Gram bauen konnte, begann ich ein sonderbares Versteckspiel mit Ambrose. Für die Sygaldrie des Gram brauchte ich meine ungeteilte Konzentration, und das bedeutete, dass ich während der Arbeit daran meinen Selbstschutz vernachlässigen musste. Ich konnte also nur dann an dem Gram arbeiten, wenn ich sicher sein konnte, dass Ambrose gerade anderweitig beschäftigt war.

Das Gram erforderte viel Feinarbeit, ich musste winzige Gravuren vornehmen, bei denen keinerlei Spielraum für Fehler bestand. Es

Wenn ich gerade nicht an meinem Gram arbeiten konnte, arbeitete ich an meinem Projekt für Kilvin. In mancher Hinsicht war es ein Glück gewesen, dass er mich beauftragt hatte, etwas zu bauen, das eines Re’lar würdig war. Das lieferte mir den perfekten Vorwand, um sehr viel Zeit im Handwerkszentrum zu verbringen.

In der Zeit, die mir daneben noch blieb, hockte ich viel im Schankraum des GOLDENEN PONY herum. Ich musste mich dort als Stammgast etablieren. Auf diese Weise würde manches weniger verdächtig wirken.

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