Kapitel 78 Eine andere Straße und ein anderer Wald
Mit einer gewissen Schadenfreude marschierte ich am folgenden Morgen, noch bevor die Sonne aufgegangen war, hinter einem verkaterten Dedan die Straße entlang. Er machte nur ganz vorsichtige Schritte, doch sei zu seiner Ehre gesagt, dass er sich mit keinem Wort beklagte, solange man ein gelegentliches leises Stöhnen nicht als Wort zählt.
Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich jetzt auch die Anzeichen seiner Verliebtheit. Etwa die Art, wie er Hespes Namen sagte, oder seine unbeholfenen Scherze, wenn er mit ihr sprach. Ständig fand er einen neuen Vorwand, in ihre Richtung zu sehen, indem er sich etwa streckte, einen müßigen Blick über die Straße warf oder im Wald rings umher auf etwas zeigte.
Dass Hespe seine Blicke gelegentlich erwiderte, schien er dagegen nicht zu bemerken. Manchmal hätte ich lachen mögen, die beiden spielten geradezu eine modeganische Tragödie. Dann wieder hätte ich sie am liebsten geschüttelt.
Tempi trottete stumm neben uns her wie ein braves Hündchen. Dabei beobachtete er unablässig Wald, Straße und Wolken. Ich hätte ihn für einen einfältigen Menschen gehalten, wäre nicht der unzweifelhaft intelligente Blick seiner Augen gewesen. Auf die wenigen Fragen, die ich ihm stellte, antwortete er weiter mit nervösen Gesten, Kopfnicken oder -schütteln und Achselzucken.
Meine Neugier ließ mir unterdessen keine Ruhe. Natürlich wusste ich, dass es Lethani nur im Märchen gab, trotzdem beschäftigte mich der Gedanke daran. Sparte Tempi wirklich seine Worte in sich auf? Konnte er sein Schweigen tatsächlich wie eine Rüstung tragen? Sich
Nach und nach lernten wir uns mitsamt unseren besonderen Angewohnheiten besser kennen. Dedan etwa bereitete den Boden, auf dem er seine Decke zum Schlafen ausrollte, sorgfältig vor. Er entfernte nicht nur Zweige und Steine, sondern glättete auch Grasbüschel und andere Unebenheiten.
Hespe pfiff unmelodisch, wenn sie glaubte, dass niemand ihr zuhörte, und entfernte nach jeder Mahlzeit sorgfältig die Essensreste zwischen ihren Zähnen. Marten aß kein Fleisch, das auch nur entfernt rosa aussah, und trank nur abgekochtes oder mit Wein vermischtes Wasser. Wir anderen bekamen von ihm mindestens zweimal täglich zu hören, dass wir Narren seien, es nicht auch so zu machen.
Was seltsames Benehmen anbetraf, belegte Tempi freilich den Spitzenplatz. Er wich meinem Blick aus, lächelte nicht, runzelte nicht die Stirn und sprach nicht.
Seit wir das Wirtshaus ZUM GÜLDENEN PENNY verlassen hatten, hatte er nur einmal etwas von sich aus gesagt. »Regen würde die Straße zu einer anderen Straße machen und den Wald zu einem anderen Wald.« Er hatte jedes Wort betont, als habe er den ganzen Tag an dem Satz gearbeitet. Was durchaus auch der Fall sein konnte.
Er wusch sich zwanghaft. Während wir anderen das Badehaus benutzten, wenn wir in einem Wirtshaus Halt machten, badete er täglich. Übernachteten wir in der Nähe eines Bachs, badete er sowohl abends wie morgens nach dem Aufwachen. Sonst wusch er sich mit einem Lappen und etwas Trinkwasser.
Zweimal am Tag vollführte er außerdem aufwendige Dehnübungen, bei denen er mit den Händen bestimmte Formen und Muster in
Er hielt durch diese Übungen offenbar seine Gelenke geschmeidig. Trotzdem boten sie einen seltsamen Anblick. Hespe machte sich denn auch darüber lustig. Wenn die Banditen uns zum Tanzen aufforderten, meinte sie, wären wir mit unserem frischgewaschenen Söldner fein heraus. Sie sagte es allerdings so leise, dass Tempi sie nicht hören konnte.
Was persönliche Eigenheiten anging, konnte ich es mir kaum erlauben, auf andere zu zeigen. Ich selber spielte abends, wenn ich nicht vom Marschieren zu müde war, meist auf meiner Laute. Als Anführer oder Arkanist dürfte ich die anderen damit kaum beeindruckt haben.
Je näher wir unserem Ziel kamen, desto beklommener wurde mir zumute. Marten brachte im Grunde als Einziger von uns die für unsere Aufgabe notwendigen Voraussetzungen mit. Dedan und Hespe mochten gut kämpfen, waren aber beschwerliche Weggefährten. Dedan war ein Dickkopf und Streithammel, Hespe war faul. Sie half bei der Vorbereitung der Mahlzeiten oder beim Aufräumen danach nur, wenn man sie dazu aufforderte, und selbst dann so widerwillig, dass sie keine große Hilfe war.
Tempi schließlich war ein Auftragsmörder, der jedem Blick auswich und nicht mit mir redete. Ein Söldner, der meiner festen Überzeugung nach im modeganischen Theater Karriere machen konnte.
Fünf Tage nach unserem Aufbruch aus Severen erreichten wir die Gegend, in der die Überfälle stattgefunden hatten: ein zwanzig Meilen langes, kurvenreiches Straßenstück, das durch den Eld führte und an dem keinerlei Ortschaften oder Wirtshäuser und nicht einmal aufgegebene Bauernhöfe lagen, ein menschenleeres Gebiet inmitten eines endlosen, nur von Bären, verrückten Einsiedlern und Wilderern bevölkerten Waldes, ein Paradies für Straßenräuber.
Marten erkundete die Umgebung, während wir anderen das Lager aufschlugen. Eine Stunde später tauchte er erschöpft, aber guter
»Ich darf gar nicht daran denken, dass ich Steuereintreibern helfe«, brummte Dedan. Hespe lachte heiser.
»Du verteidigst die Zivilisation«, verbesserte ich. »Und du sorgst für Sicherheit auf den Straßen. Außerdem verwendet Maer Alveron die Steuern für wichtige Dinge.« Ich grinste. »Er zahlt damit zum Beispiel uns.«
»Dafür kämpfe ich«, sagte Marten.
Nach dem Essen trug ich den anderen den einzigen Plan vor, der mir in fünf Tagen langen Nachdenkens eingefallen war. Mit einem Stock zeichnete ich eine geschwungene Linie auf den Boden. »Das ist die Straße. Der Abschnitt ist etwa zwanzig Meilen lang.«
»Meln.« Die leise Stimme gehörte Tempi.
»Entschuldige?«, fragte ich. Es war das erste Wort, das ich ihn in anderthalb Tagen sagen hörte.
»Mieln?« Er sprach das ihm offenbar unbekannte Wort so undeutlich aus, dass ich einen Moment brauchte um zu verstehen, dass er »Meilen« meinte.
»Meilen«, wiederholte ich, um eine deutliche Aussprache bemüht. Ich zeigte in die Richtung der Straße und hielt einen Finger hoch. »Von hier zur Straße ist es eine Meile. Heute sind wir fünfzehn Meilen marschiert.«
Tempi nickte.
Ich wandte mich wieder meiner Wellenlinie zu. »Wir können davon ausgehen, dass die Banditen sich nicht mehr als zehn Meilen von der Straße entfernen.« Ich zeichnete ein entsprechendes Rechteck um die Linie. »Das heißt, wir müssen vierhundert Quadratmeilen Wald durchsuchen.«
Die anderen dachten schweigend über meine Worte nach. Tempi sprach als Erster. »Das ist viel.«
Ich nickte ernst. »Wir würden Monate dazu brauchen. Aber vielleicht geht es auch einfacher.« Ich erweiterte meine Zeichnung um einige Linien. »Marten kundschaftet täglich die Gegend für uns aus.« Ich sah Marten an. »Wie viel schaffst du an einem Tag?«
»Und wenn du gründlich bist?«
Er lächelte. »Das bin ich immer.«
Ich nickte und zog parallel zur Straße eine weitere Linie. »Marten wird einen Streifen auskundschaften, der etwa eine halbe Meile breit und eine Meile von der Straße entfernt ist. Er wird nach dem Lager oder den Spähern der Banditen Ausschau halten, damit wir ihnen nicht versehentlich in die Arme laufen.«
Hespe schüttelte den Kopf. »Das bringt nichts. Sie werden sich nicht so nahe der Straße aufhalten. Wenn sie nicht entdeckt werden wollen, ziehen sie sich weiter zurück, mindestens zwei oder drei Meilen.«
Dedan nickte. »Wenn ich Steuereintreiber überfallen hätte, würde ich mich mindestens vier Meilen von der Straße entfernt verstecken.«
»Ich auch«, stimmte ich zu. »Aber früher oder später müssen sie zur Straße zurückkehren. Sie werden Späher aufstellen und neue Überfälle durchführen. Außerdem brauchen sie Proviant. Da sie sich schon seit Monaten in dieser Gegend aufhalten, benützen sie womöglich feste Wege. Mit meiner Methode kommen wir täglich etwa zwei Meilen voran. Wir fangen nördlich der Straße an und suchen von Westen nach Osten. Wenn wir nichts finden, überqueren wir die Straße und arbeiten uns auf der Südseite von Osten nach Westen zurück.«
Ich vollendete meine Zeichnung und trat zurück. »In einer Spanne oder auch in zwei, wenn wir Pech haben, haben wir sie gefunden.« Ich steckte den Stock in den Boden.
Dedan starrte die behelfsmäßige Karte missmutig an. »Wir brauchen mehr Proviant.«
Ich nickte. »Alle fünf Tage brechen wir unser Lager ab und ziehen weiter. Zwei von uns kehren nach Crosson zurück, um Proviant zu holen, die anderen beiden befördern das Gepäck. Marten ruht sich aus.«
Marten meldete sich zu Wort. »Wir müssen ab jetzt auch mit dem Feuer aufpassen. Der Rauch verrät uns, wenn der Wind ihn in ihre Richtung weht.«
Hespe blickte zwischen mir und Marten hin und her. »Was sind das für Bäume?«, fragte sie.
»Man kann mit ihrem Holz gut Feuer machen«, antwortete Marten. »Es brennt sehr heiß und sauber. Es entsteht kaum Rauch, und der Rauch riecht nicht.«
»Nicht einmal, wenn das Holz noch grün ist«, ergänzte ich. »Dasselbe gilt für die Blätter. Sehr nützliche Bäume also. Sie wachsen nicht überall, aber ich habe hier schon welche gesehen.«
»Woher weiß du das eigentlich?«, fragte Dedan. »Du kommst doch aus der Stadt.«
»Dinge zu wissen ist mein Beruf«, erwiderte ich. »Und wie kommst du darauf, ich sei in einer Stadt aufgewachsen?«
Dedan zuckte nur mit den Schultern und wandte den Blick ab.
»Wir sollten also ab jetzt nur noch mit Kennelholz Feuer machen«, sagte ich. »Wenn wir nicht genug finden, verwenden wir es nur zum Kochen. Wenn wir gar keins finden, essen wir kalt. Haltet also die Augen offen.«
Alle nickten, Tempi ein wenig später als die anderen.
»Dann sollten wir noch abstimmen, was wir sagen, wenn wir den Banditen zufällig in die Arme laufen.« Ich sah Marten an. »Was sagst du, wenn sie dich beim Kundschaften erwischen?«
Marten sah mich überrascht an, zögerte aber nicht lange mit der Antwort. »Dass ich ein Wilderer bin.« Er zeigte auf seinen abgespannten Bogen, der an einem Baum lehnte. »Was der Wahrheit ja auch nahe kommt.«
»Woher stammst du?«
Er überlegte kurz. »Aus Crosson, einen Tagesmarsch westlich von hier.«
»Und du heißt?«
»M-Meris«, stotterte er. Dedan lachte.
Ich lächelte ebenfalls. »Sag lieber deinen richtigen Namen, das klingt überzeugender. Wenn sie dich also erwischen und wieder gehen
Marten sah mich unbehaglich an. »Ich soll bei ihnen bleiben?«
Ich nickte. »Wenn sie dich für dumm halten, werden sie erwarten, dass du in der ersten Nacht zu fliehen versuchst, wenn sie dich für klug halten, in der zweiten. In der dritten Nacht vertrauen sie dir schon ein wenig. Warte bis Mitternacht und schlage dann Alarm. Zünde ein Zelt an oder etwas in der Art. Wir warten, bis das Durcheinander auf dem Höhepunkt ist, und greifen dann an.«
Ich musterte die anderen drei. »Für euch gilt dasselbe. Ihr wartet bis zur dritten Nacht.«
»Aber wie willst du ihr Lager finden?«, fragte Marten. Auf seiner Stirn glänzte ein dünner Schweißfilm, was ich ihm nicht verdenken konnte. Wir spielten ein gefährliches Spiel. »Wenn sie mich fangen, kann ich euch nicht mehr helfen, sie zu suchen.«
»Ich werde sie auch gar nicht suchen, sondern euch«, sagte ich. »Euch finde ich überall.«
Ich sah mich um, in der Erwartung, dass zumindest Dedan etwas einwenden würde, doch niemand schien an meinen arkanen Fähigkeiten zu zweifeln. Ich hätte gern gewusst, was sie mir alles zutrauten.
In Wahrheit hatte ich mir in den vergangenen Tagen von jedem von ihnen heimlich ein Haar beschafft. Damit konnte ich für jeden im Handumdrehen ein provisorisches Pendel herstellen. Doch bezweifelte ich angesichts des in Vintas verbreiteten Aberglaubens, dass meine Gefährten darüber Genaueres wissen wollten.
»Und was sollen wir sagen?« Hespe klopfte Dedan mit dem Handrücken auf die Brust, und der harte Lederpanzer machte ein hohles Geräusch.
»Vielleicht, dass ihr unzufriedene Karawanenwächter seid, die beschlossen haben, selbst Banditen zu werden?«
Dedan schnaubte. »Daran habe ich tatsächlich schon manchmal gedacht.« Auf einen Blick von Hespe hin schnaubte er noch einmal. »Erzähl mir nicht, du hättest das noch nie getan. Tagelang im Regen zu marschieren, Bohnen zu essen und auf dem Boden zu schlafen,
Ich lächelte. »Du klingst sehr überzeugend.«
»Und er?« Hespe zeigte mit dem Daumen auf Tempi. »Niemand wird glauben, dass er Bandit werden will. Die Adem verdienen am Tag das Zehnfache von uns.«
»Das Zwanzigfache«, brummte Dedan.
Das war tatsächlich ein Problem. »Was sagst du, wenn die Banditen dich erwischen, Tempi?«
Tempi machte einige hastige Bewegungen und schwieg. Er sah mich nur kurz an, wandte den Blick wieder ab und schlug die Augen nieder. Ich wusste nicht, ob er überlegte oder nur verwirrt war.
»Ohne seine roten Kleider würde er nicht weiter auffallen«, meinte Marten. »Nicht einmal sein Schwert sieht nach etwas Besonderem aus.«
»Er sieht jedenfalls nicht so aus, als sei er zwanzig Mal so viel wert wie ich.« Dedan hatte leise gesprochen, aber nur so leise, dass ihn trotzdem alle hören konnten.
Auch ich hatte mir wegen der roten Kleider schon Gedanken gemacht. Ich hatte verschiedentlich versucht, den Adem in ein Gespräch darüber zu ziehen, aber genauso gut hätte ich versuchen können mit einer Katze zu sprechen.
Dass er das Wort »Meile« nicht kannte, hatte mir mit einiger Verspätung immerhin eines klargemacht: dass nämlich Aturisch nicht seine Muttersprache war. Ich selbst, der ich vor kurzem noch an der Universität versucht hatte, meine Kenntnisse in Siaru zu verbessern, konnte gut verstehen, dass man unter solchen Umständen lieber schwieg als zu reden und einen Narren aus sich zu machen.
»Er könnte sich wie wir etwas ausdenken«, meinte Hespe zweifelnd.
»Es ist schwer, überzeugend zu lügen, wenn man die Sprache nicht richtig beherrscht«, erwiderte ich.
Tempis helle Augen wanderten zwischen uns hin und her, doch er schwieg weiterhin.
»Menschen, die nicht gut sprechen können, werden oft unterschätzt«,
»Müsste er sich überhaupt dumm stellen?«, fragte Dedan leise. »Vielleicht ist er es ja.«
Tempi sah Dedan an. Seine Miene war noch immer unbewegt, doch sein Blick war schärfer geworden. Er holte ganz langsam Luft. »Stumm ist nicht dumm«, sagte er dann, ohne die Stimme zu erheben. »Du? Immer reden. Ratatatatat.« Er bewegte die Hand wie einen auf und zu gehenden Mund. »Immer. Wie ein Hund, der die ganze Nacht einen Baum anbellt. Du willst groß sein, aber du machst nur Lärm. Wie ein Hund.«
Ich hätte nicht lachen dürfen, aber ich war auf so etwas nicht gefasst gewesen. Einmal, weil ich Tempi für einen ruhigen, eher apathischen Menschen hielt, aber auch, weil er vollkommen recht hatte. Wenn Dedan ein Hund gewesen wäre, hätte er ständig wegen nichts gebellt, nur um des Bellens willen.
Trotzdem hätte ich nicht lachen dürfen, was ich aber tat. Hespe lachte auch und versuchte es zu unterdrücken, was noch schlimmer war.
Dedan lief vor Wut dunkelrot an und stand auf. »Komm her und sag das noch einmal.«
Tempi erhob sich mit unbewegtem Gesicht, ging um das Feuer und trat neben Dedan. Obwohl … wenn ich sage, er trat neben ihn, bekommt ihr vielleicht einen falschen Eindruck. Die meisten Menschen bleiben in zwei oder drei Schritt Entfernung stehen, wenn sie mit einem sprechen. Tempi dagegen ging so nah an Dedan heran, dass er ihn fast berührte. Als Nächstes hätte er ihn umarmen müssen.
Ich könnte lügen und sagen, alles sei so schnell gegangen, dass ich nicht hätte eingreifen können. Aber das stimmt nicht. Die Wahrheit ist, dass ich nicht wusste, wie ich eingreifen sollte. Dazu kam noch ein Zweites: Ich hatte inzwischen selber von Dedan genug.
Außerdem hatte ich Tempi noch nie so viel sprechen hören. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, benahm er sich wie ein Mensch und nicht wie eine Puppe, die zwar gehen, aber nicht sprechen konnte.
Tempi trat also so nahe an Dedan heran, dass er ihn hätte umarmen können. Dedan war einen ganzen Kopf größer als er und hatte breitere Schultern und eine breitere Brust. Tempi sah an ihm hinauf. Sein Gesicht zeigte auch jetzt keinerlei Gefühl, keine Herablassung, kein spöttisches Lächeln, nichts.
»Du bist nur ein Hund«, sagte Tempi leise. Er betonte alle Silben gleichmäßig. »Ein Hund, der viel Lärm macht.« Er hob die Hand und bewegte sie wieder wie einen sich öffnenden und schließenden Mund. »Ratatatatat.«
Dedan hob ebenfalls die Hand und stieß sie Tempi gegen die Brust. Ich habe so etwas in den Schenken in der Nähe der Universität zu Genüge erlebt. Wer einen solchen Stoß an die Brust bekommt, stolpert rückwärts, verliert das Gleichgewicht und fällt womöglich hin.
Nur dass Tempi nicht stolperte, sondern gelassen einen Schritt zurücktrat. Dann streckte er wie beiläufig den Arm aus und schlug Dedan seitlich an den Kopf, etwa so, wie Eltern einem ungezogenen Kind einen Klaps geben. Er schlug nur ganz leicht zu. Dedans Kopf bewegte sich nicht einmal, doch hörten wir ein puffendes Geräusch, und Dedans Haare standen auf einmal senkrecht vom Kopf ab wie bei der Samenkapsel der Seidenpflanze.
Dedan verharrte einen Augenblick reglos, als wisse er nicht, wie ihm geschah. Dann runzelte er die Stirn und hob beide Hände, um noch stärker zuzustoßen. Wieder wich Tempi mit einem Schritt nach hinten aus. Anschließend schlug er Dedan an die andere Seite des Kopfes.
Dedan knurrte wütend etwas und ballte die Hände zu Fäusten. Er war groß und stämmig, und als er die Arme hob, knarrte seine lederne Rüstung an den Schultern. Er wartete noch kurz, offenbar weil er hoffte, Tempi würde als Erster angreifen, dann holte er aus und schlug mit der Faust so heftig zu wie ein Bauernbursche mit einer Axt. Tempi sah den Schlag kommen und machte wieder nur einen Schritt zurück.
Doch dann ging plötzlich eine Veränderung mit Dedan vor. Er
Tempi wich dem ersten Schlag seitlich aus und parierte den zweiten, doch der dritte erwischte ihn an der Schulter, dass er sich um sich selbst drehte und nach hinten taumelte. Er zog sich mit zwei hastigen Schritten aus Dedans Reichweite zurück, fing sich wieder und schüttelte sich ein wenig. Dann lachte er entzückt.
Sein Lachen schien Dedan ein wenig zu besänftigen, denn er grinste seinerseits, doch senkte er die Fäuste nicht. Tempi trat trotzdem auf ihn zu, wich einem weiteren Faustschlag aus und schlug Dedan mit der flachen Hand ins Gesicht. Nicht auf die Wange, wie es Liebende tun, die sich auf der Bühne streiten, sondern von oben von der Stirn über das Gesicht zum Kinn.
»Nein!«, brüllte Dedan. »Verdammt noch mal!« Er wich zurück und hielt sich die Nase. »Was soll denn das?« Er sah Tempi zwischen den gespreizten Fingern seiner Hand hindurch an. »Du kämpfst wie eine Frau.«
Er zögerte, lachte und schlug Tempi kumpelhaft auf die Schulter. Ich erwartete schon halb, dass Tempi erneut vor der Berührung zurückweichen würde. Stattdessen erwiderte der Adem die Geste und hielt Dedan sogar an der Schulter fest und rüttelte spielerisch daran.
Sein Verhalten berührte mich seltsam, schließlich war er in den vergangenen Tagen so zurückhaltend gewesen, doch wollte ich nicht weiter darüber nachdenken. Mir war alles lieber als sein bisheriges Schweigen.
Außerdem hatte ich einen Eindruck von seinen Fähigkeiten als Krieger gewonnen. Dedan mochte es zugeben oder nicht, Tempi war ihm klar überlegen gewesen. Der Ruf der Adem war offensichtlich nicht aus der Luft gegriffen.
Tempi kehrte an seinen Platz zurück. Marten sah ihm nach. »Trotzdem fällt er mit seinen roten Kleidern auf«, sagte er, als sei nichts geschehen. »Genauso gut könnte er mit einer Fahne durch den Wald rennen.«
»Ich bespreche das mit ihm«, sagte ich. Wenn es Tempi peinlich war, sich auf Aturisch zu unterhalten, fand unser Gespräch besser
Die drei entfernten sich und suchten nach den besten Plätzen für ihre Decken. Tempi sah ihnen nach und drehte sich dann zu mir um. Nervös trat er einen Schritt zurück und blickte zu Boden.
»Tempi?«
Er legte den Kopf schräg und sah mich an.
»Wir müssen über deine Kleider sprechen.«
Seine Reaktion war dieselbe wie immer, wenn ich das Gespräch suchte. Seine Aufmerksamkeit schien nachzulassen und er senkte den Blick und sah zur Seite wie ein schmollendes Kind. Als hätte er keine Lust, mir zuzuhören.
Ich brauche euch nicht zu sagen, wie nervenzermürbend es ist, sich mit jemandem zu unterhalten, der einen nicht ansieht. Doch konnte ich mir nicht erlauben, gekränkt zu sein oder das Gespräch zu verschieben. Ich hatte schon zu lange damit gewartet.
»Tempi.« Ich unterdrückte das Bedürfnis, mit den Fingern zu schnippen, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Stattdessen wählte ich möglichst einfache Worte. »Deine Kleider sind rot«, sagte ich. »Sie sind leicht zu sehen. Das ist gefährlich.«
Tempi ließ lange keine Reaktion erkennen. Dann richtete er seine hellen Augen einen kurzen Moment auf mich und nickte genau einmal.
In mir keimte der schreckliche Verdacht, er könnte gar nicht begriffen haben, wozu wir hier waren. »Du hast doch verstanden, was wir tun wollen, ja?«
Tempis Blick wanderte zu der Zeichnung auf dem Boden und wieder zu mir. Er zuckte die Achseln und machte eine unbestimmte Handbewegung. »Was bedeutet ›vieles, aber nicht alles‹?«
Ich glaubte im ersten Moment, er stelle mir eine seltsame philosophische Frage, doch dann begriff ich, dass er die Bedeutung eines Wortes wissen wollte. Ich hob die Hand und hielt mit der anderen Hand zwei Finger fest. »Einiges.« Ich nahm vier Finger. »Das meiste.«
Tempi sah mir aufmerksam zu und nickte. »Das meiste«, sagte
»Wir suchen nach einigen Männern.« Er wandte den Blick wieder ab, sobald ich zu sprechen begann, und ich unterdrückte einen Seufzer. »Wir wollen sie finden.«
Tempi nickte. »Ja. Jagd auf Männer.« Er betonte das Wort. »Jagd auf visantha.«
Wenigstens wusste er, warum wir hier waren. »Rot?« Ich streckte die Hand aus und berührte einen der roten Lederriemen, mit denen sein Hemd um den Oberkörper geschnürt war. Das Leder war überraschend weich. »Hast du andere Kleider für die Jagd? Die nicht rot sind?«
Tempi sah an sich hinab. Dann nickte er, ging zu seinem Reisesack und zog ein schlichtes graues Hemd heraus. Er hielt es hoch. »Für die Jagd. Nicht zum Kämpfen.«
Ich war nicht sicher, ob ich den Unterschied verstand, ließ es aber dahingestellt. »Was tust du, wenn die visantha dir im Wald begegnen? Reden oder kämpfen?«
Er schien zu überlegen. »Kann nicht gut reden«, gestand er schließlich. »Visantha? Kämpfen.«
Ich nickte. »Gegen einen von ihnen ja. Bei zweien reden.«
Tempi hob die Schultern. »Kann auch gegen zwei kämpfen.«
»Und sie besiegen?«
Er zuckte wieder gleichgültig die Achseln und zeigte auf Dedan, der kleine Zweige vom Boden aufklaubte. »Wie ihn? Drei oder vier.« Er streckte die Hand mit dem Handteller nach oben aus, als wollte er mir etwas anbieten. »Bei drei Banditen: kämpfen. Bei vier: versuchen zu reden. Warten bis zur dritten Nacht. Dann …« Er machte eine seltsam verschlungene Bewegung mit beiden Händen. »Feuer in Zelte.«
Ich stellte erleichtert fest, dass er unsere Gespräche offenbar verstanden hatte. »Ja, gut. Danke.«
Wir nahmen eine ruhige Mahlzeit ein, bestehend aus Suppe, Brot und einem faden, gummiartigen Käse, den wir in Crosson gekauft hatten. Dedan und Hespe zankten sich, allerdings nicht ernsthaft, und ich stellte gemeinsam mit Marten Mutmaßungen über das Wetter der folgenden Tage an.
»Eins noch«, sagte Marten. »Was passiert, wenn die Banditen dich erwischen?« Er sah mich an. »Wir anderen wissen, was wir in so einem Fall zu tun haben: Wir gehen mit ihnen mit und du findest uns am dritten Tag.«
Ich nickte. »Und vergesst nicht, sie in Sicherheit zu wiegen.«
»Aber wenn sie nun dich erwischen? Ich kann nicht zaubern und weiß nicht, ob ich die Banditen bis zur dritten Nacht finde. Wahrscheinlich ja, aber garantieren kann ich es nicht.«
»Ich bin nur ein harmloser Musikant«, versicherte ich ihm. »Ich habe mich mit der Nichte des Barons Banbridge angelegt und hielt es für geraten, eine Weile im Wald zu verschwinden.« Ich grinste. »Vielleicht rauben sie mich aus, aber da ich nicht viel bei mir habe, lassen sie mich wahrscheinlich laufen. Ich kann gut reden und sehe nicht aus, als könnte ich ihnen gefährlich werden.«
Dedan brummte etwas, das ich Gott sei Dank nicht verstand.
»Aber Marten hat recht«, beharrte Hespe. »Was ist, wenn sie dich doch mitnehmen?«
Das hatte ich noch nicht überlegt. Doch der Abend sollte nicht in allgemeiner Ratlosigkeit enden, deshalb lächelte ich mein zuversichtlichstes Lächeln. »Wenn sie mich mitnehmen, töte ich sie einfach alle.« Ich zuckte scheinbar unbekümmert die Schultern. »Anschließend kehre ich zu euch ins Lager zurück.« Grinsend klopfte ich auf den Boden neben mir.
Ich hatte einen Scherz machen wollen. Zumindest Marten würde gewiss über meine Antwort lachen. Doch ich hatte unterschätzt, wie tief der Aberglauben in Vintas verwurzelt ist. Auf meine Worte folgte nur unbehagliches Schweigen.
Danach versiegte das Gespräch. Wir losten aus, wer wann die Wache zu übernehmen hatte, löschten das Feuer und legten uns schlafen.