Kapitel 30 Kostbarer als Salz
Heute«, verkündete Elodin frohgemut, »sprechen wir über Dinge, über die man nicht sprechen kann. Genauer gesagt, diskutieren wir darüber, warum man über manche Dinge nicht diskutieren kann.«
Ich seufzte und setzte den Bleistift ab. Jedes Mal hoffte ich aufs Neue, dass uns Elodin in seinem Seminar tatsächlich etwas beibringen würde. Jedes Mal brachte ich eine Schreibunterlage und ein paar kostbare Blätter Papier mit, um die gewonnenen Erkenntnisse sofort festzuhalten. Jedes Mal erwartete ich insgeheim, dass Elodin lachend eingestehen würde, dass sein ewiger Blödsinn nur dazu dienen sollte, unsere Entschlossenheit auf die Probe zu stellen.
Und jedes Mal wurde ich aufs Neue enttäuscht.
»Die meisten wichtigen Dinge lassen sich nicht einfach so sagen«, sagte Elodin. »Man kann sie nicht klipp und klar formulieren. Man muss sie indirekt zum Ausdruck bringen.« Er sah die Hand voll Studenten in dem fast leeren Hörsaal an. »Nennt mir etwas, das sich nicht erklären lässt.« Er deutete auf Uresh. »Los.«
Uresh überlegte einen Moment lang. »Humor. Wenn man einen Witz erst erklären muss, ist es kein Witz mehr.«
Elodin nickte und richtete den Finger auf Fenton.
»Namenskunde?«, sagte der.
»Das ist eine allzu naheliegende Antwort, Re’lar«, erwiderte Elodin mit tadelndem Unterton. »Aber da du damit das Thema meines Vortrags korrekt erkannt hast, werde ich dir das durchgehen lassen.« Er zeigte auf mich.
»Es gibt nichts, was sich nicht erklären ließe«, sagte ich im Brustton der Überzeugung. »Wenn man etwas verstehen kann, kann man
Elodin hob einen Zeigefinger. »Nicht schwierig oder unmöglich, sondern lediglich sinnlos. Manche Dinge kann man eben nur indirekt zu verstehen geben.« Er lächelte mich auf eine Weise an, die mich fast zur Weißglut trieb. »Übrigens: Deine Antwort hätte ›Musik‹ lauten sollen.«
»Musik erklärt sich selbst«, entgegnete ich. »Sie ist eine Straße und die Landkarte, auf der die Straße verzeichnet ist. Sie ist beides zugleich.«
»Aber kann man erklären, wie Musik funktioniert?«, fragte Elodin.
»Natürlich kann man das«, sagte ich, obwohl ich mir da alles andere als sicher war.
»Kannst du erklären, wie Musik funktioniert, ohne dabei zu musizieren?«
Das brachte mich erst mal zum Schweigen. Während ich noch grübelte, was ich darauf antworten sollte, wandte sich Elodin an Fela.
»Liebe?«, sagte sie.
Elodin hob eine Augenbraue, als wäre er ein wenig empört, nickte dann aber anerkennend.
»Moment mal«, sagte ich. »Wir waren noch nicht fertig. Ich weiß nicht, ob ich Musik erklären könnte, ohne dabei zu musizieren, aber das ist doch auch überhaupt nicht der Punkt. Das wäre ja keine Erklärung, sondern eine Übersetzung.«
Elodins Augen leuchteten auf. »Genau!«, sagte er. »Eine Übersetzung! Dargelegtes Wissen ist stets übersetztes Wissen. Und Übersetzungen sind per se unvollkommen.«
»Dann ist also dargelegtes Wissen per se unvollkommen?«, fragte ich. »Erzählt doch mal Meister Brandeur, dass die Geometrie eine rein subjektive Angelegenheit ist. Auf diese Diskussion wäre ich wirklich gespannt.«
»Nicht alles dargelegte Wissen«, räumte Elodin ein. »Aber das meiste.«
»Beweist es«, sagte ich.
Ich knirschte mit den Zähnen. Es war tatsächlich ein Logikfehler, und das wäre mir niemals unterlaufen, wenn ich ausgeruhter gewesen wäre. »Dann zeigt es an einem Beispiel«, sagte ich.
»Gern.« Elodin ging zu Fela hinüber. »Wir werden Fela als Beispiel verwenden.« Er nahm ihre Hand und hieß sie damit aufzustehen, und mich wies er mit einer Geste an, mich ebenfalls zu erheben.
Ich gehorchte widerwillig, und dann stellte Elodin uns beide so auf, dass wir einander ansahen und dem Auditorium das Profil zuwandten. »Wir haben hier zwei hübsche junge Menschen«, sagte er. »Ihre Blicke begegnen sich.«
Elodin schob mich an der Schulter voran, und ich ging einen halben Schritt auf Fela zu. »Er sagt hallo. Sie sagt hallo. Sie lächelt. Er tritt beklommen von einem Fuß auf den anderen.« Ich hörte auf, mich genau so zu verhalten, und von unseren Kommilitonen kam ein wenig Gelächter.
»Es liegt etwas in der Luft«, sagte Elodin und stellte sich hinter Fela. Er legte ihr beide Hände auf die Schultern und beugte sich zu ihrem Ohr hin. »Sie findet seine Gestalt hinreißend«, sagte er leise. »Sein Mund erscheint ihr verlockend. Sie fragt sich, ob er womöglich der Richtige ist, ob sie ihm die Geheimnisse ihres Herzens offenbaren könnte.« Fela schlug die Augen nieder, und ihre Wangen röteten sich.
Nun stellte sich Elodin hinter mich. »Kvothe sieht sie an, und zum ersten Mal kann er den Impuls nachempfinden, der Männer dazu gebracht hat, zu malen … Bilder in Marmor zu hauen … zu singen.«
Er stellte sich seitlich zwischen uns, wie ein Priester bei einer Trauung. »Zwischen den beiden bestehen zarte Bande. Sie spüren es. Es liegt in der Luft.«
Er sah mich an, und seine dunklen Augen blickten ernst. »Also. Was machst du jetzt?«
Ich erwiderte seinen Blick. Ich kam mir vollkommen verloren vor. Wenn es etwas gab, wovon ich noch weniger verstand als von Namenskunde, dann Frauen den Hof zu machen.
»Von hier zweigen drei Pfade ab«, sagte Elodin zum Seminar. Er hielt einen Finger empor. »Der erste Pfad. Unsere jungen Liebenden
Elodin legte eine Kunstpause ein. »Dies ist der Pfad der aufrichtigen Dummköpfe, und er führt zu keinem guten Ende. Was zwischen euch besteht, ist zu flüchtig, um es in Worte zu fassen. Es ist ein so schwacher Funke, dass selbst der vorsichtigste Atemhauch ihn zum Erlöschen bringen könnte.«
Der Meister der Namenskunde schüttelte den Kopf. »Selbst wenn ihr sehr klug und redegewandt seid, seid ihr auf diesem Pfad zum Scheitern verurteilt. Denn auch wenn eure Münder die gleiche Sprache sprechen – eure Herzen tun das keineswegs.« Er sah mich eindringlich an. »Es ist ein Übersetzungsproblem.«
Nun hob Elodin zwei Finger. »Auf dem zweiten Pfad lässt man mehr Vorsicht walten. Ihr plaudert miteinander über Kleinigkeiten – über das Wetter oder über ein Theaterstück, das ihr beide gesehen habt. Ihr verbringt viel Zeit miteinander. Ihr haltet Händchen. Und dabei lernt ihr ganz allmählich, was die Worte des anderen wirklich bedeuten. Wenn dann die Zeit gekommen ist, sich einander zu offenbaren, könnt ihr die feinsten Bedeutungsnuancen wahrnehmen, und es kann zwischen euch zu einem wirklichen Verständnis kommen.«
Nun wies Elodin mit großer Geste auf mich. »Und dann gibt es da noch den dritten Pfad. Den Pfad des Kvothe.« Er stellte sich direkt hinter mich, mit Blick auf Fela. »Du spürst etwas zwischen euch, etwas Wunderbares, Zartes.«
Er seufzte schmachtend. »Und weil dir Gewissheit in allen Lebenslagen das Wichtigste ist, beschließt du, die Sache ohne Umschweife anzugehen. Du schlägst dabei den kürzestmöglichen Weg ein, denn du denkst dir: Je einfacher, desto besser.« Elodin streckte die Hände aus und machte grapschende Bewegungen in Felas Richtung. »Und deshalb greifst du nach den Brüsten dieser jungen Frau.«
Es gab verblüfftes Auflachen, von allen, nur nicht von Fela und mir. Ich blickte finster. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, und die Röte lief ihr nun auch den Hals hinab, bis unter den Ausschnitt.
Elodin wandte ihr den Rücken zu und sah mir in die Augen.
lehren.« Er beugte sich vor, bis sein Gesicht fast das meine berührte. »Hör auf, nach meinen Brüsten zu grapschen.«
Ich verließ Elodins Seminar miserabel gelaunt.
Aber ehrlich gesagt war ich in den vergangenen Tagen durchgehend miserabel gelaunt gewesen. Ich versuchte es zwar vor meinen Freunden zu verbergen, aber diese ganze Belastung war allmählich doch zu viel für mich.
Der Verlust meiner Laute hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Alles andere hatte ich ertragen – das Brennen auf meiner Brust, die ewigen Schmerzen in meinen Knien, den chronischen Schlafmangel und die ständige Furcht, ich könnte im falschen Moment mein Alar vernachlässigen und würde plötzlich anfangen, Blut zu spucken.
Das alles hatte ich ebenso ertragen wie meine Armut, die bittere Enttäuschung über Elodins Seminar und auch die neue, unterschwellige Furcht, die mir das Wissen einflößte, dass Devi drüben, auf der andere Seite des Flusses, auf der Lauer lag, mit einem Herzen voller Zorn, drei Tropfen von meinem Blut und einem Alar, das so stark war wie der stürmische Ozean.
Doch der Verlust meiner Laute war schlicht und einfach zu viel für mich gewesen. Es war nicht nur, dass ich sie brauchte, um mir Kost und Logis im ANKER’S zu verdienen. Und es war auch nicht nur, dass meine Fähigkeit, meinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, falls ich die Universität verlassen musste, völlig von meiner Laute abhing.
Nein. Es war ganz einfach so: Wenn ich meine Musik hatte, konnte ich alles andere ertragen. Meine Musik war der Leim, der mich zusammenhielt. Nur zwei Tage ohne meine Musik, und ich begann in die Brüche zu gehen.
Nach Elodins Seminar konnte ich den Gedanken nicht ertragen,
Daher ging ich stattdessen ins ANKER’S zurück, um ein frühes Mittagsmahl zu mir zu nehmen. Ich muss einen ziemlich jämmerlichen Eindruck gemacht haben, denn Anker brachte mir zu meiner Suppe zwei Extrastreifen Speck und ein kleines Bier.
»Wie war denn das Abendessen? Wenn’s dich nicht stört, dass ich frage«, sagte Anker und lehnte sich an den Tresen.
Ich sah ihn an. »Wie bitte?«
»Mit der jungen Dame«, sagte er. »Ich stecke meine Nase nicht in die Post anderer Leute, das weißt du, aber der Bote hat den Brief kommentarlos und ohne Anschrift abgegeben. Ich musste ihn lesen, um zu sehen, für wen er war.«
Nun blickte ich Anker vollkommen verständnislos an.
Er wiederum guckte verdutzt und runzelte die Stirn. »Hat Laurel dir den Brief etwa nicht gegeben?«
Ich schüttelte den Kopf, und Anker fluchte. »Dieses Mädchen hat doch wirklich weiter nichts als Watte zwischen den Ohren, verdammt noch mal.« Er kramte hinterm Tresen herum. »Den hat ein Bote vorgestern für dich abgegeben. Ich hab ihr gesagt, sie soll ihn dir sofort geben, wenn du nach Hause kommst. Ah, da ist er ja.« Er zog einen feucht gewordenen und ziemlich beschmutzten Zettel hervor und überreichte ihn mir.
Darauf stand:
Lieber Kvothe,
ich bin wieder in der Stadt und würde mich heute beim Abendessen sehr über die Gesellschaft eines charmanten Gentlemans freuen. Leider ist keiner verfügbar. Darf ich Dich in die FASSDAUBE einladen?
Mit erwartungsvollen Grüßen
D.
Da schöpfte ich frischen Mut. Briefe von Denna waren eine seltene Freude, und sie hatte mich noch nie zu einem Abendessen eingeladen.
Ich schlang mein Mittagsmahl hinunter und beschloss, meine Siaru-Vorlesung sausen zu lassen und stattdessen einen Ausflug nach Imre zu unternehmen. Ich hatte Denna seit über einer Spanne nicht gesehen, und ihre Gegenwart erschien mir als das Einzige, was meine Stimmung jetzt noch retten konnte.
Meine Begeisterung bekam einen kleinen Dämpfer, als ich den Fluss überquerte. Es war ein langer Marsch, und noch bevor ich bei der Steinbrücke angelangt war, begannen meine Knie zu schmerzen. Zwar schien die Sonne, doch der helle Sonnenschein vermochte nichts gegen den vorwinterlich kalten Wind auszurichten. Straßenstaub wehte mir in die Augen und machte mir das Atmen schwer.
Denna war in keinem der Gasthäuser, in denen sie normalerweise abstieg. Sie lauschte auch nicht im ZAPFHAHN oder in der BOCKSPFORTE der Musik. Weder Deoch noch Stanchion hatten sie gesehen. Ich fürchtete schon, sie könnte die Stadt bereits wieder verlassen haben. Womöglich blieb sie nun monatelang fort. Womöglich kam sie nie mehr wieder.
Dann bog ich um eine Ecke und sah sie in einem kleinen Park unter einem Baum sitzen. Sie hielt einen Brief in der einen Hand und einen angebissenen Pfirsich in der anderen. Wo hatte sie so spät im Jahr einen Pfirsich her?
Ich war schon halb durch den Park und bei ihr, als ich sah, dass sie weinte. Ich blieb abrupt stehen und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte ihr helfen, wollte sie aber auch nicht stören.
»Kvothe!«
Denna warf den Pfirsichrest beiseite, sprang auf und lief über den Rasen auf mich zu. Sie lächelte, aber ihre Augen waren rot gerändert. Mit einer Hand wischte sie sich über die Wangen.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
Neue Tränen schossen ihr in die Augen, doch bevor sie ihr über die Wangen laufen konnten, kniff sie die Augen zu und schüttelte energisch den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Ganz und gar nicht.«
Denna tupfte sich mit dem Ärmel die Augen trocken. »Du hilfst mir schon, indem du einfach bei mir bist.« Sie faltete den Brief zusammen und steckte ihn ein. Dann lächelte sie wieder, und dieses Lächeln war nicht gezwungen oder maskenhaft. Nein, sie lächelte aufrichtig, und ihr Lächeln war trotz der Tränen wunderschön.
Dann aber neigte sie den Kopf zur Seite und sah mich aufmerksam an, und ihr Lächeln wich einem besorgten Blick. »Und wie geht’s dir?«, fragte sie. »Du siehst abgehärmt aus.«
Ich lächelte matt. Mein Lächeln war gezwungen, und das wusste ich. »Ich hab’s in letzter Zeit nicht ganz leicht gehabt.«
»Es geht dir hoffentlich nicht so schlecht, wie du aussiehst«, sagte sie liebevoll. »Hast du nicht genug Schlaf bekommen?«
»Nein«, gestand ich.
Denna setzte schon an, etwas zu sagen, hielt dann aber inne und biss sich auf die Lippen. »Möchtest du darüber reden?«, fragte sie. »Ich weiß nicht, ob ich dir irgendwie helfen kann, aber …« Sie zuckte die Achseln. »Ich schlafe zur Zeit auch schlecht. Ich weiß, wie das ist.«
Ihr Angebot, mir zu helfen, traf mich unvorbereitet. Ich fühlte mich dabei … Ich kann nicht genau beschreiben, wie ich mich dabei fühlte. Es lässt sich nicht so einfach in Worte fassen.
Es war nicht das Hilfsangebot selbst. Auch meine Freunde hatten mir in den vergangenen Tagen unermüdlich geholfen. Aber Sims Bereitschaft, mir zu helfen, war etwas anderes, war so verlässlich und elementar wie Brot. Aber zu wissen, dass Denna sich um mich sorgte – das war wie ein Schluck warmer Wein in einer Winternacht. Wohlige Wärme erfüllte meine Brust.
Ich lächelte sie an – mit einem richtigen Lächeln. Dieser Ausdruck fühlte sich auf meinem Gesicht geradezu seltsam an, und ich fragte mich, wie lange ich wohl schon ununterbrochen finster dreingeschaut hatte, ohne es zu bemerken. »Du hilfst mir schon, indem du einfach nur hier bist«, sagte ich ganz aufrichtig. »Dich einfach nur zu sehen, wirkt Wunder, was meine Stimmung angeht.«
Sie verdrehte die Augen. »Aber klar doch. Der Anblick meines verheulten Gesichts ist ja das Allheilmittel schlechthin.«
Denna schnaubte halb belustigt, halb schwermütig. »So was ist mir natürlich noch nie passiert«, sagte sie mit einem ironischen Zug um den Mund. »Das ist am schlimmsten: Wenn man eine Dummheit begangen hat und selbst schuld daran ist. Nicht wahr?«
»Ja«, sagte ich. »Aber ehrlich gesagt wäre mir jetzt ein wenig Ablenkung fast lieber als ein offenes Ohr.«
»Auch das kann ich dir bieten«, sagte sie und nahm meinen Arm. »Das hast du ja weiß Gott auch schon oft genug für mich getan.«
Ich ging neben ihr her. »Habe ich das?«
»Unzählige Male«, sagte sie. »Es vergisst sich leicht, wenn ich dich um mich habe.« Sie blieb stehen, und da sie sich bei mir untergehakt hatte, musste ich auch stehen bleiben. »Nein, das ist nicht richtig. Ich wollte sagen: Wenn ich dich um mich habe, fällt das Vergessen leicht.«
»Vergessen? Was denn vergessen?«
»Alles«, sagte sie und klang dabei gar nicht mehr so neckisch. »Die ganzen unangenehmen Dinge in meinem Leben. Wer ich bin. Es ist schön, wenn man ab und zu mal gewissermaßen von sich selbst freinehmen kann, und dabei hilfst du mir. Du bist mein sicherer Hafen an der unendlich großen, stürmischen See.«
Da musste ich lachen. »Bin ich das?«
»Ja, das bist du«, sagte sie. »Du bist meine Schatten spendende Weide an einem sonnigen Tag.«
»Und du«, sagte ich, »bist wie schöne Musik in einem fernen Zimmer.«
»Das ist gut«, sagte sie. »Du bist wie ein Kuchen, den man an einem verregneten Nachmittag unerwarteterweise geschenkt bekommt.«
»Und du bist der Wickel, der das Gift aus meinem Herzen zieht«, sagte ich.
»Hm.« Denna guckte skeptisch. »Also, ich weiß nicht. Ein Herz voller Gift, das ist keine sehr reizvolle Vorstellung.«
»Ja, stimmt«, sagte ich. »Das habe ich auch gerade bemerkt, als ich’s ausgesprochen habe.«
»Ich habe ihn leider heute erst bekommen«, sagte ich und ließ mein ganzes Bedauern in meinen Tonfall einfließen. »Vor ein paar Stunden erst.«
»Ach so«, sagte sie. »Sehr schade. Das Essen war wirklich gut. Ich hab deine Portion mit verputzt.«
Ich suchte nach Worten, aber sie lächelte nur und schüttelte den Kopf. »Ich zieh dich doch bloß auf. Das Abendessen war eigentlich nur ein Vorwand. Ich habe nämlich etwas, das ich dir zeigen möchte. Und du bist schwierig aufzutreiben. Ich dachte schon, ich müsste bis morgen warten, wenn du wieder im ANKER’S auftrittst.«
Der Gedanke daran versetzte mir einen solchen Stich, dass nicht einmal Dennas Gegenwart mich gänzlich darüber hinwegtrösten konnte. »Dann ist es umso mehr ein Glück, dass wir uns heute sehen«, sagte ich. »Ich weiß nämlich noch gar nicht, ob ich morgen überhaupt auftreten werde.«
Sie sah mich fragend an. »Aber du singst da doch immer am Fellingabend. Ändere das bitte nicht. Es ist für mich schon schwierig genug, dich zu finden.«
»Du musst gerade reden«, sagte ich. »Dich finde ich doch nie zweimal am gleichen Ort.«
»Ja, du machst natürlich nie was anderes als nach mir zu suchen«, erwiderte sie wegwerfend und setzte dann ein aufgeregtes Lächeln auf. »Aber darum geht’s jetzt nicht. Komm. Ich habe etwas, das dich garantiert ablenken wird.« Sie ging schneller und zog mich am Arm.
Ihre Begeisterung war ansteckend, und ich ertappte mich dabei, ebenfalls zu lächeln, während ich ihr durch die Straßen und Gassen von Imre folgte.
Wir blieben schließlich vor einem kleinen Laden stehen. Denna stellte sich vor mich, ganz außer sich vor Aufregung. Dass sie gerade noch geweint hatte, war ihr nicht mehr anzusehen, und ihre Augen strahlten. Sie legte mir eine kühle Hand aufs Gesicht. »Mach die Augen zu«, sagte sie. »Es ist eine Überraschung.«
Ich schloss die Augen, und sie führte mich an der Hand in das Geschäft hinein. Der Raum war schummrig beleuchtet, und es duftete
»Bist du bereit?«, flüsterte mir Denna ins Ohr. Ich hörte, dass sie lächelte, und ihr Atem kitzelte mich ein wenig.
»Das weiß ich nicht«, sagte ich ganz aufrichtig.
Ich spürte den Atem des Lachens, das sie zurückhielt, an meinem Ohr. »Also gut. Jetzt darfst du die Augen wieder aufmachen.«
Als ich die Augen öffnete, sah ich einen älteren Mann hinter einem langen Ladentresen stehen. Aufgeschlagen wie ein Buch lag vor ihm auf dem Tresen ein leerer Lautenkasten. Denna hatte ein Geschenk für mich gekauft. Ein neuer Kasten für meine Laute. Für die Laute, dir mir gestohlen worden war.
Ich trat näher heran. Der Kasten war schlank und mit glattem, schwarzem Leder bezogen. Er hatte keine Scharniere. Stattdessen waren rings um den Rand sieben blanke Stahlverschlüsse angebracht, so dass sich das Oberteil wie ein Deckel abnehmen ließ.
Das Innere war mit Samt gefüttert. Ich berührte den Stoff, und das Futter war weich, aber auch elastisch, wie ein Schwamm. Das Samtgewebe war fast fingerdick und dunkelburgunderrot.
Der Mann hinter dem Tresen lächelte. »Die Dame hat Geschmack«, sagte er. »Und sie weiß, was sie will.«
Er hob den Deckel an. »Das Leder ist eingefettet und gewachst. Es ist doppellagig, und das Gerippe darunter ist aus einem speziellen Ahornholz.« Er fuhr mit einem Finger an der unteren Kastenhälfte entlang und wies dann auf die entsprechende Nut in der oberen Hälfte. »Der Kasten schließt absolut luftdicht. Man muss sich also keine Sorgen machen, wenn man ihn von einem feuchtwarmen Raum in die eiskalte Nacht hinaus trägt.«
Nun ließ er die Verschlüsse nacheinander zuschnappen. »Die Dame wollte kein Messing. Ich habe daher Edelstahl verwendet. Wenn die Verschlüsse zu sind, liegt das Oberteil auf einer Dichtung auf. Man könnte den Kasten also in einen Fluss werfen, und auch wenn er untertauchen würde, bliebe das Samtfutter innendrin knochentrocken.« Er zuckte die Achseln. »Irgendwann würde das Leder natürlich durchweichen. Aber dagegen ist kein Kraut gewachsen.«
Er musterte mich. »Ihr könntet Euch auf den Deckel stellen, und der Kasten würde nicht eindrücken.« Er schürzte ein wenig die Lippen und blickte zu meinen Füßen hinab. »Aber mir wär’s lieber, wenn Ihr das nicht tun würdet.«
Dann drehte er den Kasten wieder auf die richtige Seite. »Ich muss sagen, das ist möglicherweise der beste Lautenkasten, den ich in den letzten zwanzig Jahren gebaut habe.« Er schob ihn mir über den Tresen entgegen. »Ich hoffe, Ihr werdet damit zufrieden sein.«
Etwas sehr Seltenes geschah: Ich war sprachlos. Ich streckte eine Hand aus und strich über das Leder. Es war glatt und fühlte sich warm an. Ich berührte die Stahlringe, die zur Befestigung des Schulterriemens gedacht waren. Dann sah ich zu Denna hinüber, die vor Freude geradezu tänzelte.
Sie trat zu mir. »Das ist das Beste«, sagte sie und öffnete die Verschlüsse mit einer Leichtigkeit, der man ansah, dass sie das nicht zum ersten Mal machte. Sie nahm die Oberseite ab und betastete das Innere mit den Fingerspitzen. »Das Futter lässt sich herausnehmen und austauschen. In diesen Kasten passt also auch jede Laute, die du künftig mal besitzen wirst. Und schau mal!« Sie drückte in der Mulde für den Lautenhals zwei Finger in den Samt und drehte sie um. Ein kleiner Deckel löste sich, und darunter kam ein verborgenes Fach zum Vorschein. Ein Lächeln ging über Dennas Gesicht. »Das war auch meine Idee. Ein Geheimfach.«
»Um Gottes willen, Denna«, sagte ich. »Das muss dich doch ein Vermögen gekostet haben.«
»Na ja«, sagte sie mit gespielter Bescheidenheit. »Ich hatte ein bisschen war beiseite gelegt.«
Ich fuhr mit der Hand über das Samtfutter. »Nein, ich meine das im Ernst. Dieser Kasten muss doch so viel gekostet haben wie meine
»Wenn Ihr mir die Bemerkung gestattet, Sir«, sagte der Mann hinter dem Ladentresen. »Wenn diese Laute nicht gerade aus massivem Silber besteht, dürfte der Kasten deutlich kostspieliger sein.«
Ich fuhr mit beiden Händen über den Deckel und fühlte mich immer elender. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wie sollte ich ihr, nachdem sie dieses wunderschöne Geschenk für mich hatte anfertigen lassen, gestehen, dass meine Laute geraubt worden war?
Denna lächelte aufgeregt. »Dann wollen wir doch mal sehen, wie deine Laute hineinpasst!«
Sie machte eine Handbewegung, und daraufhin holte der Mann meine Laute unter dem Tresen hervor und legte sie in den Kasten. Sie passte perfekt hinein.
Ich brach in Tränen aus.
»Oh Gott, ist mir das peinlich«, sagte ich und schnäuzte mich in ein Taschentuch.
Denna berührte mich sacht am Arm. »Es tut mir so leid«, sagte sie zum vierten Mal.
Wir saßen auf dem Bordstein vor dem kleinen Laden. Es war schon schlimm genug, dass ich vor Denna losgeheult hatte wie ein Schlosshund, da wollte ich mich nicht auch noch unter den Augen des Ladeninhabers wieder beruhigen.
»Ich wollte nur sichergehen, dass sie gut hineinpasst«, sagte Denna mit schmerzerfülltem Blick. »Und dann habe ich dir den Brief geschrieben. Du solltest zum Abendessen kommen, und dabei hätte ich dich damit überrascht. Du hättest gar nicht bemerken sollen, dass die Laute weg war.«
»Es ist schon gut«, sagte ich.
»Offensichtlich nicht«, erwiderte sie, und nun kamen auch ihr die Tränen. »Als du nicht kamst, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ich habe gestern Abend überall nach dir gesucht. Ich habe an deine Tür
»Denna«, sagte ich. »Es ist alles in Ordnung.«
Sie schüttelte energisch den Kopf und wich meinem Blick aus, und Tränen liefen ihr über die Wangen. »Es ist nicht in Ordnung. Ich hätte es wissen müssen. Du hältst diese Laute in den Händen, als wäre sie dein Kind. Wenn mich jemals in meinem Leben jemand so angesehen hätte, wie du diese Laute ansiehst …«
Ihr versagte die Stimme, und sie schluckte, ehe die Worte wieder aus ihr hervorströmten. »Ich wusste ja, dass sie für dich das Wichtigste im Leben ist. Deshalb wollte ich dir etwas schenken, worin du sie sicher aufbewahren kannst. Ich bin bloß nicht auf den Gedanken gekommen, dass …« Sie schluckte erneut und ballte die Hände zu Fäusten. Sie war am ganzen Körper so angespannt, dass sie beinahe bebte. »Oh Gott. Ich bin so dumm! Nie denke ich nach. Das passiert mir immer wieder. Ich mache immer alles kaputt.«
Das Haar war ihr vors Gesicht gefallen, so dass ich es nicht mehr sehen konnte. »Was stimmt denn bloß nicht mit mir?«, fragte sie leise. »Wieso bin ich so ein Idiot? Wieso kann ich im Leben nicht ein Mal etwas richtig machen?«
»Denna.« Ich musste sie unterbrechen, denn sie hielt kaum inne, um Luft zu holen. Ich legte ihr eine Hand auf den Arm, und sie hielt inne und schwieg. »Denna, das konntest du unmöglich wissen«, sagte ich. »Wie lange spielst du jetzt ein Instrument? Seit einem Monat? Und hast du jemals selbst ein Instrument besessen?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war immer noch unter ihrem Haar verborgen. »Ich hatte damals diese Leier«, sagte sie. »Aber die hatte ich erst seit ein paar Tagen, als das Haus niederbrannte.« Nun blickte sie endlich wieder auf, und ihr Gesicht war ein Bild des Jammers. Augen und Nase waren gerötet. »So was passiert mir ständig. Ich will etwas Gutes tun, aber dann geht irgendwie alles schief.« Sie sah mich zerknirscht an. »Du weißt nicht, wie das ist.«
Ich lachte. Es war ein erstaunlich schönes Gefühl, wieder einmal zu lachen. Das Gelächter kam tief aus meinem Bauch und scholl aus meiner Kehle hervor wie die Klänge eines goldenen Horns. Dieses
»Ich weiß ganz genau, wie das ist«, sagte ich und spürte die Schmerzen in meinen Knien und die halb verheilten Narben auf meinem Rücken. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, ihr zu erzählen, was für ein Desaster ich bei dem Versuch angerichtet hatte, ihren Ring wiederzubeschaffen. Dann dachte ich aber, dass es sie nicht unbedingt aufheitern würde, wenn sie erfuhr, dass Ambrose mir ständig nach dem Leben trachtete. »Denna, ich bin der Fürst der guten Ideen, die schrecklich schiefgehen.«
Da lächelte sie. Und dann schniefte sie und rieb sich mit dem Ärmel über die Augen. »Wir sind ein hübsches Pärchen, wir zwei heulenden Idioten, nicht wahr?«
»Ja, das sind wir«, sagte ich.
»Es tut mir leid«, sagte sie schließlich, und ihr Lächeln verschwand wieder. »Ich wollte nur etwas Nettes für dich tun. Aber ich bin einfach nicht gut in so was.«
Ich nahm Dennas Hand in beide Händen und küsste sie. »Denna«, sagte ich vollkommen aufrichtig, »das ist das Liebste, was jemals jemand für mich getan hat.«
Sie schnaubte nicht sehr damenhaft.
»Das ist die reine Wahrheit«, sagte ich. »Du bist mein leuchtender Penny am Wegesrand. Du bist kostbarer als Salz und wertvoller als der Mond auf einem langen Marsch durch die Nacht. Du bist wie süßer Wein in meinem Mund, wie ein Lied in meiner Kehle, wie Heiterkeit in meinem Herzen.«
Dennas Wangen röteten sich, doch ich fuhr unbekümmert fort.
»Du bist viel zu gut für mich«, sagte ich. »Du bist ein Luxus, den ich mir gar nicht leisten kann. Dennoch bestehe ich darauf, dass du heute mit mir ausgehst. Ich werde dich zum Essen einladen und dir stundenlang von deiner allumfassenden Wunderbarkeit vorschwärmen.«
Ich stand auf und zog sie mit mir empor. »Ich werde Musik für dich spielen. Ich werde Lieder für dich singen. Und den ganzen weiteren Nachmittag kann der Rest der Welt uns gestohlen bleiben.« Ich neigte den Kopf zur Seite und verwandelte es so in eine Frage.
Stunden später ging ich beschwingten Schritts zur Universität zurück. Ich pfiff und sang, und die Laute ruhte leicht wie ein Kuss auf meiner Schulter. Die Sonne schien wohltuend warm, und der kühle Wind erfrischte mich.
Es ging wieder aufwärts mit mir.