Kapitel 39 Widersprüche

Spät am nächsten Vormittag ging ich mit Wil in die Bibliothek. Dort wollten wir uns mit Sim treffen, um den Ausgang der am Vorabend geschlossenen Wetten zu klären.

»Das Problem ist sein Vater«, erklärte mir Wil mit leiser Stimme, während wir zwischen den grauen Gebäuden hindurchgingen. »Er hat ein Herzogtum in Atur. Es ist gutes Land, aber –«

»Moment mal«, unterbrach ich ihn. »Der Vater unseres kleinen Sim ist ein Herzog?«

»Unser kleiner Sim«, bemerkte Wilem trocken, »ist drei Jahre älter und ein ganzes Stück größer als du.«

»Welches Herzogtum ist es denn?«, fragte ich. »Und er ist nicht so viel größer, das stimmt nicht.«

»Dalonir«, sagte Wilem. »Aber du weißt ja, wie das ist. Ein Adliger aus Atur. Kein Wunder, dass er nicht darüber spricht.«

»Also bitte«, sagte ich und wies auf die Studenten auf der Straße rings um uns her. »Mal von der Zeit abgesehen, bevor die Kirche Caluptena niederbrennen ließ, ist diese Universität doch wirklich der Ort, an dem die aufgeschlossenste Atmosphäre herrscht.«

»Mir ist aufgefallen, dass du auch nicht laut darüber sprichst, dass du ein Edema Ruh bist.«

Das ging mir gegen den Strich. »Willst du damit etwa sagen, dass ich mich dafür schäme?«

»Ich will damit nur sagen, dass du nicht laut darüber sprichst«, erwiderte Wil ganz ruhig und sachlich. »Und Simmon spricht auch nicht über seine Herkunft. Und ich nehme an, dass ihr beide eure Gründe dafür habt.«

Wilem fuhr fort: »Dalonir liegt im Norden von Aturna, ist also relativ wohlhabend. Aber er hat drei ältere Brüder und zwei Schwestern. Der älteste Sohn ist der Erbe. Dem zweitältesten Sohn hat der Vater eine Offiziersstelle verschafft. Den drittältesten hat er in der Kirche untergebracht. Simmon …«, sagte Wilem und verstummte vielsagend.

»Es fällt mir schwer, mir Sim als Priester vorzustellen«, sagte ich. »Oder als Soldat.«

»Und deshalb ist er an der Universität gelandet«, schloss Wilem. »Sein Vater hat gehofft, er würde die Diplomatenlaufbahn einschlagen. Doch dann hat Sim die Alchemie und die Dichtkunst für sich entdeckt und ist dem Arkanum beigetreten. Sein Vater war nicht allzu begeistert davon.« Wilem gab mir mit einem Blick zu verstehen, dass er damit noch ziemlich untertrieb.

»Aber ein Arkanist hat doch einen respektablen Beruf!«, widersprach ich. »Viel beeindruckender als ein parfümierter Speichellecker an irgendeinem Fürstenhof.«

Wilem zuckte die Achseln. »Seine Studiengebühren werden bezahlt, und er bekommt weiter seinen Unterhalt.« Er hielt kurz inne, um jemandem auf der anderen Seite eines Hofs zuzuwinken. »Aber Simmon reist nie nach Hause. Nicht mal zu einem kurzen Besuch. Sein Vater liebt die Jagd, den Kampf, den Suff und die Weiber. Ich nehme an, unser sanftmütiger, bildungsbeflissener Sim hat nicht die Liebe bekommen, die ein so kluger Sohn verdient hätte.«

Wir trafen Sim in unserem üblichen kleinen Lesezimmer und klärten noch einmal die Einzelheiten der Wetten, die wir in betrunkenem Zustand abgeschlossen hatten. Dann ging jeder von uns seiner Wege.

Eine Stunde später kam ich mit einem Arm voller Bücher zurück. Meine Suche war sehr erleichtert worden, seit Nina mit ihrer Zeichnung bei mir aufgetaucht war. So hatte ich bereits erste Recherchen über die Amyr anstellen können.

»Ich fange an«, sagte Simmon frohgemut. Er sah auf einer Liste nach und zog dann ein Buch aus seinem Stapel hervor. »Seite hundertzweiundfünfzig«, sagte er und blätterte, bis er die Seite fand. »Ah, da ist es ja. ›Das Mädchen erzählte ihnen alles.‹ … Rhabarber, Rhabarber, Rhabarber. … ›Und dann führte sie sie zu der Stelle, an der sie auf die heidnischen Ausschweifungen gestoßen war.‹« Er hob den Blick und zeigte auf die Seite. »Siehst du, da steht’s: Heidnisch.«

Ich setzte mich. »Und was hast du noch zu bieten?«

Sims zweite Belegstelle war ganz ähnlich. Das dritte Buch aber hielt eine Überraschung bereit.

»›Eine große Anzahl von Wegsteinen in der Umgebung, was darauf hindeuten könnte, dass in längst vergessenen Zeiten verschiedene Handelswege durch diese Gegend führten …‹« Er verstummte, zuckte die Achseln und reichte mir das Buch. »Das scheint ein Beleg für deine These zu sein.«

Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. »Hast du die etwa nicht mal gelesen, bevor du sie hergebracht hast?«

»In einer Stunde?« Da lachte er ebenfalls. »Wie soll das gehen? Ich habe einen Bibliothekar damit beauftragt.«

Wilem warf ihm einen finsteren Blick zu. »Nein, hast du nicht. Du hast Puppet gefragt, nicht wahr?«

Simmon setzte eine unschuldige Miene auf, was bei seinem von Natur aus unschuldig wirkenden Gesicht nur dazu führte, dass er durch und durch schuldig erschien. »Es könnte sein, dass ich bei ihm vorbeigeschaut habe«, räumte er ein. »Und es könnte auch sein, dass er mir ein paar Bücher vorgeschlagen hat, in denen etwas über Grausteine steht.« Als er Wilems Gesichtsausdruck sah, hob er eine Hand. »Jetzt rümpf mal hier nicht so die Nase. Es ist ja sowieso nach hinten losgegangen.«

»Dieser Puppet schon wieder«, grummelte ich. »Werdet ihr mich denn jemals mit dem bekanntmachen? Ihr seid so verschwiegen, was diesen Kerl angeht.«

Wilem zuckte die Achseln. »Das wirst du verstehen, wenn du ihn mal kennenlernst.«

Das letzte seiner Bücher war aus anderen Gründen interessant:

»… zwei nebeneinander stehende große Steinblöcke, und ein dritter liegt oben drauf …«, las Simmon vor. »Die Einheimischen nennen diese Steine ›das Portal‹. Bei Festlichkeiten im Frühling und Sommer werden sie geschmückt, und dann wird um die Steine herum getanzt, aber bei Vollmond verbieten die Eltern ihren Kindern, sich den Steinen zu nähern. Ein sehr angesehener alter Mann, der ansonsten einen vernünftigen Eindruck machte, behauptete …«

Sim hörte mitten im Satz auf vorzulesen. »Na ja, ist ja auch egal«, sagte er in abfälligem Ton und wollte das Buch schon zuschlagen.

»Was behauptete er?«, fragte Wilem, dessen Neugier geweckt war.

Simmon verdrehte die Augen und las weiter: »… zu bestimmten Zeiten könnten Menschen durch diese steinerne Pforte in das Feenland gelangen und zu Felurian höchstselbst, aus deren Liebesumarmungen kein Mann je wiedergekehrt sei.«

»Interessant«, murmelte Wilem.

»Nein, das ist nicht interessant. Das ist kindischer, abergläubischer Schwachsinn«, sagte Simmon gereizt. »Und es hilft uns auch nicht zu entscheiden, wer denn nun recht hat.«

»Wie sieht deine Punktewertung aus, Wilem?«, fragte ich. »Du bist unser Unparteiischer.«

Wilem wandte sich zum Tisch und überflog die Bücher. Seine dunklen Augenbrauen hoben und senkten sich, während er überlegte. »Sieben für Simmon. Sechs für Kvothe. Dreimal gegensätzliche Meinungen.«

Wir sahen uns kurz auch noch die vier Bücher an, die ich mitgebracht hatte. Wilem ließ eines davon nicht gelten, wodurch es nun sieben zu zehn für mich stand. »Nicht gerade eindeutig«, sagte Wilem.

Simmon blickte finster. Bei aller Gutmütigkeit, die ihm eigen war, konnte er es doch einfach nicht ertragen, eine Wette zu verlieren. »Also gut«, sagte er schließlich.

Nun wandte ich mich an Wilem und warf einen vielsagenden Blick auf die beiden Bücher, die noch unangerührt auf dem Tisch lagen. »Wie es aussieht, wird sich unsere Wette ein bisschen schneller klären lassen, nia

Wilem grinste raubtierhaft. »Sehr schnell.« Er nahm eins der Bücher zur Hand. »Hier habe ich den Text der Proklamation, mit der die Amyr aufgelöst wurden.« Er schlug das Buch mithilfe eines Lesezeichens auf und las: »Ihr Handeln fällt fortan unter die Rechtsprechung des Aturischen Reichs. Kein Mitglied des Ordens darf sich mehr anmaßen, Verhandlungen in einem Rechtsstreit zu führen oder Urteile in einem solchen zu fällen.«

Er sah mich mit selbstgefälliger Miene an. »Siehst du? Da man ihnen die richterliche Gewalt entzogen hat, müssen sie die zuvor ja wohl besessen haben. Damit ist also zweifelsfrei erwiesen, dass sie Bestandteil des aturischen Staatsapparats waren.«

»Tatsächlich hatte die Kirche in Atur seit jeher auch juristische Funktionen inne«, entgegnete ich und hielt eines meiner beiden Bücher empor. »Es ist amüsant, dass du das Alpura Prolycia Amyr mitgebracht hast. Das habe ich nämlich auch. Und dieses Dekret ging von der Kirche aus.«

Wilems Miene verdüsterte sich. »Nein, das stimmt nicht. Es taucht hier in einer Liste auf – als das dreiundsechzigste Dekret Kaiser Naltos.«

Verblüfft verglichen wir die beiden Bücher und mussten feststellen, dass sie sich widersprachen.

»Tja, dann heben die Aussagen sich ja wohl gegenseitig auf«, sagte Sim. »Was habt ihr noch zu bieten?«

»Das ist Feltemi Reis. Die Geschichtlichen Betrachtungen«, grummelte Wilem. »Das ist das Standardwerk schlechthin. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass es noch eines weiteren Beweises bedarf.«

»Beunruhigt euch das überhaupt nicht?«, fragte ich und pochte

»Wir haben doch gerade erst zwanzig Bücher gesichtet, in denen auch ganz unterschiedliche Sachen standen«, erwiderte Simmon. »Was sollte mich jetzt daran beunruhigen?«

»Über den Sinn und Zweck der Grausteine kann man nur Vermutungen anstellen. Es ist klar, dass es darüber die unterschiedlichsten Meinungen gibt. Aber das Alpura Prolycia Amyr war ein veröffentlichtes Dekret. Damit wurden Tausende der bis dahin mächtigsten Männer und Frauen des Aturischen Reichs zu Vogelfreien erklärt. Es war einer der Hauptgründe dafür, dass das Aturische Reich letztlich unterging. Ich sehe keinen Grund, weshalb es darüber widersprüchliche Informationen geben sollte.«

»Es ist aber schon über dreihundert Jahre her, dass der Orden aufgelöst wurde«, sagte Simmon. »Das ist eine lange Zeit, in der sich irgendwelche Widersprüchlichkeiten einschleichen konnten.«

Ich schüttelte den Kopf und blätterte in den beiden Büchern. »Gegensätzliche Meinungen sind das eine. Aber widersprüchliche Fakten sind etwas ganz anderes.« Ich hielt mein Buch empor. »Das ist Der Fall des Reichs von Greggor dem Geringeren. Er war zwar ein Schwätzer und ein Frömmler, aber auch der beste Geschichtsschreiber seiner Zeit.« Ich hielt Wilems Buch empor. »Feltemi Reis ist als Historiker längst nicht so berühmt, aber als Quellenkundler konnte Greggor ihm nicht das Wasser reichen, und er war sehr gewissenhaft, was die Fakten anging.« Mit gerunzelter Stirn sah ich zwischen den beiden Büchern hin und her. »Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.«

»Und was jetzt?«, fragte Sim. »Noch ein Unentschieden? Das wäre aber eine arge Enttäuschung.«

»Wir brauchen jemanden, der das entscheidet«, sagte Wilem. »Eine höhere Autorität.«

»Höher als Feltemi Reis?«, fragte ich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Lorren dazu hergibt, über unsere Wetten zu befinden.«

Wil schüttelte den Kopf, erhob sich und strich sich die Falten aus der Hemdbrust. »Nein, das bedeutet, dass du nun endlich Puppet kennenlernst.«

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