Kapitel 73 Blut und Tinte

Teccam nennt in seiner Theophanie Geheimnisse die schmerzhaften Schätze des Geistes. Was herkömmlicherweise als Geheimnis gelte, habe in Wirklichkeit nichts damit zu tun. Rätsel etwa seien keine Geheimnisse, ebenso wenig wie kaum bekannte Tatsachen oder vergessene Wahrheiten. Ein Geheimnis, erklärt Teccam, sei absichtlich verheimlichtes Wissen.

Die Philosophen streiten sich seit Jahrhunderten über diese Definition. Sie haben logische Unstimmigkeiten, Lücken und Ausnahmen dagegen ins Feld geführt. Doch keiner konnte mit einer besseren Definition aufwarten, was vielleicht mehr sagt als der ganze Zank darüber.

In einem späteren, weniger bekannten und umstrittenen Kapitel seines Werkes unterscheidet Teccam zwischen zwei Arten von Geheimnissen: solchen des Mundes und solchen des Herzens.

Die meisten Geheimnisse sind ihm zufolge Geheimnisse des Mundes, Klatsch und Skandalgeschichten, die im Flüsterton weitergegeben werden. Diese Geheimnisse drängen danach, sich auszubreiten. Ein Geheimnis des Mundes ist wie ein Steinchen im Stiefel. Man nimmt es zuerst kaum wahr, dann stört es immer mehr und wird schließlich unerträglich. Solche Geheimnisse wachsen, je länger man sie für sich behält. Sie quellen auf, bis sie von innen gegen die Lippen drücken, und wollen unbedingt nach draußen gelangen.

Geheimnisse des Herzens sind anders. Sie sind etwas sehr Privates und Schmerzhaftes, und wir wollen sie unbedingt vor anderen verbergen. Sie wachsen nicht und drücken nicht gegen die Lippen. Sie

Teccam behauptet, ein Mund voller Gift sei besser als ein Geheimnis des Herzens. Auch der Dümmste wird das Gift ausspucken, während wir unsere »schmerzhaften Schätze« mit uns herumschleppen. Wir schlucken sie täglich erneut hinunter und zwingen sie in unser Innerstes. Dort werden sie immer schwerer und fangen an zu eitern. Und wenn nur genügend Zeit vergeht, zerstören sie unweigerlich das Herz, das sie umschließt.

Moderne Philosophen schätzen Teccam gering, aber sie sind wie Geier, die auf den Knochen eines Riesen herumhacken. Man kann es drehen und wenden, wie man will, Teccam hatte tiefe Einsichten in das Wesen der Dinge.

Am Tag nachdem ich Denna durch die Stadt gefolgt war, bestellte sie mich zu sich. Wir trafen uns vor den VIER KERZEN. Dort hatten wir uns in den vergangenen Spannen schon Dutzende Male verabredet, aber diesmal war etwas anders. Denna trug ein langes, elegantes Kleid, nicht aus mehreren Stoffschichten und hochgeschlossen, wie es der gegenwärtigen Mode entsprach, sondern eng anliegend und am Hals offen. Es war leuchtend blau, und ich sah bei jedem Schritt, den sie machte, für einen kurzen Augenblick etwas von ihrem nackten Bein.

Der Kasten ihrer Harfe lehnte hinter ihr an der Mauer und ihre Augen leuchteten erwartungsvoll. Ihre dunklen Haare, die sie abgesehen von drei schmalen, mit einer blauen Schnur befestigten Zöpfen schmucklos trug, glänzten in der Sonne. Sie war barfuß und ihre Füße hatten vom Gras grüne Flecken. Und sie lächelte.

»Ich bin bereit«, sagte sie, und Erregung bebte wie ferner Donner in ihrer Stimme. »Jedenfalls soweit bereit, dass ich dir ein Stück vorspielen kann. Möchtest du es hören?« Ich hörte ein wenig Schüchternheit aus ihrer Stimme heraus, die sie allerdings gut überspielte.

Da wir beide für Schirmherrn tätig waren, die sehr viel Wert auf ihre Privatsphäre legten, sprachen wir nur selten über unsere Arbeit.

»Nichts lieber als das«, sagte ich jetzt. Denna nahm ihren Harfenkasten auf und setzte sich in Bewegung. Ich ging neben ihr her. »Hat dein Schirmherr denn nichts dagegen?«

Sie zuckte übertrieben beiläufig mit den Schultern. »Wenn es nach ihm ginge, soll mein erstes Lied auch noch in hundert Jahren gesungen werden. Er wird also bestimmt nicht wollen, dass ich es für alle Zeiten geheim halte.« Sie sah mich von der Seite an. »Wir gehen an einen Ort, an dem wir ungestört sind, und ich spiele dir das Lied vor. Solange du es nicht an die große Glocke hängst, kann mir nichts passieren.«

Wir schlugen in stummem Einvernehmen den Weg zum westlichen Stadttor ein. »Ich hätte meine Laute mitgebracht«, sagte ich, »aber ich habe endlich einen Lautenbauer gefunden, dem ich vertraue, und lasse den losen Wirbel reparieren.«

»Heute bist du mir als Zuhörer am nützlichsten«, antwortete Denna. »Du sollst verzückt vor mir sitzen, während ich spiele. Morgen höre ich dann dir mit vor Bewunderung feuchten Augen zu und bewundere dein Können und deinen Witz und Charme.« Sie verlagerte die Harfe auf die andere Schulter und lächelte verschmitzt. »Vorausgesetzt, du lässt das alles nicht auch beim Lautenbauer reparieren.«

»Ich wäre jederzeit zu einem Duett bereit«, sagte ich. »Die Kombination von Harfe und Laute ist selten, aber nicht gänzlich unbekannt.«

»Das hast du sehr schön gesagt.« Denna warf mir wieder einen Blick zu. »Ich denke darüber nach.«

Ich unterdrückte wie schon so oft den Drang, ihr von dem Ring zu erzählen, den ich von Ambrose zurückgeholt hatte. Am liebsten hätte ich ihr die ganze Geschichte mit allen Missgeschicken berichtet. Doch die romantische Wirkung wäre gewiss durch das Ende beeinträchtigt worden. Schließlich hatte ich den Ring vor meiner Abreise aus Imre als Pfand versetzt. Ich tat also gut daran, vorerst noch nicht davon zu sprechen und Denna dann mit dem Ring selbst zu überraschen.

Denna blieb stehen und starrte mich an. »Wie bitte?«

»Ich stehe gegenwärtig in seiner Gunst, und er schuldet mir den einen oder anderen Gefallen. Und ich weiß, dass du einen Schirmherrn suchst.« »Ich habe schon einen«, erwiderte Denna bestimmt. »Einen, den ich mir selbst verdient habe.«

»Du hast einen halben«, protestierte ich. »Wo ist die Urkunde, die ihn zu deinem Schirmherrn erklärt? Dein Lord Esche mag dich finanziell unterstützen, aber noch wichtiger ist der Name des Schirmherrn. Er ist wie eine Rüstung, wie ein Schlüssel, der …«

»Ich weiß, wozu ein Schirmherr gut ist«, fiel Denna mir ins Wort.

»Dann weißt du auch, dass deiner dich hintergeht. Wenn der Maer damals bei jener verhängnisvollen Hochzeit dein Schirmherr gewesen wäre, hätte in diesem lumpigen Städtchen niemand gewagt, die Stimme oder gar die Hand gegen dich zu erheben. Der Name des Maer hätte dich auch noch aus tausend Meilen Entfernung geschützt, und dir wäre nichts passiert.«

»Ein Schirmherr kann mehr als Name und Geld zu bieten haben«, erwiderte Denna gereizt. »Ich komme auch ohne den Schutz eines Titels zurecht, würde mich aber ehrlich gesagt schwer damit tun, die Farben eines Schirmherrn zu tragen. Ich bekomme von meinem Schirmherrn anderes. Er weiß Dinge, die auch ich wissen muss.« Sie warf sich die Haare nach hinten und streifte mich dabei mit einem wütenden Blick. »Aber das habe ich dir alles schon gesagt. Ich bin gegenwärtig mit meinem Schirmherrn zufrieden.«

»Du könntest zwei Schirmherrn haben«, schlug ich vor. »Den Maer öffentlich und deinen Lord Esche insgeheim. Dagegen wird er gewiss nichts einzuwenden haben. Alveron könnte ihn für dich ein wenig genauer unter die Lupe nehmen und sicherstellen, dass er dich nicht mit falschen Versprechungen …«

Denna sah mich entsetzt an. »Um Himmels willen nein.« Ernst fuhr sie fort: »Versprich mir, dass du meinem Schirmherrn nicht nachforschst. Das könnte alles verderben. Du bist der Einzige, der von ihm weiß, aber er wäre außer sich, wenn er wüsste, dass ich überhaupt jemandem von ihm erzählt habe.«

Denna blieb stehen und stellte den Harfenkasten mit einem dumpfen Geräusch auf dem Pflaster ab. Ihr Gesicht war todernst. »Versprich es mir.«

Ich hätte es ihr wahrscheinlich nicht versprochen, wäre ich ihr nicht die halbe Nacht durch die Stadt gefolgt, in der Hoffnung, etwas über die Identität ihres Schirmherrn zu erfahren. Außerdem hatte ich sie auch noch belauscht. Ich litt unter quälenden Gewissensbissen.

»Ich verspreche es«, sagte ich. Und als sie mich immer noch ängstlich ansah, fügte ich hinzu: »Vertraust du mir nicht? Wenn es dich beruhigt, schwöre ich es.«

»Bei was würdest du schwören?« Sie begann zu lächeln. »Was wäre so wichtig, dass du dein Wort halten würdest?«

»Mein Name und meine Macht?«

»Du bist ja manches«, erwiderte sie trocken, »aber gewiss nicht Taborlin der Große.«

»Meine rechte Hand?«

»Nur eine Hand?« Der scherzende Ton war in ihre Stimme zurückgekehrt. Sie nahm meine beiden Hände in ihre, wendete sie hin und her und unterzog sie einer eingehenden Prüfung. »Die linke gefällt mir besser«, entschied sie schließlich. »Schwöre bei ihr.«

»Bei meiner Linken?«, fragte ich zweifelnd.

»Na gut, dann eben bei der Rechten. Du bist so schrecklich konventionell.«

»Ich schwöre, dass ich nicht versuchen werde herauszufinden, wer dein Schirmherr ist«, sagte ich grimmig. »Ich schwöre es bei meinem Namen und meiner Macht, bei meiner linken Hand und beim ewig wandernden Mond.«

Denna musterte mich, als wisse sie nicht, ob ich mich über sie lustig machte. »Also gut«, sagte sie schließlich mit einem Achselzucken und hob die Harfe auf. »Betrachte mich als beruhigt.«

Wir gingen weiter und gelangten durch das Westtor auf das offene Land. Das Schweigen zwischen uns hielt an und wurde immer angespannter.

Aus Sorge, wir könnten uns noch richtig streiten, sagte ich das

Denna ließ ein kehliges Kichern hören. »Jetzt klingst du wie Lord Esche. Danach fragt er immer. Er findet, meine Freier seien nicht gut genug für mich.«

Ich konnte ihm nur von Herzen zustimmen, hielt es aber für unklug, das laut zu sagen. »Und wie findet er mich?«

»Was?« Denna schien verwirrt. »Ach so, er weiß doch gar nichts von dir. Warum sollte er?«

Ich versuchte ein gleichgültiges Achselzucken, das mir aber offenbar gründlich misslang, denn Denna platzte lachend heraus. »Armer Kvothe, das war doch nur Spaß. Ich erzähle ihm nur von den Männern, die mir wie die Hunde hinterherhecheln. Du bist nicht wie sie. Du warst schon immer anders.«

»Ich war immer stolz darauf, niemandem hinterherzuhecheln.«

Denna vollführte eine Drehung mit der Schulter und schlug mich spielerisch mit dem Harfenkasten. »Du weißt schon, was ich meine. Die anderen kommen und gehen, ohne dass etwas zurückbleibt. Du bist das Gold unter der unreinen Schlacke. Lord Esche mag sich einbilden, er habe ein Recht darauf, auch mein privates Leben zu kennen.« Sie verzog ein wenig das Gesicht. »Aber das hat er nicht. Einige Einblicke gebe ich ihm natürlich …«

Sie packte mich besitzergreifend am Oberarm. »Aber du gehörst nicht dazu«, rief sie heftig. »Du gehörst mir, ausschließlich mir. Dich teile ich mit niemandem.«

Die momentane Spannung löste sich. Wir entfernten uns auf der breiten, nach Westen führenden Straße von Severen und plauderten und lachten dabei über unwichtige Dinge. Eine halbe Meile hinter der letzten Herberge der Stadt gelangten wir zu einem stillen Wäldchen, in dessen Mitte ein einzelner, hoher Graustein stand. Wir hatten ihn entdeckt, als wir nach Walderdbeeren gesucht hatten, und uns seitdem schon oft vor dem Lärm und Gestank der Stadt hierher zurückgezogen.

Denna setzte sich an den Fuß des Grausteins und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Dann holte sie die Harfe aus dem Kasten und drückte sie an die Brust. Dabei verrutschte ihr Kleid und entblößte

»Schöne Harfe«, sagte ich gelassen.

Sie schnaubte undamenhaft.

Ich blieb sitzen, wo ich war, und streckte bequem die Beine in das hohe, kühle Gras. Ich riss einige Halme aus und begann müßig, einen Zopf zu flechten.

Dabei war ich ziemlich nervös. Wir hatten im vergangenen Monat sehr viel Zeit miteinander verbracht, aber ich hatte Denna noch nie ein eigenes Lied spielen hören. Wir hatten zusammen gesungen, und ich wusste, dass ihre Stimme wie Honig auf warmem Brot war. Ich wusste auch, dass sie sichere Finger hatte und das Rhythmusgefühl eines Musikers …

Aber ein Lied zu schreiben ist nicht dasselbe wie eines zu spielen. Wenn ihr Lied nun nichts taugte? Was sollte ich dann sagen?

Denna hob die gespreizten Finger an die Saiten, und meine Sorgen traten in den Hintergrund. Die Art, wie eine Frau die Hände an die Saiten einer Harfe legt, hat für mich seit je etwas ungeheuer Sinnliches. Denna begann mit einem perlenden Glissando von der obersten Saite bis zur untersten. Es klang wie lauter kleine Hämmerchen auf Glocken, wie Wasser auf Steinen oder Vogelgezwitscher in der Luft.

Sie hielt inne und stimmte eine Saite. Sie zupfte daran und stimmte noch einmal. Dann schlug sie einen harten Akkord an, der eine Weile nachklang, und sah mich an. Nervös streckte sie die Finger. »Bereit?«

»Du bist wunderbar«, sagte ich.

Sie wurde ein wenig rot und strich die Haare zurück, um ihre Verlegenheit zu überspielen. »Dummkopf. Ich habe doch noch gar nicht angefangen.«

»Du bist trotzdem wunderbar.«

»Pst!« Sie schlug wieder einen Akkord an und entwickelte daraus eine Melodie, die sich sacht hob und senkte. Dazu sprach sie die Einleitung des Liedes. Die traditionelle Eröffnung überraschte mich, allerdings auf angenehme Weise. Das Altbewährte ist das Beste.

Kommt herbei und hört mich an!

Eine traurige Mär sei euch kundgetan.

Ich singe davon, wie langsam ein Schatten

Sich legte auf ein Land und wie ein Mann

Mit fester Hand ein Ziel angriff, das wenige ertrugen:

Der holde Lanre. Selbst gebracht um Weib und Leib und Ehr

Blieb seinem Ziel er treu in seinen Taten,

Trotzte den Gegnern, fiel und ward verraten.

Zuerst hielt ich den Atem wegen Dennas Stimme an, dann wegen der Musik.

Doch noch bevor sie zehn Verse gesungen hatte, erstarrte ich aus einem ganz anderen Grund. Denna sang vom Fall der Stadt Myr Tariniel, von Lanres Verrat, dieselbe Geschichte, die ich in Tarbean von Skarpi gehört hatte.

Nur in einer anderen Fassung. Bei Denna erschien Lanre als tragischer Held, der selbst dem Verrat zum Opfer fiel. Selitos’ Worte waren grausam und verletzend, Myr Tariniel war ein Sündenpfuhl, der nur durch das Feuer geläutert werden konnte. Lanre war kein Verräter, sondern ein gefallener Held.

Es hängt ja so viel davon ab, an welcher Stelle man eine Geschichte beendet. Dennas Geschichte schloss mit der Verfluchung Lanres durch Selitos. Für eine Tragödie passte ein solches Ende hervorragend. In Dennas Lied wurde Lanre missverstanden, ihm wurde Unrecht getan. Selitos war ein Tyrann und Wahnsinniger, der sich aus Wut über Lanres List selbst das Auge ausriss. Die ganze Geschichte war auf schreckliche Weise entstellt und in ihr Gegenteil verkehrt.

Trotzdem konnte man die bezwingende Schönheit des Liedes bereits erahnen. Die Akkorde waren wohl gewählt, der Rhythmus raffiniert und drängend. Es war ein originelles Lied, zwar mit vielen unfertigen Stellen, aber einer erkennbaren Form. Ich sah, was daraus werden konnte. Es konnte tiefe Gefühle wecken. Die Menschen würden es auch in hundert Jahren noch singen.

Ihr kennt es wahrscheinlich, wie die meisten. Denna nannte es zuletzt das Lied von den sieben Sorgen. Ja, Denna hat es komponiert, und ich war der Erste, der es ganz hören durfte.

Ich saß stumm da.

Um das Folgende zu verstehen, muss man etwas kennen, das jeder Musiker kennt. Ein neues Lied zu singen ist eine sehr aufregende Angelegenheit. Mehr noch, es ist eine schreckliche Erfahrung. Als ob man sich das erste Mal vor einem neuen Liebhaber entkleidet. Es ist ein sehr heikler Moment.

Ich musste etwas sagen. Ein Kompliment machen, eine Bemerkung, einen Scherz. Oder lügen. Alles war besser als zu schweigen.

Aber ich hätte nicht erschrockener sein können, wenn Denna eine Lobeshymne auf den Herzog von Gibea geschrieben hätte. Ich war noch wie betäubt, fühlte mich wund und roh wie zum zweiten Mal verwendetes Pergament, so als hätte jede Note des Liedes wie ein Messer an mir gekratzt, bis aller Text gelöscht und ich wieder ein leeres Blatt war.

Benommen starrte ich auf meine Hände. Sie hielten noch den halben Kranz aus Gras, den ich zu Anfang des Liedes geflochten hatte, einen breiten, flachen Zopf, der sich bereits zum Ring formte.

Immer noch mit gesenktem Kopf hörte ich, wie Denna sich bewegte und ihr Gewand raschelte. Ich musste etwas sagen, ich zögerte schon zu lange. Das Schweigen drohte übermächtig zu werden.

»Die Stadt hieß nicht Mirinitel«, sagte ich, ohne den Kopf zu heben. Was ich sagte, war nicht ganz verkehrt, aber auch nicht richtig.

Eine Pause entstand. »Was?«

»Nicht Mirinitel«, wiederholte ich. »Die Stadt, die Lanre niederbrannte, hieß Myr Tariniel. Tut mir leid. Einen Namen zu ändern macht viel Arbeit. Er macht bei einem Drittel deiner Verse den Rhythmus kaputt.« Ich war überrascht, wie ruhig meine Stimme war, wie unbewegt und leblos sie in meinen Ohren klang.

Ich hörte Denna überrascht einatmen. »Du kennst die Geschichte?«

Ich hob den Kopf. Denna sah mich aufgeregt an. Ich nickte und fühlte mich immer noch seltsam leer. Hohl wie ein getrockneter Kürbis. »Warum hast du dein Lied ausgerechnet darüber geschrieben?«, fragte ich.

Dennas Aufregung legte sich ein wenig. »Ich habe Ahnenforschung für meinen Schirmherrn betrieben und bin in einem alten Buch auf diese Geschichte gestoßen«, sagte sie. »Kaum jemand kennt sie noch, deshalb ist sie für ein Lied bestens geeignet. Es ist ja nicht so, dass wir noch ein Lied über Oren Velciter bräuchten. Wenn ich nur wiederhole, was Musiker vor mir schon hundert Mal durchgekaut haben, komme ich nie auf einen grünen Zweig.«

Sie sah mich neugierig an. »Ich dachte, ich könnte dich mit etwas Neuem überraschen. Nie hätte ich erwartet, dass du Lanre schon kennst.«

»Ich habe vor Jahren von einem alten Geschichtenerzähler in Tarbean von ihm gehört«, sagte ich wie benommen.

»Dein Glück hätte ich auch gern gehabt.« Denna schüttelte den Kopf. »Ich musste mir die Geschichte aus hundert Fetzen zusammenklauben.« Sie machte eine einschränkende Handbewegung. »Zusammen mit meinem Schirmherrn. Er hat mir geholfen.«

»Mit deinem Schirmherrn«, wiederholte ich. In mir regte sich etwas. Angesichts meiner inneren Leere war ich überrascht, wie schnell sich auf einmal Bitterkeit in mir ausbreitete, geradezu als hätte jemand ein Feuer in mir entzündet.

Denna nickte. »Er betreibt selbst gern historische Studien. Ich glaube, er ist auf eine Stellung bei Hof aus. Er wäre nicht der Erste, der sich beliebt machen will, indem er die Heldentaten eines längst vergessenen Ahnen wieder ins rechte Licht rückt. Oder vielleicht will er ja nur für sich selbst einen bedeutenden Vorfahren erschaffen. Das würde erklären, warum wir uns mit alten Stammbäumen beschäftigten.«

Sie zögerte einen Moment und biss sich auf die Lippen. »Ich habe nämlich den Verdacht«, sagte sie dann, und es klang wie eine Beichte, »dass das Lied für Alveron persönlich gedacht ist. Lord Esche hat angedeutet, dass er mit dem Maer zu tun hat.« Sie grinste verschmitzt. »Wer weiß, vielleicht bist du in den Kreisen, in denen

Ich dachte an die vielen hundert Adligen und Höflinge, die ich im vergangenen Monat flüchtig kennengelernt hatte. Nicht einmal an ihre Gesichter konnte ich mich richtig erinnern. Das Feuer in mir breitete sich aus und erfüllte meine ganze Brust.

»Aber genug davon«, sagte Denna mit einer ungeduldigen Handbewegung. Sie schob die Harfe weg und setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen ins Gras. »Du spannst mich auf die Folter. Hat dir das Lied gefallen?«

Ich blickte auf meine Hände und zupfte an dem Kranz herum, den ich geflochten hatte. Glatt und kühl lag das Gras zwischen meinen Fingern. Ich wusste nicht mehr, wie ich die Enden zu einem Ring hatte verbinden wollen.

»Ich weiß, dass es noch unfertige Stellen hat«, hörte ich Denna sagen. Ihre Stimme klang vor Aufregung ein wenig schrill. »Ich muss den Namen einbauen, von dem du gesprochen hast, wenn du sicher bist, dass er stimmt. Der Anfang muss noch besser fließen und der siebte Vers holpert noch ziemlich, ich weiß. Die Schilderung der Kämpfe und der Beziehung zu Lyra sollte ich noch ausbauen und das Ende straffen. Aber was meinst du insgesamt?«

Mit diesen Verbesserungen würde es ein wunderbares Lied werden, so gut wie die Lieder meiner Eltern. Aber das machte es nur noch schlimmer.

Meine Hände zitterten und ich staunte, wie schwierig es war, dieses Zittern zu unterdrücken. Ich hob den Kopf und sah Denna an. Ihre freudige Erregung schwand, als sie mein Gesicht sah.

»Du musst noch mehr ersetzen als nur den Namen.« Ich versuchte ganz ruhig zu klingen. »Lanre war kein Held.«

Denna sah mich sonderbar an, als sei sie unsicher, ob ich etwa scherzte. »Was?«

»Du hast die Geschichte auf den Kopf gestellt«, sagte ich. »Lanre war ein Ungeheuer, ein Verräter. Du musst sie umschreiben.«

Denna warf den Kopf in den Nacken und lachte. Als ich nicht mitlachte, sah sie mich mit schräg gelegtem Kopf verwirrt an. »Meinst du das im Ernst?«

Ihr Gesicht erstarrte. Sie kniff die Augen zusammen, und ihr Mund wurde zu einem Strich. »Unmöglich.« Ihre Lippen arbeiteten stumm, dann schüttelte sie den Kopf. »Das geht nicht. Wenn Lanre nicht der Held ist, fällt die ganze Geschichte auseinander.«

»Es geht hier nicht um eine gute Geschichte, sondern um die Wahrheit«, erwiderte ich.

»Die Wahrheit?« Denna sah mich ungläubig an. »Das ist doch nur ein Märchen. Es hat weder die Orte noch die Menschen je gegeben. Genauso gut könntest du dich aufregen, wenn ich eine neue Strophe für Tinker Tanner geschrieben hätte.«

In meiner Kehle stiegen Worte auf, die so heiß brannten wie Feuer. Ich schluckte sie mühsam hinunter. »Manche Geschichten sind nur Märchen«, sagte ich, »aber nicht diese. Es ist nicht deine Schuld. Du konntest unmöglich wissen …«

»Vielen Dank auch«, fiel sie mir schneidend ins Wort. »Ich bin ja so froh, dass es nicht meine Schuld ist.«

»Also gut«, sagte ich scharf, »es ist deine Schuld. Du hättest gründlicher nachforschen müssen.«

»Was weißt du denn schon, was ich getan habe?«, erwiderte sie heftig. »Du hast nicht die geringste Ahnung! Ich habe auf der ganzen Welt nach den Spuren der Geschichte gesucht!«

Genau dasselbe hatte mein Vater getan. Er hatte ein Lied über Lanre schreiben wollen, aber seine Nachforschungen hatten ihn zu den Chandrian geführt. Jahrelang hatte er halb vergessenen Geschichten und Legenden nachgejagt. Er hatte in seinem Lied die Wahrheit über die Chandrian sagen wollen, und die Chandrian hatten, um das zu verhindern, meine Eltern und ihre ganze Schauspieltruppe umgebracht.

Ich blickte in das Gras und dachte an das Geheimnis, das ich schon so lange bewahrte. Wieder roch ich das Blut und die verbrannten Haare und sah das rostige Wagenrad, die blauen Flammen und die zerschundenen Körper meiner Eltern. Wie sollte ich von etwas so Furchtbarem sprechen? Wo anfangen? Ich spürte das Geheimnis groß und schwer wie einen Stein tief in meinem Inneren.

»In der Fassung, die ich kenne«, sagte ich schließlich in Anspielung

Denna starrte mich einen langen Augenblick an. »Einem Chandrian?«, wiederholte sie fassungslos. Dann lachte sie, doch es klang nicht herzlich wie sonst, sondern scharf und verächtlich. »Was für ein Kind bist du eigentlich?«

Ich wusste genau, dass ich kindisch klang. Vor Verlegenheit lief ich rot an und brach am ganzen Körper in Schweiß aus. Doch als ich dann den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, war es, als hätte ich die Tür eines Ofens geöffnet. »Ich soll kindisch sein?«, fauchte ich. »Was weißt du denn, du dumme …« Ich konnte gerade noch das Wort Hure unterdrücken und biss mir dabei fast die Zunge ab.

»Du hältst dich für so klug, ja?«, erwiderte Denna heftig. »Nur weil du auf der Universität warst, glaubst du, wir anderen seien …«

»Reg dich nicht künstlich auf und hör mir zu!«, schrie ich. Die Worte strömten aus mir heraus wie geschmolzenes Eisen. »Du bist starrköpfig wie ein verwöhntes kleines Mädchen!«

»Wie kannst du es wagen!« Denna zeigte mit dem Finger auf mich. »Sprich nicht mit mir, als wäre ich die Einfalt in Person. Ich weiß Dinge, die an deiner heißgeliebten Universität nicht unterrichtet werden! Geheimnisse! Ich bin nicht dumm!«

»Dann benimm dich auch nicht so!« Ich schrie es so laut, dass mir die Kehle wehtat. »Sei wenigstens kurz still und hör mir zu! Ich will dir doch nur helfen!«

Denna saß vollkommen reglos da, wie in eisiges Schweigen gehüllt. Ihre Augen blickten hart und ausdruckslos. »Ach so ist das«, sagte sie kalt. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, und ihre ruckartigen Bewegungen verrieten ihren Zorn. Sie öffnete die Zöpfe, strich die Haare glatt und flocht sie, ohne darauf zu achten, wieder zu Zöpfen. »Du regst dich auf, weil ich keine Hilfe von dir annehme. Du kannst nicht ertragen, dass du nicht alles für mich regeln und in Ordnung bringen kannst.«

»Vielleicht sollte das wirklich jemand für dich tun«, gab ich zurück. »Bisher warst du nicht sonderlich erfolgreich.«

Denna verharrte reglos. Ihre Augen sprühten Funken. »Wie kommst du darauf, dass du überhaupt etwas über mich weißt?«

»Wie kommst du darauf, dein Rat könnte mich überhaupt interessieren? Vor einem halben Jahr hast du noch mit einem Bein in der Gosse gestanden. Deine Haare waren ungekämmt und du hattest nur drei zerlumpte Hemden. Kein Adliger im Umkreis von hundert Meilen um Imre würde auf dich pissen, wenn du brennen würdest. Du musstest erst tausend Meilen weit reisen, um vielleicht einen Schirmherrn zu finden.«

Mein Gesicht brannte vor Scham, als Denna von den drei Hemden sprach, und ich bekam den nächsten Wutanfall. »Du hast natürlich recht«, erwiderte ich beißend. »Du stehst hoch über mir. Dein Schirmherr würde bestimmt herzlich gern auf dich pissen …«

»Jetzt kommen wir zum Kern der Sache«, sagte Denna und warf die Hände in die Luft. »Du magst meinen Schirmherrn nicht, weil du einen besseren für mich hast. Und mein Lied gefällt dir nicht, weil es anders ist als die, die du kennst.« Sie griff wütend nach dem Harfenkasten. »Du bist genauso wie alle anderen.«

»Ich will dir nur helfen!«

»Du willst nur über mich bestimmen«, erwiderte Denna barsch und legte die Harfe in den Kasten. »Du willst mich kaufen und mein Leben in die Hand nehmen. Du willst mich wie ein Schoßtier halten, wie einen Hund.«

»Ich würde dich nie mit einem Hund vergleichen«, sagte ich mit einem wütenden Lachen. »Ein Hund kann zuhören. Ein Hund beißt nicht die Hand, die ihm helfen will.«

Ab da ging es mit unserem Gespräch nur noch bergab.

Doch es bleiben meine Worte. Ich war es, der all diese Dinge gesagt hat, niemand sonst.

Denna antwortete in gleicher Art gekränkt, wütend und scharfzüngig. Wir waren beide stolz und zornig und erfüllt von der unerschütterlichen Gewissheit, wie sie Jugendlichen zu eigen ist. Wir sagten Dinge, die wir unter anderen Umständen nie gesagt hätten. Wir kehrten nicht zusammen in die Stadt zurück.

Mein Zorn kochte heiß wie geschmolzenes Eisen in mir. Er brannte auch noch auf dem Rückweg nach Severen und auf dem Weg durch die Stadt und zum Lift. Er schwelte, als ich die Burg des Maer betrat, in mein Zimmer eilte und die Tür hinter mir zuschlug.

Erst Stunden später war er so weit abgekühlt, dass ich meine Worte bereuen konnte. Ich überlegte, was ich stattdessen zu Denna hätte sagen sollen, ob ich ihr von den Chandrian erzählen sollte und davon, wie meine Eltern ums Leben gekommen waren.

Ich beschloss, ihr einen Brief zu schreiben. Darin wollte ich alles erklären, auch wenn es noch so aberwitzig und unglaublich klang. Ich holte also Feder und Tinte und legte ein schönes weißes Blatt Papier vor mich auf den Schreibtisch.

Ich tauchte die Feder ein und überlegte, wo ich anfangen sollte.

Meine Eltern waren ermordet worden, als ich elf Jahre alt war. Dieses Ereignis war so einschneidend und furchtbar gewesen, dass es mich fast um den Verstand gebracht hätte. In den Jahren seither hatte ich mit niemandem darüber gesprochen. Nicht einmal einem leeren Zimmer hatte ich mich anvertraut. Ich hatte mein Geheimnis so lange Zeit so fest in mir verschlossen, dass es mir, als ich wieder daran zu denken wagte, so schwer in der Brust lag, dass ich kaum Luft bekam.

Ich tauchte die Feder ein, aber kein einziges Wort wollte sich einstellen. Ich öffnete eine Flasche Wein, um meine Verkrampfung

Stunden später starrte das leere Blatt mich immer noch an. Aus Wut und Verzweiflung schlug ich so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass meine Hand blutete. Eine so schwere Last kann ein Geheimnis werden: dass eher Blut als Tinte fließt.

Загрузка...