Kapitel 72 Pferde
Einige Tage nach dem Mondscheinspaziergang mit Denna vollendete ich ein Lied für Meluan mit dem Titel Nur Rosen. Der Maer hatte es bei mir bestellt, und ich hatte mich mit Feuereifer ans Werk gemacht. Denna würde sich kaputtlachen, wenn ich es ihr vorspielte.
Ich steckte das fertige Lied in einen Umschlag und blickte auf die Uhr. Eigentlich hatte ich geglaubt, den ganzen Abend dafür zu brauchen, doch war mir die Komposition überraschend leicht gefallen. Jetzt hatte ich den Rest des Abends frei. Es war zwar schon spät, aber nicht zu spät. Nicht zu spät für einen Cendling-Abend in einer lebendigen Stadt wie Severen. Vielleicht konnte ich sogar noch etwas mit Denna unternehmen.
Hastig zog ich mich um und eilte aus der Burg. Seit ich das Geld in meiner Börse durch Verkäufe von Caudicus’ Instrumenten und Kartenspielen mit Adligen auffüllte, die mehr von Mode als von Zahlen verstanden, konnte ich mir den Silberbit für den Pferdelift leisten. Anschließend legte ich die halbe Meile bis zur Schreibergasse im Laufschritt zurück. Erst die letzten Häuserblocks ging ich langsamer. So schmeichelhaft ein im Laufschritt herbeieilender Verehrer sein mag, wollte ich doch nicht keuchend und schwitzend wie ein Pferd vor Dennas Herberge stehen.
Ich war nicht weiter überrascht, Denna nicht in den VIER KERZEN anzutreffen. Sie war nicht jemand, der däumchendrehend zu Hause saß, nur weil ich keine Zeit hatte. Aber wir hatten zu zweit fast einen Monat lang die Stadt erkundet, und ich kannte die Orte, an denen sie meist zu finden war.
Ich eilte ihr nach, zögerte aber dann. Wohin war sie so spät am Abend allein noch unterwegs?
Sie war mit ihrem Schirmherrn verabredet.
Ich wünschte, ich könnte sagen, ich sei ihr nur unter größten Skrupeln gefolgt, aber das stimmt nicht. Die Aussicht, endlich die Identität dieses Mannes aufzudecken, war einfach zu verlockend.
Also setzte ich die Kapuze meines Mantels auf und folgte ihr heimlich. Wenn man ein wenig Übung hat, geht das erstaunlich leicht. In Tarbean hatte ich mir damals ein Spiel daraus gemacht, herauszufinden, wie lange ich jemandem unbemerkt folgen konnte. Dass Denna sich zunächst klugerweise an die besseren Viertel mit ihren belebten Straßen hielt, half mir. Und mein roter Mantel wirkte in dem trüben Licht unauffällig dunkel.
Ich folgte Denna eine halbe Stunde. Wir kamen an Straßenverkäufern vorbei, die Maronen und fettige Fleischpasteten feilboten. Unter die Passanten hatten sich Wächter gemischt, und die Straßen wurden von vereinzelten Laternen und Lampen über den Eingängen der Wirtshäuser beleuchtet. Gelegentlich spielte ein schäbig gekleideter Musikant auf, vor dem ein Hut lag, und einmal kamen wir an einer Pantomimentruppe vorbei, die auf einem kleinen, gepflasterten Platz ein Stück aufführte.
Doch dann ließ Denna die belebten Straßen hinter sich. Die Beleuchtung wurde spärlich, und wir begegneten immer mehr Betrunkenen. Statt der Musiker saßen Bettler am Straßenrand, die die Passanten anriefen oder an den Kleidern festhielten. Die Fenster einiger Schenken und Wirtshäuser waren zwar noch hell, aber die Straßen leerten sich zusehends. Die meisten Leute waren zu zweit oder dritt unterwegs. In Korsetts geschnürte Frauen und Männer mit harten Gesichtern kamen uns entgegen.
Gefährlich waren diese Straßen im Grunde trotzdem nicht. Oder genauer gesagt, sie waren gefährlich, wie es Glasscherben sind. Scherben greifen einen nicht an. Man kann sie sogar berühren, wenn man aufpasst. Andere Straßen sind dagegen gefährlich wie bissige Hunde, gegen die keine noch so große Vorsicht schützt.
Traf sie sich hier mit ihrem Schirmherrn? Oder nahm sie eine Abkürzung zu einer anderen Straße? Oder befolgte sie lediglich die wahnhaften Anweisungen ihres Schirmherrn, um eingebildete Verfolger abzuschütteln?
Ich schimpfte leise vor mich hin. Wenn ich ihr in die Gasse folgte und sie mich sah, wusste sie, dass ich sie beschattet hatte. Wenn ich ihr nicht folgte, verlor ich sie. Und auch wenn das Viertel nicht wirklich gefährlich war, wollte ich sie so spät nachts doch nicht allein lassen.
Ich ließ den Blick über die nächsten Häuser wandern. Eins davon war aus bröckelnden Feldsteinen gebaut. Rasch sah ich mich um und kletterte flink wie ein Eichhörnchen die Fassade hinauf. Auch diese nützliche Fähigkeit war mir aus meiner vergeudeten Kindheit geblieben.
Auf dem Dach angelangt, konnte ich ohne Schwierigkeiten über die Dächer einiger weiterer Häuser laufen. Zuletzt drückte ich mich in den Schatten eines Schornsteins und spähte in die Gasse hinunter. Über mir stand die Sichel des Mondes. Entweder Denna kürzte zur nächsten Straße ab, oder sie traf sich im Schatten der Häuser mit ihrem zwielichtigen Schirmherrn.
Weder das eine noch das andere traf zu. Im trüben Lampenschein aus einem Obergeschoss lag eine Frau reglos auf der Gasse. Mein Herz begann zu hämmern, bis ich begriff, dass es sich nicht um Denna handelte. Denna trug Hemd und Hose, die Frau dagegen ein zerknittertes weißes Kleid. Ihre nackten Beine hoben sich hell vom dunklen Pflaster ab.
Aufgeregt suchte ich die Gasse ab. Denna stand außerhalb des Lichtkegels vor einem breitschultrigen Mann mit einem im Mondlicht aufleuchtenden kahlen Schädel. Umarmte sie ihn? War er ihr Schirmherr?
Meine Augen hatten sich endlich an die Dunkelheit gewöhnt, und ich sah, dass die beiden zwar nah voreinander standen, Denna den Mann aber keineswegs umarmte. Sie hatte die Hand an seinen Hals
Die Frau auf dem Boden begann sich zu bewegen, und Denna rief ihr etwas zu. Unsicher stand die Frau auf, trat dabei auf den Saum ihres Kleides und wäre fast wieder gestürzt. Dann ging sie langsam und an die Mauer des Hauses gedrückt an Denna und dem Mann vorbei und auf den Eingang der Gasse zu.
Sobald sie sich ein Stück entfernt hatte, sagte Denna wieder etwas. Ich war zu weit entfernt, um die Worte zu verstehen, aber ihre Stimme klang so hart und zornig, dass sich mir die Haare auf den Armen sträubten.
Als Denna von dem Mann abließ, wich er einige Schritte zurück und hob die Hand an die Kehle. Dann begann er unflätige Verwünschungen gegen Denna auszustoßen. Er spuckte und bewegte die freie Hand, als wollte er sie packen. Seine Stimme übertönte die von Denna, aber er sprach so undeutlich, dass ich ihn nicht verstand. Nur das Wort »Hure« hörte ich einige Male heraus.
Trotz seiner Erregung wagte er es offenbar nicht, sich Denna zu nähern. Denna stand in selbstsicherer Pose vor ihm und sah ihn an. Das Messer hielt sie in Hüfthöhe vor sich. Die Spitze zeigte auf den Mann. Sie wirkte fast entspannt. Aber auch nur fast.
Der Mann schimpfte noch eine Weile vor sich hin, trat schlurfend einen Schritt vor und schüttelte die Faust. Denna sagte etwas und machte mit dem Messer eine kurze, ruckartige Bewegung in Richtung seiner Lenden. Der Mann verstummte, und seine Schulterpartie versteifte sich. Denna wiederholte die Bewegung, und der Mann begann erneut leise Verwünschungen auszustoßen. Dann wandte er sich ab und entfernte sich, die Hand weiter an den Hals gedrückt.
Denna sah ihm nach, ließ das Messer sinken und steckte es vorsichtig ein. Dann drehte sie sich um und kehrte zum Anfang der Gasse zurück.
Unterdessen eilte ich über die Dächer zur Fassade des ersten Hauses. Denna und die Frau standen nun im Schein einer Laterne unter mir. In ihrem Licht sah ich, dass die Frau viel jünger war, als ich angenommen hatte: ein schmächtiges Mädchen, dessen Schultern von Schluchzern geschüttelt wurden. Denna streichelte ihr beschwichtigend
Ich eilte zu einem alten eisernen Fallrohr, das mir bereits zuvor aufgefallen war, ein vergleichsweise einfacher Weg, zur Straße hinunterzugelangen. Trotzdem kostete es mich zwei lange Minuten und einige aufgeschürfte Fingerknöchel, bis ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
Ich musste meinen ganzen Willen aufbieten, um nicht aus der Gasse hinaus und hinter Denna und dem Mädchen herzurennen. Aber auf keinen Fall durfte Denna entdecken, dass ich ihr gefolgt war.
Zum Glück gingen die beiden nicht allzu schnell, so dass ich sie nicht aus den Augen verlor. Denna führte das Mädchen in ein besseres Viertel und verschwand mit ihr in einem anständig aussehenden Wirtshaus, auf dessen Schild ein Hahn gemalt war.
Ich wartete eine Weile draußen und versuchte mich durch ein Fenster in der Gaststube zu orientieren. Dann zog ich mir die Kapuze tiefer ins Gesicht, ging unauffällig durch den hinteren Teil der Stube und setzte mich an einen Tisch auf der anderen Seite einer Trennwand, hinter der Denna und das Mädchen saßen. Wenn ich mich vorgebeugt hätte, hätten wir uns gesehen.
Die Stube war fast leer, und kaum hatte ich mich gesetzt, trat schon ein Serviermädchen an meinen Tisch. Sie ließ den Blick auf dem feinen Tuch meines Mantels ruhen und lächelte. »Was kann ich Euch bringen?«
Ich musterte das beeindruckende Flaschensortiment hinter dem Tresen und winkte das Mädchen näher heran. Ich sprach leise und heiser, als sei ich eben erst von einem schlimmen Husten genesen. »Ich nehme einen Whiskey von eurer besten Sorte und ein Glas guten roten Felorer.«
Das Serviermädchen nickte und ging.
Ich wandte meine im Lauschen geübten Ohren dem Nachbartisch zu.
»… dein Akzent«, hörte ich Denna sagen. »Woher kommst du?«
Es folgte eine Pause, dann murmelte das Mädchen etwas. Ich konnte sie nicht verstehen, da sie mit dem Rücken zu mir saß.
Das Mädchen murmelte wieder etwas. Darauf folgte eine längere Pause. Ich wusste nicht, ob das Mädchen aufgehört hatte zu sprechen oder ob sie so leise redete, dass ich es nicht hören konnte. Ich unterdrückte das Verlangen, mich vorzubeugen und um die Ecke der Trennwand zu spähen.
Dann setzte das leise Murmeln erneut ein.
»Ich weiß, er hat gesagt, dass er dich liebt«, meinte Denna voller Mitgefühl. »Das sagen sie alle.«
Das Serviermädchen stellte ein hohes Weinglas vor mich und daneben das Whiskeyglas. »Macht zwei Bit.«
Grundgütiger Tehlu! Bei solchen Preisen war es kein Wunder, dass dieses Wirtshaus fast leer war.
Ich stürzte den Whisky auf einen Zug hinunter und widerstand dem Hustenreiz, als er in der Kehle brannte. Dann zog ich einen Silberrund aus meiner Börse, legte die schwere Münze auf den Tisch und stellte das leere Whiskyglas umgekehrt darauf.
Ich winkte das Serviermädchen wieder herbei. »Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte ich leise. »Ich habe im Augenblick nur einen Wunsch: nämlich ungestört hier zu sitzen, meinen Wein zu trinken und meinen Gedanken nachzuhängen.«
Ich klopfte auf das Whiskeyglas mit der Münze darunter. »Wenn ich das kann, gehört diese Münze abzüglich der Kosten für meine Getränke dir.« Die Augen des Mädchens wurden größer und wanderten zu der Münze. »Wenn mich dagegen jemand stört, auch wenn er es gut meint und mich nur fragen will, ob ich noch etwas trinke, bezahle ich und gehe.« Ich sah das Mädchen an. »Kannst du also dafür sorgen, dass ich den Abend ungestört bleibe?«
Sie nickte eifrig.
»Danke.«
Das Serviermädchen eilte fort, sprach mit der Frau hinter dem Schanktisch und machte eine Handbewegung in meine Richtung. Meine Anspannung ließ ein wenig nach. Die beiden würden dafür sorgen, dass ich ungestört blieb.
Ich nippte an meinem Wein und lauschte wieder.
Das Mädchen murmelte weiter. »Ein schöner Beruf«, sagte Denna. »Aber wie kommst du hierher?«
Ich hörte wieder Murmeln.
»Er konnte die Hände nicht von dir lassen, was?«, sagte Denna sachlich. »Älteste Söhne haben das so an sich.«
Das Mädchen sagte erneut etwas, diesmal lebhafter, aber ich verstand es immer noch nicht.
Ich rieb mit einem Zipfel meines Mantels das Äußere meines Weinglases und hielt es dann ein wenig von mir weg. Der Wein war dunkelrot, fast schwarz. Mit seiner Hilfe wurde das Glas zu einem Spiegel. Keinem besonders guten Spiegel, aber doch gut genug, dass ich an dem Tisch um die Ecke zwei Gestalten sitzen sah.
Ich hörte, wie Denna das Gemurmel des Mädchens mit einem Seufzer unterbrach. »Lass mich raten«, sagte sie ein wenig ungeduldig. »Du hast das Silber oder etwas Ähnliches gestohlen und bist in die Stadt weggelaufen.«
Das kleine Spiegelbild des Mädchens saß reglos da.
»Aber in der Stadt war es nicht so, wie du dir das vorgestellt hattest, nicht wahr?«, fuhr Denna sanfter fort.
Ich sah, wie die Schultern des Mädchens zu beben begannen und hörte ein leises, herzzerreißendes Schluchzen. Ich wandte den Blick von dem Weinglas ab und stellte es wieder hin.
»Hier«, sagte Denna. Man hörte, wie ein Glas auf den Tisch gestellt wurde. »Trink das, es wird dir ein wenig helfen. Nicht viel, aber ein wenig.«
Das Schluchzen verstummte. Kurz darauf hustete das Mädchen erstickt.
»Du armes, dummes Ding«, sagte Denna leise. »Dich zu sehen ist schlimmer als ein Blick in den Spiegel.«
Das Mädchen sprach zum ersten Mal so laut, dass ich es verstehen konnte. »Ich dachte, wenn er mich sowieso nimmt und auch ganz umsonst, kann ich genauso gut da hingehen, wo ich die Wahl habe und auch noch dafür bezahlt werde …«
»Der König für zehn Pennys?«, fiel Denna ihr ungläubig ins Wort. Ich hatte sie noch nie mit einem solchen Zorn sprechen hören. »Gott, wie ich dieses Stück hasse. Ein unsinniges modeganisches Märchen. Die Wirklichkeit ist ganz anders.«
»Aber …«, setzte das Mädchen an.
Denna ließ sie nicht zu Wort kommen. »Es gibt keinen in Lumpen gekleideten Prinzen, der nur darauf wartet, dich zu retten. Und selbst wenn, was hieße das für dich? Du wärst wie ein Hund, den er aus der Gosse gezogen hat. Du würdest ihm gehören. Und wer rettet dich vor ihm, wenn er dich mit nach Hause nimmt?«
Es kam keine Antwort. Das Mädchen hustete wieder, aber nur ein wenig.
»Was machen wir denn nun mit dir?«, fragte Denna.
Der Mädchen schniefte und antwortete etwas.
»Wenn du selbst auf dich aufpassen könntest, säßen wir nicht hier«, erwiderte Denna.
Wieder ein Murmeln.
»Eine Möglichkeit wäre es«, sagte Denna. »Du müsstest zwar die Hälfte deines Verdienstes abgeben, aber das ist immer noch besser als gar nichts zu bekommen und obendrein noch umgebracht zu werden. Das hast du heute Abend wahrscheinlich selber gemerkt.«
Man hörte Stoff an Stoff reiben. Ich neigte mein Weinglas wieder nach vorn, um etwas sehen zu können, konnte aber nur erkennen, wie Denna eine unbestimmte Bewegung machte. »Lass sehen, was wir hier haben«, sagte sie. Einige Münzen fielen klimpernd auf den Tisch.
Das Mädchen murmelte ehrfürchtig.
»Nein, bin ich nicht«, erwiderte Denna. »So viel Geld ist es auch wieder nicht, wenn man sonst nichts auf der Welt besitzt. Du müsstest doch mittlerweile wissen, wie teuer es ist, hier in der Stadt Fuß zu fassen.«
Ein Murmeln, das am Ende anstieg. Eine Frage.
Ich hörte Denna ein- und ganz langsam wieder ausatmen. »Weil mir auch jemand geholfen hat, als ich es brauchte«, sagte sie. »Und
Ich hörte, wie Münzen über den Tisch geschoben wurden. »Also gut«, sagte Denna dann. »Erste Möglichkeit: Wir geben dich in eine Lehre. Du bist zwar schon ein wenig alt dafür, und kosten wird es auch etwas, aber es wäre möglich. Nichts Ausgefallenes. Weberei oder Flickschusterei. Du müsstest hart arbeiten, hättest aber Unterkunft und Verpflegung und würdest ein Handwerk lernen.«
Ein fragendes Murmeln.
»Mit deiner Aussprache?«, fragte Denna belustigt. »Kannst du einer vornehmen Dame Locken eindrehen? Farbe auf das Gesicht auftragen? Ihre Kleider flicken? Spitze häkeln?« Es entstand eine kurze Pause. »Nein, du bist nicht als Dienstmädchen ausgebildet, und ich wüsste auch nicht, wen ich bestechen könnte.«
Die Münzen wurden eingesammelt. »Zweite Möglichkeit«, sagte Denna. »Wir mieten dir ein Zimmer, bis diese blauen Flecken verschwunden sind.« Münzen wurden über den Tisch geschoben. »Dann bezahlen wir dir eine Fahrt mit der Kutsche nach Hause.« Weitere Münzen folgten. »Du warst einen Monat lang weg. Nach so langer Zeit beginnt man sich ernsthaft Sorgen zu machen. Wenn du heimkommst, werden sich alle nur freuen, dass du überhaupt noch am Leben bist.«
Ein Murmeln.
»Erzähle ihnen, was du willst. Aber wenn du nur ein wenig Verstand hast, lass es vernünftig klingen. Niemand wird glauben, du hättest einen Prinzen kennengelernt, der dich nach Hause geschickt hat.«
Ein so leises Murmeln, dass ich es kaum hörte.
»Natürlich ist das schwer, du dummes Ding«, sagte Denna scharf. »Man wird es dir dein restliches Leben lang vorhalten. Auf der Straße werden die Leute auf dich zeigen und tuscheln. Du wirst es schwer haben, einen Mann zu finden, und du wirst Freundinnen verlieren. Aber diesen Preis musst du zahlen, wenn du dein bisheriges Leben zurückhaben willst.«
Die Münzen wurden klirrend wieder eingesammelt. »Dritte Möglichkeit: Wenn du unbedingt weiter als Hure arbeiten willst, müssen wir wenigstens dafür sorgen, dass du nicht tot im Straßengraben
Murmeln.
»Weil du nur so Aussicht auf Erfolg hast«, erwiderte Denna entschieden.
Erneutes Murmeln.
Denna seufzte verärgert. »Also gut, der Stallmeister deines Vaters, ja? Denk an die vielen verschiedenen Pferde, die der Baron besitzt: Ackergäule, Kutschpferde, Jagdpferde …«
Erregtes Murmeln.
»Genau«, sagte Denna. »Wenn du also die Wahl hättest, welches Pferd wolltest du sein? Ein Ackergaul verrichtet schwere Arbeit, aber bekommt er den besten Stall? Das beste Futter?«
Murmeln.
»Stimmt, das bekommen die edlen Vollblüter. Sie werden verwöhnt und müssen nur arbeiten, wenn eine Parade oder Jagd ansteht.« Denna machte eine kurze Pause. »Wenn du also eine Hure sein willst, musst du es richtig anstellen. Du willst keine billige Hafennutte sein, sondern eine Herzogin. Die Männer sollen dir den Hof machen und dir Geschenke schicken.«
Ein Murmeln.
»Ja, Geschenke. Wenn sie dich bezahlen, haben sie das Gefühl, dich zu besitzen. Und wohin das führt, hast du heute Abend erlebt. Du kannst entweder deine Aussprache und das Leibchen mit dem tiefen Ausschnitt behalten und dich für einen Halbpenny von Matrosen begrapschen und flachlegen lassen. Oder du lernst dich zu benehmen, lässt dir die Haare richten und empfängst feine Herren als Freier. Wenn du interessant und hübsch bist und zuhören kannst, werden die Männer deine Gesellschaft suchen. Sie werden mit dir nicht nur ins Bett gehen, sondern auch tanzen wollen. Dann bist du es, die über sie bestimmt. Eine Herzogin muss nie im Voraus für ihr Zimmer bezahlen. Niemand legt eine Herzogin in einer dunklen Gasse über ein Fass und schlägt ihr, wenn er sein Vergnügen gehabt hat, die Zähne aus.«
»Nein«, erwiderte Denna grimmig. Die Münzen wurden klimpernd in eine Geldbörse gesteckt. »Mach dir nichts vor. Auch das schönste Pferd bleibt immer ein Pferd. Das heißt, früher oder später wird man dich reiten.«
Ein fragendes Murmeln.
»Dann gehst du«, sagte Denna. »Wenn sie mehr wollen, als du zu geben bereit bist, bleibt dir nichts anderes übrig. Du verschwindest heimlich und leise über Nacht. Aber damit brichst du alle Brücken hinter dir ab. Das ist der Preis, den du dafür zahlst.«
Ein zögerndes Murmeln.
»Das kann ich dir nicht sagen. Du musst selbst entscheiden, was du willst. Willst du nach Hause zurückkehren? Das hat seinen Preis. Willst du dein Leben selbst in die Hand nehmen? Auch das hat seinen Preis. Willst du die Freiheit haben, etwas abzulehnen? Auch das kostet etwas. Alles hat seinen Preis.«
Ein Stuhl wurde vom Tisch zurückgeschoben, und ich hörte die beiden aufstehen. Ich drückte mich mit dem Rücken an die Wand. »So etwas muss jeder mit sich selbst ausmachen«, sagte Denna. Ihre Stimme entfernte sich. »Was willst du am meisten? Was wünschst du dir so dringend, dass du alles dafür zu geben bereit bist?«
Ich blieb noch lange sitzen, nachdem die beiden gegangen waren, und versuchte meinen Wein zu trinken.