Kapitel 42 Buße

Da es nun mit dem Lernen in der Bibliothek vorläufig vorbei war und der Winter alles unter Schnee begrub, fand ich, es sei an der Zeit, mich um ein paar Dinge zu kümmern, die ich in letzter Zeit vernachlässigt hatte.

Ich wollte Auri einen Besuch abstatten, aber die Dächer und der Hof, wo wir uns normalerweise trafen, waren mit Schnee und Eis bedeckt. Ich war froh, dass ich keine Fußspuren entdeckte, denn ich glaubte nicht, dass Auri überhaupt Schuhe besaß, von einem Mantel oder einer Mütze ganz zu schweigen. Ich hätte im Unterding nach ihr gesucht, aber das Entwässerungsgitter auf dem Hof war zugesperrt und vereist.

Ich legte ein paar Doppelschichten in der Mediho ein und trat an einem zusätzlichen Abend im ANKER’S auf, als Wiedergutmachung für den Abend, an dem ich früher hatte Schluss machen müssen. Außerdem arbeitete ich viel im Handwerkszentrum, stellte für mein Projekt Berechnungen an, führte Versuche durch und beschäftigte mich mit speziellen Legierungen. Und ich holte viel Schlaf nach.

Doch ein Mensch kann nun mal nicht beliebig lange schlafen, und am vierten Tag meines neuerlichen Hausverbots gingen mir die Vorwände aus: So wenig Lust ich auch dazu hatte – ich musste mit Devi sprechen.

Als ich mich endlich dazu durchgerungen hatte, zu ihr zu gehen, war die Temperatur gerade so weit wieder gestiegen, dass der Schneefall in Schneeregen überging.

Die Wanderung nach Imre war eine Qual. Ich hatte keine Mütze

Ich wollte im EOLIAN einkehren und mich ein wenig aufwärmen, bevor ich zu Devi weiterging. Doch das Gebäude war, was ich noch nie erlebt hatte, zugesperrt, und innen brannte auch kein Licht. Kein Wunder. Welcher Adlige würde bei diesem Wetter vor die Tür gehen? Welcher Musiker würde sein Instrument dieser kalten Nässe aussetzen?

Also stapfte ich weiter durch die menschenleeren Straßen und kam schließlich in die Gasse hinter der Metzgerei. Nach meiner Erinnerung war es das erste Mal, dass es auf der Treppe nicht nach ranzigem Fett stank.

Ich klopfte an Devis Tür und war beunruhigt, wie fühllos meine Hand war. Ich spürte kaum, wie meine Fingerknöchel die Tür berührten. Ich wartete ab und klopfte erneut, machte mir schon Sorgen, dass sie womöglich nicht da war und ich den Weg umsonst auf mich genommen hatte.

Doch dann öffnete sich die Tür einen Spalt weit. Warmer Lampenschein drang heraus, und ein eisblaues Auge spähte durch die Ritze. Die Tür öffnete sich weiter.

»Grundgütiger Tehlu«, sagte Devi. »Was machst du denn bei diesem Wetter hier?«

»Ich hab gedacht –«

»Nein, das kann nicht sein«, parierte sie. »Komm rein.«

Ich war klatschnass, und die Kapuze klebte mir am Kopf. Devi schloss die Tür hinter mir ab und verriegelte sie. Ich sah mich um, und mir fiel mir auf, dass sie ein zweites Bücherregal aufgestellt hatte, das aber noch weitgehend leer war. Als ich mich bewegte, löste sich eine größere Menge Schneematsch von meinem Umhang und klatschte auf den Fußboden.

Devi musterte mich lange mit kühlem Blick. Am anderen Ende des Raums, in der Nähe ihres Schreibtischs, brannte ein Kaminfeuer,

»Du machst nie irgendwas auf die leichte Tour, oder?«, fragte sie.

»Es gibt eine leichte Tour?«, fragte ich zurück.

Sie lachte nicht. »Wenn du glaubst, dass du hier nur so auftauchen musst – halb erfroren und wie ein geprügelter Hund –, damit ich meine Einstellung zu dir grundlegend revidiere, dann hast du dich …« Sie verstummte mitten im Satz und sah mich noch einmal nachdenklich an. »Nicht zu glauben«, sagte sie, und es klang erstaunt. »Es gefällt mir doch tatsächlich, dich so zu sehen. Es hebt meine Laune auf ein geradezu irritierendes Niveau.«

»Das war nicht unbedingt meine Absicht«, erwiderte ich. »Aber sei’s drum. Würde es dir helfen, wenn ich mir eine richtig schlimme Erkältung holen würde?«

Devi dachte darüber nach. »Möglicherweise«, sagte sie. »Zur Buße gehört ja immer auch ein gewisses Maß an Leiden.«

Ich nickte. Ich musste gar nichts tun, um elend auszusehen. Mit klammen Fingern griff ich in meinen Geldbeutel und zog eine kleine Bronzemünze hervor, die ich Sim einige Abende zuvor beim Kartenspielen abgeknöpft hatte.

Devi nahm sie. »Eine Bußmünze«, sagte sie unbeeindruckt. »Soll das jetzt eine symbolische Gabe sein?«

Ich zuckte die Achseln, wodurch noch mehr Schneematsch zu Boden fiel. »Ja, schon«, sagte ich. »Ich habe überlegt, zu einem Geldwechsler zu gehen und meine gesamten Schulden bei dir in Bußmünzen abzuzahlen.«

»Und was hat dich davon abgehalten?«, fragte sie.

»Mir ist klar geworden, dass ich dir damit nur auf die Nerven gehen würde«, sagte ich. »Und ich hatte auch keine Lust, die Wechselgebühren zu zahlen.« Ich musste mich sehr zusammenreißen, nicht sehnsüchtig zu dem Kaminfeuer hinüberzublicken. »Ich habe lange darüber nachgedacht, auf welche Art und Weise ich mich am besten bei dir entschuldigen könnte.«

»Und dann hast du beschlossen, das Beste wäre es, beim miesesten Wetter des Jahres zu Fuß hierher zu kommen?«

»Ich habe beschlossen, dass es am besten wäre, wenn wir uns

Devi blickte finster und wandte sich zum Kamin. »Na dann komm rein.« Sie ging zu einer Kommode neben dem Bett und zog ein dickes, blaues Baumwollgewand daraus hervor. Das gab sie mir und wies auf eine geschlossene Tür. »Geh, zieh dir die nassen Klamotten aus. Und schön auswringen im Waschbecken, sonst dauert es ewig, bis sie wieder trocknen.«

Ich tat wie geheißen und hängte meine Sachen anschließend an Haken vor dem Kamin auf. Es war ein wunderbares Gefühl, so nah am Feuer zu stehen. Im Licht des Feuerscheins sah ich, dass die Nagelbetten meiner Finger tatsächlich bläulich angelaufen waren.

So gern ich auch dort noch stehengeblieben wäre und mich weiter aufgewärmt hätte, setzte ich mich doch zu Devi an den Schreibtisch. Wie ich sah, war die Tischplatte abgeschliffen und neu lackiert worden, doch an der Stelle, an der sich der Taschenofen ins Holz gebrannt hatte, war immer noch ein schwarzer Ring zu sehen.

Ich fühlte mich ziemlich verletzlich, wie ich dort nur in dem Gewand, das sie mir gegeben hatte, vor ihr saß, aber daran war nun nichts zu ändern. »Nach unserem letzten … Treffen«, sagte ich und zwang mich, nicht ständig auf den Brandring zu starren, »… hast du mir mitgeteilt, dass meine gesamte Darlehenssumme zum Ende des Trimesters fällig würde. Wärst du bereit, darüber noch mal mit dir reden zu lassen?«

»Eher nicht«, erwiderte Devi kurz und knapp. »Aber ich kann dir versichern: Falls du nicht in der Lage sein solltest, deine Schulden in barer Münze zu begleichen, wäre ich weiterhin sehr am Erwerb gewisser Informationen interessiert.« Sie schenkte mir ein gieriges Lächeln.

Ich nickte. Sie wollte also immer noch Zugang zur Bibliothek. »Ich hatte gehofft, du wärst bereit, dir das noch mal zu überlegen, da du ja jetzt die Hintergründe der ganzen Sache kennst«, sagte ich. »Man hatte ein Sympathievergehen gegen mich begangen, und ich musste mich vergewissern, dass sich mein Blut in Sicherheit befand.«

Ich sah sie fragend an. Devi zuckte nur die Achseln, ohne dass

»Eins kommt noch hinzu«, sagte ich und sah ihr in die Augen. »Es ist sehr wahrscheinlich, dass mein irrationales Verhalten teilweise von den Nachwirkungen einer alchemischen Vergiftung herrührte, der ich einige Zeit zuvor zum Opfer gefallen bin.«

Devis Gesicht erstarrte. »Wie bitte?«

Davon hatte sie also nichts gewusst. Das war eine Erleichterung. »Ambrose hat jemanden engagiert, der mich eine Stunde vor meiner Zulassungsprüfung mit Pflaumenschlag vergiftet hat«, sagte ich. »Und du hast ihm die Formel dafür verkauft.«

»Du hast ja vielleicht Nerven!« Ihr Elfengesicht guckte mit einem Mal empört, aber das war nicht überzeugend. Sie war aus dem Gleichgewicht und gab sich zu viel Mühe.

»Nein, was ich habe«, erwiderte ich ganz ruhig, »ist ein Nachgeschmack von Pflaume und Muskatnuss in meinem Mund und gelegentlich das irrationale Verlangen, irgendwelchen Leuten an die Gurgel zu gehen, bloß weil sie mich auf der Straße versehentlich angerempelt haben.«

Die vorgetäuschte Empörung fiel von ihr ab. »Du kannst nichts beweisen«, sagte sie.

»Ich muss auch nichts beweisen«, erwiderte ich. »Ich habe nicht das Bedürfnis, dich bei den Meistern anzuzeigen oder dich vor das Eiserne Gesetz zu zerren.« Ich sah sie an. »Ich dachte bloß, es würde dich vielleicht interessieren, dass ich vergiftet wurde.«

Devi saß ganz still da. Sie kämpfte darum, ihr Gesicht zu wahren, aber ihr schlechtes Gewissen war nicht zu übersehen. »War es schlimm?«

»Ja, war es«, sagte ich ganz ruhig.

Sie wandte den Blick ab und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe nicht gewusst, dass Ambrose dahinter steckt«, sagte sie. »Irgendein reicher Quatschkopf ist zu mir gekommen und hat mir ein Angebot gemacht, das ich einfach nicht ablehnen konnte …«

Sie sah mich wieder an. Nun, da ihr kalter Zorn verraucht war, wirkte sie erstaunlich klein. »Mit Ambrose würde ich niemals Geschäfte

»Für irgendjemanden war es aber bestimmt, das musste dir doch klar sein«, sagte ich.

Einen Moment lang herrschte Schweigen, und man hörte nur das Knistern des Kaminfeuers.

»Ich sehe es so«, sagte ich. »Wir haben beide in letzter Zeit etwas Törichtes getan. Etwas, das wir bereuen.« Ich zog mir das Gewand enger um die Schultern. »Diese beiden Dinge heben sich auf keinen Fall gegenseitig auf, aber mir scheint doch, dass nun ein gewisses Gleichgewicht besteht.« Ich streckte die Hände aus und hielt sie wie Waagschalen.

Devi lächelte verlegen. »Vielleicht war es voreilig von mir, die vollständige Rückzahlung zu verlangen.«

Ich erwiderte ihr Lächeln und war erleichtert. »Was hieltest du davon, wenn wir es bei den ursprünglichen Darlehenskonditionen belassen würden?«

»Einverstanden.« Sie streckte mir über den Schreibtisch die Hand entgegen, und ich schlug ein. Der letzte Rest Anspannung, der noch im Raum gestanden hatte, löste sich in Luft auf, und mir fiel ein Stein vom Herzen.

»Deine Hand ist ja eiskalt«, sagte Devi. »Komm, wir setzen uns ans Feuer.«

Das taten wir und saßen dann einige Minuten lang schweigend da.

»Bei allen Göttern«, sagte Devi schließlich und stieß einen Seufzer aus. »Ich hatte wirklich eine Stinkwut auf dich.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich schon jemals so stinkwütend auf jemanden war.«

Ich nickte. »Und ich habe nicht wirklich geglaubt, dass du so tief sinken würdest, ein Sympathievergehen zu verüben«, sagte ich. »Ich war mir ganz sicher, dass du es nicht gewesen sein konntest. Aber dann haben alle immer wieder darüber geredet, wie gefährlich du wärst, und haben mir irgendwelche Geschichten über dich erzählt. Und als du dich dann geweigert hast, mir mein Blut zu zeigen …« Ich verstummte und zuckte die Achseln.

»Ja, manchmal blitzt es immer noch kurz auf«, sagte ich. »Und ich scheine seitdem auch leichter in Wut zu geraten. Aber das könnte auch am Stress liegen. Simmon meint, ich hätte wahrscheinlich immer noch ungebundene Prinzipien in mir. Was auch immer das bedeuten mag.«

Devi blickte finster. »Ich arbeite hier nicht gerade mit der idealen Ausstattung«, sagte sie und wies auf eine geschlossene Tür. »Und es tut mir leid. Aber der Kerl hat mir eine vollständige Gesamtausgabe der Vautium Tegnostae angeboten.« Sie wies auf die Bücherregale. »Normalerweise hätte ich so was nie getan, aber unzensierte Exemplare sind auf normalem Wege einfach nicht zu bekommen.«

Ich sah sie erstaunt an. »Du hast es für ihn hergestellt?«

»Das ist doch besser, als einfach nur die Formel rauszurücken«, verteidigte sie sich.

Ein Teil von mir war der Meinung, dass ich jetzt wütend sein sollte, der größere Teil aber war einfach nur froh, dass ich es warm und trocken hatte und nicht mehr in Lebensgefahr schwebte. Ich tat es mit einem Achselzucken ab. »Simmon hält dich übrigens für eine hundsmiserable Alchemistin«, bemerkte ich beiläufig.

Devi sah auf ihre Hände. »Ich bin nicht stolz darauf, dass ich es verkauft habe«, sagte sie. Dann hob sie den Blick wieder und grinste. »Aber die Tegnostae enthalten wirklich phantastische Illustrationen.«

Ich lachte. »Zeig mal her.«

Einige Stunden später waren meine Kleider wieder trocken, und der Schneeregen war in sachten Schneefall übergegangen. Die große Steinbrücke war nun vermutlich vollkommen vereist, aber davon mal abgesehen würde sich mein Rückweg sehr viel angenehmer gestalten als der Hinweg.

Als ich aus dem Badezimmer zurückkam, saß Devi wieder an ihrem Schreibtisch. Ich ging hinüber und gab ihr das Gewand zurück. »Ich werde deine Ehre nicht in Zweifel ziehen, indem ich dich frage,

Devi schnaubte nur und verdrehte die Augen.

Ich setzte mich und zog mir die Stiefel an. Sie waren schön warm, nachdem sie am Kamin gestanden hatten. Dann zückte ich meinen Geldbeutel, legte drei Silbertalente auf den Schreibtisch und schob sie Devi hin. Sie sah sie ungläubig an.

»Ich hab kürzlich ein bisschen Geld reinbekommen«, sagte ich. »Es ist zwar nicht genug, um meine Schulden komplett zu begleichen, aber dafür kann ich jetzt schon mal die Zinsen für dieses Trimester bezahlen.« Ich deutete auf die Münzen. »Eine vertrauensbildende Maßnahme.«

Devi lächelte und schob mir die Münzen zurück. »Dir bleiben immer noch zwei Spannen bis zum Ende des Trimesters«, sagte sie. »Und wie gesagt: Es bleibt bei unserer ursprünglichen Abmachung. Ich hätte kein gutes Gefühl dabei, wenn ich vorzeitig Geld von dir annehmen würde.«

Das Geld war zwar als aufrichtiges Friedensangebot gemeint gewesen, aber dennoch war ich froh, dass ich die drei Talente vorläufig behalten konnte. Es ist ein immenser Unterschied, ob man Geld in der Tasche hat oder nicht. Ein leerer Geldbeutel geht mit einem entsetzlichen Gefühl der Hilflosigkeit einher.

Es ist wie mit dem Saatgetreide. Wenn man nach einem langen Winter noch etwas Getreide übrig hat, kann man es für die Aussaat nutzen. Damit hat man sein Leben in der eigenen Hand. Man kann das Getreide nutzen und Pläne für die Zukunft schmieden. Doch wenn man im Frühjahr kein Getreide mehr übrig hat, das man aussäen könnte, ist man hilflos, aufgeschmissen. Man kann noch so hart arbeiten und es noch so sehr hoffen: Ohne Saat wird kein Kornfeld sprießen.

Und so kaufte ich mir etwas zum Anziehen: drei Hemden, eine neue Hose und dicke Wollsocken. Ich kaufte mir auch eine Mütze, ein Paar Handschuhe und einen Schal, um für den Winter gewappnet

Schließlich kaufte ich mir auch noch einen stabilen Fallriegel aus Messing und brachte ihn an dem Fensterrahmen in meiner Dachkammer an. Für mich war es ein Leichtes, ihn auszuhebeln, aber er würde meine wenigen Besitztümer vor Dieben schützen, auch vor den wohlmeinendsten.

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