Kapitel 61 Taubnessel

Ich kehrte in die Burg zurück, brachte meine Laute in mein Zimmer und begab mich alsbald auf dem schnellsten Weg zu Alverons privaten Gemächern. Stapes war nicht erfreut, mich zu sehen, führte mich aber mit seiner gewohnten Beflissenheit hinein.

Alveron lag schweißnass und benommen in seinen zerwühlten Laken. Ich bemerkte erst bei dieser Gelegenheit, wie ausgemergelt er war. Arme und Beine bestanden nur mehr aus Haut und Knochen, und die Haut hatte einen grauen Ton angenommen. Er blickte mir bei meinem Eintreten finster entgegen.

Stapes deckte ihn hastig ein wenig besser zu, half ihm, sich aufzusetzen, und schob ihm ein Kissen unter den Rücken. Der Maer erduldete seine Fürsorge mit unbewegter Miene und entließ ihn schließlich mit den Worten: »Danke, Stapes.« Der Kammerdiener warf mir einen letzten, entschieden unfreundlichen Blick zu und entfernte sich widerwillig.

Ich trat an das Bett des Maer und zog verschiedene Päckchen aus den Taschen meines Mantels. »Ich habe alles gefunden, was ich benötige, Euer Gnaden, wenn auch nicht alles, was ich zu finden hoffte. Wie geht es Euch?«

Sein Blick sprach Bände. »Du hast verdammt lange gebraucht. Caudicus kam, während du weg warst.«

Ich unterdrückte meinen Schrecken nur mühsam. »Was wollte er?«

»Er fragte nach meinem Befinden, und ich sagte ihm die Wahrheit. Er sah mir in die Augen und in den Hals und fragte, ob ich erbrochen hätte. Ich bejahte und sagte, ich bräuchte weitere Arznei und wolle

In mir stieg Panik auf. »Habt Ihr sie genommen?«

»Wenn du noch länger weggeblieben wärst, hätte ich das vielleicht getan und dich und deine Märchen zur Hölle geschickt.« Der Maer zog ein volles Fläschchen unter seinem Kopfkissen hervor. »Ich verstehe nicht, was es mir schaden kann. Ich habe das Gefühl, dass ich schon jetzt sterbe.« Er hielt mir das Fläschchen wütend hin.

»Ich glaube, ich kann Euch helfen, Euer Gnaden. Denkt daran, die kommende Nacht wird die schlimmste sein. Morgen ist auch noch schlimm, danach müsste es Euch besser gehen.«

»Wenn ich dann noch lebe«, stöhnte er.

Natürlich war das nur das Gejammer eines Kranken, aber ich hatte zufällig genau dasselbe gedacht. Ein kalter Schauer überlief mich. Ich hatte bisher nicht in Betracht gezogen, der Maer könnte trotz meiner Bemühungen sterben. Doch als ich ihn jetzt hinfällig, zitternd und aschfahl im Gesicht vor mir liegen sah, begriff ich plötzlich, dass er die Nacht vielleicht nicht überleben würde.

»Zunächst einmal möchte ich Euch das geben, Euer Gnaden.« Ich zog eins der Fläschchen heraus, die ich in der Stadt gekauft hatte.

»Schnaps?«, fragte der Maer ein wenig erstaunt. Ich schüttelte den Kopf und öffnete es. Er schnupperte daran, rümpfte die Nase und sank auf das Kissen zurück. »Bei Gott! Als ob das Sterben nicht schlimm genug wäre. Lebertran?«

Ich nickte ernst. »Nehmt zwei große Schlucke, Euer Gnaden. Er hilft Euch, gesund zu werden.«

Doch der Maer machte keine Anstalten zu trinken. »Ich habe das Zeug noch nie hinuntergebracht und konnte zuletzt nicht einmal Tee bei mir behalten. Warum soll ich mich damit abquälen, nur um es wieder zu erbrechen?«

Ich nickte und verstöpselte das Fläschchen wieder. »Dann gebe ich Euch etwas gegen die Übelkeit.« Auf dem Nachttisch stand ein Topf mit Wasser, und ich bereitete ihm eine Tasse Tee zu.

Der Maer folgte meinen Bewegungen mit den Augen. »Was schüttest du da hinein?«

»Ein Mittel gegen die Übelkeit und etwas, das Euch hilft, das Gift in

»Normalerweise nicht. Aber wahrscheinlich schmeckt der Tee ohne Zucker wie Spülwasser.« Ich gab einen Löffel Zucker dazu, rührte um und reichte ihm die Tasse.

»Du zuerst«, sagte Alveron. Er durchbohrte mich mit seinen scharfen grauen Augen und lächelte wölfisch.

Ich zögerte, aber nur einen Moment. »Auf Eure Gesundheit«, sagte ich und nahm einen Schluck. Ich verzog das Gesicht und fügte noch einen Löffel Zucker hinzu. »Ihr habt richtig vermutet. Er schmeckt nach Spülwasser.«

Der Maer nahm die Tasse mit beiden Händen und begann mit kleinen, entschlossenen Schlucken zu trinken. »Abscheulich«, stöhnte er. »Aber besser als nichts. Weißt du, wie schrecklich es ist, Durst zu haben, aber nicht trinken zu können – aus Angst, dass man alles gleich wieder erbricht? Das wünsche ich nicht einmal einem Hund.«

»Trinkt langsam«, mahnte ich. »Euer Magen müsste sich bald beruhigen.«

Ich ging ins Nebenzimmer und schüttete Caudicus’ neue Arznei in die Futterspender des Käfigs. Zu meiner Erleichterung tranken die Vögel den mit der Arznei durchsetzten Nektar willig. Ich hatte schon befürchtet, der veränderte Geschmack oder ein angeborener Selbsterhaltungstrieb könnten sie davon abhalten.

Außerdem befürchtete ich, Blei schade den Flittichen womöglich gar nicht oder die Auswirkungen machten sich erst später und nicht schon in wenigen Tagen bemerkbar. Der Maer durfte nicht die Geduld verlieren. Vielleicht unterschätzte ich seine Krankheit aber auch, vielleicht hatte ich mich überhaupt in allem geirrt.

Ich kehrte an sein Bett zurück. Er hielt die leer getrunkene Tasse im Schoß. Ich bereitete ihm eine zweite derselben Art zu, und er trank sie rasch. Dann warteten wir etwa eine Viertelstunde stumm.

»Wie geht es Euch, Euer Gnaden?«

»Besser«, gab er widerwillig zu. Seine Aussprache war ein wenig undeutlich geworden. »Viel besser.«

»Das liegt wahrscheinlich am Laudanum«, bemerkte ich. »Aber auch Euer Magen müsste sich inzwischen beruhigt haben.« Ich

»Hilft wirklich sonst nichts?«

»Wenn ich Zugang zu den Apotheken der Universität hätte, könnte ich vielleicht etwas besorgen, das besser schmeckt, aber im Moment habe ich nur das.«

»Mach mir noch eine Tasse Tee zum Hinunterspülen.« Er ergriff das Fläschchen mit dem Lebertran, nahm zwei winzige Schlucke und gab es mir mit vor Ekel verzerrtem Gesicht zurück.

Ich seufzte unmerklich. »Wenn Ihr weiter so langsam trinkt, sitzen wir noch den ganzen Abend hier. Zwei große Schlucke bitte, so wie Matrosen Schnaps trinken.«

Der Maer starrte mich finster an. »Sprich nicht mit mir wie mit einem Kind.«

»Dann benehmt Euch wie ein Mann«, erwiderte ich barsch. Er schwieg entgeistert. »Zwei Schlucke alle vier Stunden. Bis morgen sollte das Fläschchen leer sein.«

Seine grauen Augen verengten sich zu drohenden Schlitzen. »Vergiss nicht, mit wem du sprichst.«

»Ich spreche mit einem Kranken, der seine Arznei nicht einnehmen will«, erwiderte ich.

In seinen vom Laudanum schläfrig gewordenen Augen blitzte Wut auf. »Eine Flasche Fischöl ist keine Arznei«, fauchte er, »sondern eine böswillige Zumutung. Ich trinke den Lebertran nicht.«

Ich sah ihn so verächtlich an, wie ich nur konnte, nahm das Fläschchen und trank es, ohne den Blick von ihm abzuwenden, in einem Zug leer. Sein Zorn wich der Abscheu und schließlich einer resignierten, widerstrebenden Anerkennung. Zuletzt drehte ich das Fläschchen auf den Kopf, fuhr mit dem Finger einmal innen herum und leckte ihn ab.

Dann zog ich ein zweites Fläschchen aus meinem Mantel. »Das sollte eigentlich die Portion für morgen sein, aber jetzt müsst Ihr sie heute Nacht schon trinken. Wenn es Euch leichter fällt, könnt Ihr auch einen Schluck alle zwei Stunden nehmen.« Ich hielt ihm das Fläschchen hin, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

Er ergriff es stumm, nahm zwei gute Schlucke und stieß den

Ich kramte in den Taschen meines weinroten Mantels und zog den Ring des Maer heraus. »Ich vergaß, Euch den zurückzugeben.« Ich hielt ihm den Ring hin.

Er wollte ihn nehmen, überlegte es sich aber anders. »Behalte ihn vorerst«, sagte er. »Du hast ihn dir wohl verdient.«

»Danke, Euer Gnaden«, antwortete ich, ohne eine Miene zu verziehen. Er forderte mich zwar nicht auf, den Ring zu tragen, aber ich durfte ihn behalten, was immerhin einen deutlichen Fortschritt in unserer Beziehung bedeutete. Wie auch immer sein Werben um Lady Lackless ausgehen mochte, heute hatte ich ihn beeindruckt.

Ich schenkte ihm eine weitere Tasse Tee ein und erteilte dann meine restlichen Anweisungen, solange er mir noch zuhörte. »Heute Nacht solltet Ihr den restlichen Tee trinken, Euer Gnaden. Schickt nach mir, wenn ich Euch neuen zubereiten soll. Ihr solltet im Lauf der Nacht überhaupt so viel Flüssigkeit zu Euch nehmen, wie Ihr nur könnt. Am besten geeignet ist Milch. Gebt etwas Honig hinein, dann bekommt Ihr sie leichter hinunter.«

Er nickte und schien kurz davor einzunicken. Da ich wusste, wie schwierig die Nacht werden würde, ließ ich es zu. Ich sammelte meine Sachen ein und ging.

Stapes wartete im Vorzimmer. Ich sagte ihm, der Maer schlafe, und bat ihn, den Tee nicht wegzuschütten, da Seine Gnaden ihn beim Aufwachen noch trinken werde.

Der Blick, mit dem Stapes mich verabschiedete, war nicht bloß unfreundlich wie zuvor, sondern geradezu hasserfüllt. Erst als er die Tür hinter mir geschlossen hatte, begriff ich, was er glauben musste: dass ich nämlich versuchte, aus der Schwäche des Maer meinen Vorteil zu schlagen, wie viele Menschen es tun würden. Zum Beispiel reisende Ärzte, die keine Skrupel haben, die Ängste der Schwerkranken für sich auszunützen. Das beste Beispiel dafür ist der Quacksalber namens Taubnessel, der mit seinen Zaubertränken in dem Stück Drei Wünsche frei auftritt. Er ist eine der schimpflichsten Gestalten der gesamten Theaterliteratur, und jedes Publikum der Welt klatscht laut Beifall, wenn er im vierten Akt an den Pranger gestellt wird.

Wem würde man die Schuld geben, wenn er starb? Bestimmt nicht Caudicus, dem langjährigen Leibarzt. Und gewiss auch nicht Stapes, dem treuen Kammerdiener …

Sondern mir. Man würde mir die Schuld geben. Der Zustand des Maer hatte sich auch tatsächlich kurz nach meiner Ankunft verschlechtert. Stapes würde gewiss sofort lauthals verkünden, dass ich mit dem Maer allein im Zimmer gewesen sei. Dass ich ihm kurz vor jener schrecklichen Nacht noch Tee gekocht hätte.

Im besten Fall würde man mich wie Taubnessel für einen gewissenlosen Quacksalber halten. Im schlimmsten für einen Mörder.

In solche Gedanken versunken kehrte ich in meine Unterkunft zurück. Unterwegs blieb ich an einem Fenster mit Blick auf die Unterstadt stehen und erbrach einen Viertelliter Lebertran.

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