Kapitel 80 Aussprache

Am folgenden Tag zog Marten mit Hespe und Dedan los, während Tempi und ich zurückblieben, um das Lager zu bewachen. In Ermangelung einer anderen Beschäftigung begann ich Brennholz zu sammeln. Anschließend suchte ich im Unterholz nach nützlichen Kräutern und holte Wasser von der nahen Quelle. Dann packte ich meinen Reisesack aus, ordnete alles und packte es wieder ein.

Tempi nahm sein Schwert auseinander, säuberte gewissenhaft alle Teile und ölte sie ein. Er wirkte nicht gelangweilt, jedoch sah man ihm nie eine Gefühlsregung an.

Gegen Mittag war ich vor Langeweile schon halb verrückt. Wenn ich ein Buch dabeigehabt hätte, hätte ich gelesen. Ich hätte auch Taschen in meinen zerschlissenen Umhang genäht, doch fehlte mir der Stoff. Natürlich hätte ich auch Laute spielen können, aber eine Musikantenlaute ist dafür gebaut, in einer lärmenden Schankstube zu erklingen. Im stillen Wald hätte man sie meilenweit gehört.

Auch ein Gespräch mit Tempi wäre denkbar gewesen, aber genauso gut hätte ich mit einem Stein Fangen spielen können.

Doch schien mir nichts anderes übrig zu bleiben. Nach einer Weile schlenderte ich zu ihm hinüber. Er hatte sein Schwert gesäubert und beschäftigte sich mit dem ledernen Griff. »Tempi?«

Tempi legte das Schwert beiseite und erhob sich. Er stand unangenehm nahe vor mir, kaum zwei Handbreit entfernt. Dann runzelte er die Stirn. Oder eigentlich war es weniger ein Stirnrunzeln als ein kaum merkliches Aneinanderdrücken der Lippen und eine kleine

Er trat zwei Schritte von mir zurück, betrachtete den Boden zwischen uns und kam wieder einen kleinen Schritt nach vorn.

Mir kam eine Ahnung. »Wie nahe stehen die Adem denn gewöhlich beieinander, Tempi?«

Tempi starrte mich einen Augenblick verständnislos an, dann brach er in Lachen aus, gefolgt von einem verlegenen Lächeln, das ihn sehr jung aussehen ließ. Das Lächeln verschwand sofort wieder, schwang jedoch in seinen Augen nach. »Eine gute Frage, ja. Das ist verschieden. Bei dir nahe.« Er trat erneut unangenehm nahe an mich heran und wieder zurück.

»Bei mir?«, fragte ich. »Der Abstand hängt von der Person ab?«

Tempi nickte. »Ja.«

»Wie groß ist er bei Dedan?«

Er machte eine Handbewegung. »Schwierig.«

Ich verspürte eine mir bekannte Neugier. »Kannst du mir das beibringen, Tempi? Mich deine Sprache lehren?«

»Ja.« Seine Miene verriet wie immer nichts, aber er klang sehr erleichtert. »Ja, sehr gerne.«

Am späten Nachmittag hatte ich ein Sammelsurium ademischer Wörter gelernt. Die Grammatik war mir nach wie vor ein Rätsel, aber das ist sie am Anfang immer. Sprachen haben allerdings etwas mit Musikinstrumenten gemein: je mehr man kennt, desto leichter lernt man eine neue. Ademisch war meine vierte Sprache.

Unser größtes Problem war, dass Tempi so schlecht Aturisch sprach und wir uns deshalb nur mühsam verständigen konnten. Wir behalfen uns mit Zeichnungen auf dem Boden und heftigem Gestikulieren. Manchmal, wenn Gesten nicht ausreichten, führten wir zur Verdeutlichung des Gemeinten auch kleine Pantomimen auf. Jedenfalls hatte ich unerwartet großes Vergnügen an unserem Sprachkurs.

»Freacht«, sagte er.

»Freacht«, wiederholte ich.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, Freacht.«

»Freacht«, sagte ich, um eine genaue Aussprache bemüht.

»Nein«, widersprach er entschieden. »Freacht ist …« Er bleckte die Zähne und bewegte den Mund, als beiße er von etwas ab. »Freacht.« Er schlug mit der Faust in seine offene Hand.

»Freacht«, sagte ich.

»Nein.« Ich war überrascht, mit welcher Heftigkeit er es sagte. »Freacht.«

Mein Gesicht wurde heiß. »Das sage ich doch die ganze Zeit. «Freacht! Freacht! Fre …»

Tempi streckte den Arm aus und schlug mir mit der flachen Hand seitlich leicht an den Kopf. Genau so hatte er Dedan am Abend zuvor geschlagen, und genau so hatte mich auch mein Vater geschlagen, wenn ich mich vor anderen schlecht benahm. Es war ein harmloser Klaps, der nicht wehtat, aber ich war vollkommen verdattert. Seit Jahren hatte das niemand mehr mit mir gemacht.

Noch mehr verwirrte mich, dass ich die Hand nicht hatte kommen sehen. Die Bewegung war so beiläufig und schnell wie ein Fingerschnippen gewesen. Offenbar wollte Tempi mich auch gar nicht kränken, sondern nur meine Aufmerksamkeit wecken.

Er hob seine rotblonden Haare hoch und zeigte auf sein Ohr. »Zuhören«, sagte er fest. »Freacht.« Er bleckte wieder die Zähne und machte die beißende Bewegung. »Freacht.« Er hob die Faust. »Freacht. Freacht.«

Da hörte ich endlich, was er meinte: nicht den Klang des Wortes, sondern seine Tonhöhe und Betonung. »Freacht?«, fragte ich.

Er belohnte mich mit einem seiner seltenen Lächeln. »Ja. Gut.«

Anschließend musste ich noch einmal alle Wörter neu lernen und mir auch ihre Betonung einprägen. Davor hatte ich Tempi nur nachgesprochen, ohne ihm genau zuzuhören. Jetzt fand ich heraus,

Ich lernte die beiden entscheidend wichtigen Sätze »Was bedeutet das?« und »Sag das bitte noch einmal langsamer«, außerdem zwei Dutzend wichtige Wörter, darunter kämpfen, sehen, tanzen, Schwert und Hand. Die Pantomime, die ich aufführen musste, bis Tempi verstand, was »Hand« und »tanzen« bedeuteten, brachte uns beide zum Lachen.

Die neue Sprache faszinierte mich. Dass man dieselben Wörter verschieden aussprechen konnte, war eine musikalische Eigenschaft der Sprache. Ich fragte mich unwillkürlich …

»Tempi? Wie klingen eure Lieder?« Er sah mich verwirrt an. Offenbar verstand er die abstrakte Frage nicht. »Kannst du mir ein Lied der Adem vorsingen?«

»Was ist ein Lied?« Tempi hatte in der vergangenen Stunde doppelt so viele Wörter gelernt wie ich.

Ich räusperte mich und sang:

Die kleine Barfuß-Jenny zog mit dem Wind durchs Land.

Sie schaute, ob sie einen frischen Bub zum Lachen fand.

Ein Federmützchen auf dem Kopf, ein Pfeifen auf den Lippen,

Die Lippen feucht und honigsüß, die Zunge spitz zum Schnippen.

Während ich sang, wurden Tempis Augen immer größer. Zuletzt starrte er mich entgeistert an.

»Jetzt du.« Ich zeigte auf ihn. »Kannst du ein Lied der Adem singen?«

Er wurde feuerrot, und auf seinem Gesicht mischten sich ein Dutzend heftiger Gefühle wie Staunen, Entsetzen, Verlegenheit, Erschütterung und Abscheu. Er stand auf, wandte sich ab und sagte hastig etwas auf Ademisch, allerdings so schnell, dass ich ihm nicht folgen konnte. Er tat so, als hätte ich ihn soeben aufgefordert, sich vor mir nackt auszuziehen und zu tanzen.

»Nein«, sagte er, nachdem er sich ein wenig beruhigt und sein Gesicht wieder unter Kontrolle hatte. Die Haut war allerdings noch tiefrot. »Nein.« Er blickte zu Boden, fasste sich an die Brust und schüttelte den Kopf. »Kein Lied. Kein Lied der Adem.«

Tempi schüttelte den Kopf. »Nein, nicht nötig.« Er holte tief Luft und wandte sich kopfschüttelnd zum Gehen. »Kompliziert.«

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