Kapitel 11 Refugium
Ich kehrte guter Laune zur Universität zurück, trotz der Bürde meiner neuen Schulden. Ich machte ein paar Einkäufe, schnappte mir meine Laute und stieg auf die Dächer hinauf.
Im Innern glich das Hauptgebäude einem Labyrinth aus absurd verschlungenen Fluren und nirgendwo hinführenden Treppen. Sich über die zusammengestückelten Dächer zu bewegen war jedoch kinderleicht. Ich ging zu dem kleinen Hof, den man im Laufe der Erweiterungen irgendwann von jedem Zugang abgeschlossen hatte und der daher nun eine gewisse Ähnlichkeit mit einer in Bernstein eingeschlossenen Fliege besaß.
Auri erwartete mich nicht, aber dies war der Ort, an dem ich ihr zum ersten Mal begegnet war, und in klaren Nächten kam sie manchmal hier herauf, um den Sternenhimmel zu betrachten. Ich sah nach, dass in den Seminarräumen, deren Fenster auf den Hof gingen, kein Licht mehr brannte und sich dort auch niemand mehr aufhielt, und dann packte ich meine Laute aus und begann sie zu stimmen.
Ich hatte schon fast eine Stunde lang gespielt, als ich drunten in dem zugewucherten Hof etwas rascheln hörte. Dann tauchte Auri auf, erklomm in Windeseile den Apfelbaum und stieg zu mir aufs Dach.
Sie kam herbeigelaufen. »Ich habe dich gehört!«, sagte sie. »Bis in die Hopse hab ich dich gehört!«
»Mir war so«, sagte ich, »als wollte ich heute für irgendjemanden Musik spielen.«
»Für mich!« Sie drückte sich beide Hände vor die Brust und lächelte. Dabei hüpfte sie tänzelnd vor Ungeduld von einem Fuß auf
»Na ja«, sagte ich zögernd. »Ich denke mal, es hängt davon ab, was du mir mitgebracht hast.«
Sie lachte und stellte sich auf die Fußballen, die Hände immer noch vor dem Herzen. »Was hast du mir denn mitgebracht?«
Ich kniete mich hin und schnürte mein Bündel auf. »Ich habe dir drei Dinge mitgebracht«, sagte ich.
»Wie traditionsbewusst«, sagte sie und grinste. »Du bist ja heute Abend ein richtiger kleiner Gentleman.«
»Ja, das bin ich.« Ich hielt eine dunkle Flasche empor.
Sie nahm sie mit beiden Händen entgegen. »Wer hat das gemacht?«
»Bienen«, sagte ich. »Und eine Brauerei in Bredon.«
Auri lächelte. »Drei B also«, sagte sie und stellte die Flasche zu ihren Füßen ab. Als Nächstes holte ich einen ofenfrischen, runden Laib Gerstenbrot hervor. Auri berührte ihn mit einer Fingerspitze und nickte anerkennend.
Als Letztes kam ein ganzer Räucherlachs zum Vorschein. Der hatte mich vier Deut gekostet, aber ich machte mir Sorgen, dass Auri bei dem, was sie in meiner Abwesenheit irgendwo abstaubte, nicht genug Fleisch zu essen bekam. Es würde ihr guttun.
Sie sah sich den Lachs neugierig an und neigte den Kopf, um in sein glotzendes Auge zu blicken. »Hallo, Fisch«, sagte sie. Dann sah sie wieder zu mir hoch. »Hat er ein Geheimnis?«
Ich nickte. »Er hat statt einem Herz eine Harfe.«
»Kein Wunder, dass er so erstaunt guckt.«
Auri nahm mir den Fisch aus den Händen und legte ihn vorsichtig aufs Dach. »Steh jetzt auf. Ich habe auch drei Dinge für dich, wie sich das gehört.«
Ich erhob mich, und sie hielt mir etwas entgegen, das in ein Stück Stoff eingewickelt war. Es war eine dicke Kerze, die nach Lavendel roch. »Was ist da drin?«, fragte ich.
»Schöne Träume«, antwortete sie. »Die habe ich extra für dich da reingetan.«
Sie nickte und lächelte begeistert. »Ja, habe ich. Ich bin nämlich unglaublich geschickt.«
Ich steckte die Kerze vorsichtig in eine Tasche meines Umhangs. »Vielen Dank, Auri.«
Sie wurde wieder ernst. »Und jetzt mach die Augen zu und bück dich, damit ich dir dein zweites Geschenk geben kann.«
Verblüfft schloss ich die Augen und beugte mich vor, fragte mich, ob sie mir auch einen Hut gebastelt hatte.
Ich spürte ihre Hände auf meinen Wangen, und dann hauchte sie mir einen zarten Kuss mitten auf die Stirn.
Erstaunt schlug ich die Augen auf, doch da war sie schon einige Schritte weit zurückgewichen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Auri trat wieder einen Schritt vor. »Du bist jemand ganz Besonderes für mich«, sagte sie in ernstem Ton und mit ernstem Gesichtsausdruck. »Und du sollst wissen, dass ich mich immer um dich kümmern werde.« Sie streckte vorsichtig eine Hand aus und strich mir über die Wange. »Das ist dein drittes Geschenk. Wenn es dir mal schlecht geht, kannst du immer zu mir ins Unterding kommen und da bleiben. Es ist schön da, und da bist du in Sicherheit.«
»Danke, Auri«, sagte ich, sobald ich wieder ein Wort herausbekam. »Du bist auch jemand ganz Besonderes für mich.«
»Natürlich bin ich das«, sagte sie ganz sachlich. »Ich bin so schön wie der Mond.«
Ich sammelte mich wieder, und Auri hüpfte derweil zu einem Stück Metall, das aus einem Schornstein ragte, und nutzte es als Öffner für die Bierflasche. Dann kam sie wieder und hielt die Flasche vorsichtig in beiden Händen.
»Auri«, sagte ich, »hast du gar keine kalten Füße?«
Sie sah hinab. »Der Teer ist noch warm vom Sonnenschein«, sagte sie und bewegte die Zehen.
»Hättest du nicht gern ein Paar Schuhe?«
»Was wäre da drin?«, fragte sie.
»Deine Füße«, sagte ich. »Es wird bald Winter.«
Sie zuckte die Achseln.
»Im Winter komme ich nicht nach oben«, sagte sie. »Da ist es hier nicht schön.«
Bevor ich etwas darauf erwidern konnte, trat Elodin hinter einem großen Schornstein hervor, so beiläufig, als würde er gerade einen Spaziergang unternehmen.
Einen Moment lang starrten wir drei einander an, jeder auf seine Weise verblüfft. Im Augenwinkel sah ich, dass Auri reglos verharrte, wie ein Reh, kurz davor, Reißaus zu nehmen.
»Meister Elodin«, sagte ich freundlich, in der verzweifelten Hoffnung, dass er nichts unternehmen würde, was Auri in die Flucht schlagen könnte. Als sie das letzte Mal in ihr unterirdisches Versteck geflohen war, hatte es eine ganze Spanne gedauert, bis sie wieder zum Vorschein kam. »Wie schön, Euch zu sehen.«
»Hallo zusammen«, sagte Elodin und nahm meinen beiläufigen Tonfall auf, als wäre überhaupt nichts Ungewöhnliches dabei, dass wir drei uns mitten in der Nacht auf einem Dach begegneten.
»Meister Elodin.« Auri stellte einen nackten Fuß hinter den anderen, ergriff den Saum ihres zerlumpten Kleids und machte einen Knicks.
Elodin verharrte im Schatten des großen Schornsteins. Er antwortete mit einer eigentümlich formellen Verbeugung. Ich konnte sein Gesicht nicht genau erkennen, stellte mir aber vor, wie er das barfüßige, verwahrlost wirkende Mädchen mit der Haarwolke neugierig betrachtete. »Was treibt euch denn an diesem schönen Abend hier herauf?«, fragte er.
Ich erstarrte. Auri Fragen zu stellen war gefährlich.
Doch glücklicherweise schien es sie in diesem Fall nicht zu stören. »Kvothe hat mir schöne Dinge mitgebracht«, sagte sie. »Er hat mir Bienenbier geschenkt und Brot und einen geräucherten Fisch, der eine Harfe hat, wo sein Herz sein sollte.«
»Ah«, sagte Elodin und trat nun aus dem Schatten des Schornsteins hervor. Er tastete sein Gewand ab, bis er etwas in einer Tasche fand, und hielt es ihr hin. »Ich fürchte, ich habe dir nur eine Cinnasfrucht mitgebracht.«
Auri wich einen kleinen Tanzschritt zurück und machte keine
Das erwischte Elodin offenbar auf dem falschen Fuß. Er stand einen Moment lang unschlüssig da, einen Arm immer noch ausgestreckt. »Ich fürchte, nein«, sagte er. »Aber Kvothe hat ja vermutlich auch nichts für mich mitgebracht.«
Auri runzelte ein wenig die Stirn. »Kvothe hat Musik mitgebracht«, sagte sie streng. »Und die Musik ist für alle da.«
Elodin hielt erneut inne, und ich muss gestehen, dass ich es genoss, zu sehen, wie er dieses eine Mal von jemand anderem in Verlegenheit gebracht wurde. Er wandte sich um und deutete in meine Richtung eine Verbeugung an. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, sagte er.
Ich machte eine gnädige Geste. »Nicht der Rede wert.«
Elodin wandte sich wieder Auri zu und streckte erneut die Hand aus.
Nun trat sie zwei kleine Schritte vor, zögerte und näherte sich ihm dann noch zwei kleine Schritte weit. Sie streckte langsam eine Hand aus, ergriff die kleine Frucht, huschte mehrere Schritte zurück und hielt sich dabei beide Hände vors Herz. »Vielen, vielen Dank«, sagte sie und machte erneut einen Knicks. »Jetzt dürft Ihr Euch zu uns gesellen, wenn Ihr mögt. Und wenn Ihr Euch gut benehmt, dürft Ihr anschließend bleiben und Kvothe spielen hören.« Sie neigte den Kopf ein wenig und verwandelte es so in eine Frage.
Elodin zögerte kurz und nickte dann.
Auri huschte zur anderen Seite des Dachs und dann die kahlen Äste des Apfelbaums hinab in den Hof.
Elodin sah ihr nach. Als er den Kopf bewegte, erhellte der Mondschein sein Gesicht so weit, dass ich seine nachdenkliche Miene erkennen konnte. Mit einem Mal schnürte mir eine große Besorgnis den Magen zusammen. »Meister Elodin?«
Er sah sich zu mir um. »Hm?«
Ich wusste aus Erfahrung, dass Auri nur drei oder vier Minuten brauchen würde, bis sie mit dem, was sie nun aus dem Unterding hervorholte, wieder auf dem Dach auftauchen würde. Ich musste mich kurz fassen und mich beeilen.
Elodins Gesicht war nun wieder im Schatten verborgen. »Tatsächlich?«, sagte er.
»Auch keine lauten Geräusche. Nicht einmal lautes Gelächter. Und Ihr dürft ihr keine Fragen stellen, die auch nur ansatzweise etwas Persönliches berühren. Sonst rennt sie einfach weg.« Ich atmete tief durch, mein Hirn raste. Ich bin ein redegewandter Mensch, und wenn ich genug Zeit habe, kann ich so ziemlich jeden von so ziemlich allem überzeugen. Elodin aber war einfach zu unberechenbar, als dass ich ihn hätte manipulieren können.
»Ihr dürft auch niemandem erzählen, dass sie hier ist.« Es klang eindringlicher als beabsichtigt, und augenblicklich bereute ich meine Wortwahl. Es stand mir nicht zu, einem Meister Anweisungen zu geben, selbst wenn dieser Meister mehr als nur halb wahnsinnig war. »Ich meine damit«, fügte ich schnell hinzu, »dass Ihr mir einen großen Gefallen tun würdet, wenn Ihr sie niemandem gegenüber erwähnt.«
Elodin sah mich forschend an. »Und wieso das, Re’lar Kvothe?«
Bei seinem kühl-belustigten Tonfall brach mir der Schweiß aus. »Sie würden sie nur ins Refugium stecken«, sagte ich. »Und Ihr wisst doch selber am besten, was …« Ich verstummte, mit trockener Kehle.
Elodin starrte mich an, sein Gesicht kaum mehr als ein Schatten, aber ich spürte seinen finsteren Blick. »Was soll das heißen, Re’lar Kvothe? Gehst du etwa davon aus, du wüsstest, wie ich zum Refugium stehe?«
Mein kunstvoll komponierter Appell fiel mir als Scherbenhaufen vor die Füße. Mit einem Mal kam ich mir vor, als wäre ich wieder auf den Straßen von Tarbean unterwegs, mein Magen vor Hunger zusammengekrampft, meine Brust von verzweifelter Hoffnungslosigkeit erfüllt, während ich Seeleute und Händler an den Ärmeln zupfte und sie um Pennys, Halbpennys, Scherflein anbettelte.
»Pscht!«, erwiderte Elodin. »Sie kommt.« Er ergriff meine Schulter, und da erhellte der Mondschein sein Gesicht, und er blickte ganz und gar nicht böse oder streng, sondern nur verwirrt und besorgt. »Gütiger Himmel, du zitterst ja. Atme tief durch, und setz dein Bühnengesicht auf. Du machst ihr ja Angst, wenn sie dich so sieht.«
Ich atmete tief durch und versuchte krampfhaft, mich zu entspannen. Elodins besorgter Ausdruck schwand, und er ließ meine Schulter los und trat wieder einen Schritt zurück.
Auri kam mit vollen Armen über das Dach zu uns gehuscht. Sie blieb in einiger Entfernung stehen, beäugte uns beide und legte dann auch die restliche Strecke zurück, die Schritte so sorgfältig setzend wie eine Tänzerin. Dann ließ sie sich im Schneidersitz auf dem Dach nieder. Elodin und ich nahmen ebenfalls Platz, wenn auch längst nicht so anmutig.
Auri entfaltete ein Tuch, breitete es zwischen uns aus und stellte einen großen Holzteller in die Mitte. Dann holte sie die Cinnasfrucht hervor und roch daran. »Was ist da drin?«, fragte sie Elodin.
»Sonnenschein«, sagte er leichthin, als hätte er diese Frage erwartet. »Genauer gesagt: Frühmorgendlicher Sonnenschein.«
Die beiden kannten sich. Natürlich. Deshalb war sie nicht weggelaufen, als er aufgetaucht war. Ich spürte, wie sich meine Anspannung ein wenig löste.
Auri roch noch einmal an der Frucht und blickte einen Moment lang nachdenklich. »Sie ist schön«, sagte sie. »Aber Kvothes Sachen sind schöner.«
»Das leuchtet ein«, sagte Elodin. »Kvothe ist ja sicherlich auch ein netterer Mensch als ich.«
»Das versteht sich von selbst«, erwiderte sie.
Auri schenkte mir Bier in meine vertraute Teetasse aus Porzellan. Elodin bekam ein Gefäß, das nach einem Marmeladenglas aussah. Sie goss ihm etwas bei der ersten Runde ein, nicht aber bei der zweiten. Ich fragte mich, ob sie damit Missfallen zum Ausdruck bringen wollte.
Wir aßen, ohne etwas zu sagen. Auri nahm winzige Bissen und saß kerzengerade. Elodin guckte immer wieder kurz zu mir herüber, als wüsste er nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Ich schloss daraus, dass er bisher noch nicht mit ihr gegessen hatte.
Als wir alles andere verspeist hatten, holte Auri ein Messerchen hervor und schnitt die Cinnasfrucht in drei Teile. Sobald sie die Schale der Frucht aufschnitt, roch ich den süßen, markanten Duft, und mir lief das Wasser im Munde zusammen. Cinnasfrüchte kamen von weither und waren viel zu teuer für Leute wie mich.
Sie hielt mir mein Stück hin, und ich nahm es. »Herzlichen Dank, Auri.«
»Herzlich gern, Kvothe.«
Elodin sah zwischen uns beiden hin und her. »Auri?«
Ich wartete darauf, dass er die Frage zu Ende formulierte.
Auri verstand schneller als ich, was er damit meinte. »Das ist mein Name«, sagte sie und lächelte stolz.
»Tatsächlich?«, erwiderte Elodin neugierig.
Auri nickte. »Den habe ich von Kvothe bekommen.« Sie strahlte zu mir herüber. »Ist er nicht wunderbar?«
Elodin nickte. »Ein sehr schöner Name«, sagte er. »Und er passt perfekt zu dir.«
»Ja, das tut er«, sagte sie. »Es ist, als hätte ich eine Blume im Herzen.« Mit ernstem Blick sah sie Elodin an. »Wenn Euch Euer Name einmal zu schwer wird, solltet Ihr Euch von Kvothe einen neuen geben lassen.«
Elodin nickte und biss von seinem Stück Cinnasfrucht ab. Und während er kaute, wandte er sich zu mir um und sah mich an. Im
Nach dem Nachtmahl sang ich ein paar Lieder, und dann verabschiedeten wir uns voneinander. Elodin und ich gingen gemeinsam fort. Ich kannte mindestens ein halbes Dutzend Stellen, an denen man vom Dach des Hauptgebäudes herabsteigen konnte, ließ ihm aber den Vortritt.
Wir gingen an der runden Sternwarte vorüber, die aus dem Dach ragte, und gelangten dann auf eine größere Fläche aus einigermaßen ebenem Zinnblech.
»Wie lange besuchst du sie schon?«, fragte Elodin.
Ich überlegte. »Ein halbes Jahr? Je nach dem, wie man es zählt. Ich hatte schon ein paar Spannen lang dort oben gespielt, als ich sie zum ersten Mal sah, und dann hat es noch mal eine ganze Zeit lang gedauert, bis sie mir so weit vertraut hat, dass sie mit mir sprach.«
»Dann hast du da mehr Glück gehabt als ich«, sagte er. »Bei mir hat es Jahre gedauert. Und heute hat sie mich zum ersten Mal näher als zehn Schritte an sich herangelassen. Und bisher haben wir bestenfalls mal ein Dutzend Worte gewechselt.«
Wir stiegen über einen breiten, flachen Schornstein und kamen auf eine leicht abschüssige Fläche aus Teerpappe. Und während wir so gingen, wuchs meine Sorge. Wieso hatte er versucht, ihr nahe zu kommen?
Ich dachte an den Tag zurück, als ich mit Elodin ins Refugium gegangen war, um seinen Giller Alder Whin zu besuchen. Ich stellte mir Auri dort vor. Die zarte Auri, mit dicken Lederriemen auf einem Bett festgeschnallt, damit sie sich nicht verletzen und nicht um sich schlagen konnte, während sie zwangsweise ernährt wurde.
Ich blieb stehen. Elodin ging noch ein paar Schritte weiter und sah sich dann zu mir um.
»Sie ist meine Freundin«, sagte ich.
Er nickte. »Offensichtlich.«
Elodin neigte den Kopf zur Seite. »Ich höre da ein sonst«, sagte er in belustigtem Ton, »auch wenn du es nicht aussprichst. Ich soll dir das versprechen, sonst …« Ein Mundwinkel hob sich zur Andeutung eines Lächelns.
Und als er so lächelte, empfand ich schlagartig Wut, vermengt mit Unsicherheit und Furcht. Und plötzlich hatte ich wieder den Geschmack von Pflaumen und Muskatnuss im Mund und war mir des Messers nur allzu bewusst, das ich unter der Hose an den Oberschenkel geschnallt trug. Ich spürte meine Hand langsam in meine Hosentasche gleiten.
Da sah ich die Dachkante zwei Meter hinter Elodin und spürte, wie sich meine Füße bereit machten, loszulaufen und mich auf ihn zu stürzen, und dann wären wir zusammen vom Dach gestürzt und unten im Hof auf das Kopfsteinpflaster geknallt.
Mir brach am ganzen Körper kalter Schweiß aus, und ich schloss die Augen. Ich atmete langsam tief durch, und der Geschmack verschwand.
Dann öffnete ich die Augen wieder. »Ihr müsst mir das versprechen«, sagte ich. »Sonst werde ich wahrscheinlich eine unfassbare Dummheit begehen.« Ich schluckte. »Und wir beide werden darunter zu leiden haben.«
Elodin sah mich an. »Eine bemerkenswert offenherzige Drohung«, sagte er. »Normalerweise klingt so etwas viel knurriger und knorpeliger.«
»Knorpeliger?«, fragte ich verwirrt.
»Ja, meist heißt es dann doch: Ich brech dir die Knie, ich brech dir das Genick.« Er zuckte die Achseln. »Und dabei denke ich immer an Knorpel, wie wenn man ein Hähnchen entbeint.«
»Ah«, sagte ich. »Ich verstehe.«
Wir sahen einander einen Moment lang schweigend an.
Er wandte sich wieder um und ging weiter. Als ich ihm nicht folgte, blieb er wieder stehen.
»Das reicht mir nicht«, sagte ich. »Ihr müsst es mir versprechen.«
»Ich schwöre es bei der Milch meiner Mutter«, sagte Elodin. »Ich schwöre es bei meinem Namen und meiner Macht. Ich schwöre es bei dem ewig wandernden Mond.«
Da setzten wir unseren Weg fort.
»Sie braucht wärmere Kleider«, sagte ich. »Und Strümpfe und Schuhe. Und eine Decke. Und das alles muss neu sein, nicht aus zweiter Hand. Auri zieht nichts an, was schon jemand getragen hat. Das habe ich schon probiert.«
»Von mir würde sie das nicht annehmen«, sagte Elodin. »Ich habe schon Dinge für sie hinterlegt. Sie hat sie nicht angerührt.« Er sah mich an. »Wenn ich dir die Sachen gebe, gibst du sie an sie weiter?«
Ich nickte. »Sie braucht übrigens auch zwanzig Talente, einen großen Rubin und einen neuen Satz Gravierwerkzeuge.«
Elodin kicherte. »Braucht sie auch neue Lautensaiten?«
Ich nickte. »Und zwar gleich einen doppelten Satz, wenn’s geht.«
»Wieso Auri?«, fragte Elodin.
»Weil sie sonst niemanden hat«, sagte ich. »Und weil auch ich sonst niemanden habe. Wenn wir nicht aufeinander aufpassen, wer dann?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich meinte: Wieso hast du diesen Namen für sie ausgesucht?«
»Ach so«, sagte ich verlegen. »Weil sie immer so heiter und munter ist, obwohl sie eigentlich gar keinen Grund dazu hat. Auri bedeutet ›sonnig‹.«
»In welcher Sprache?«
Ich zögerte. »Siaru, glaube ich.«
Elodin schüttelte den Kopf. »Auf Siaru heißt sonnig ›leviriet‹.«
Doch bevor es mir wieder einfiel, wechselte Elodin das Thema. »Ich werde übrigens ein Seminar geben«, sagte er ganz beiläufig, »für Studenten, die sich für Namenskunde interessieren.« Er sah mich von der Seite an. »Und mir scheint, das wäre für dich nicht nur reine Zeitverschwendung.«
»Klingt interessant«, sagte ich vorsichtig.
Er nickte. »Du solltest zur Vorbereitung Teccams Prinzipien studieren. Es ist kein dickes Buch, aber sehr gehaltvoll.«
»Wenn Ihr mir ein Exemplar leihen könntet, würde ich nichts lieber tun als das«, sagte ich. »Sonst muss es halt erst mal ohne gehen.«
Er sah mich verständnislos an.
»Ich habe Hausverbot in der Bibliothek«, sagte ich.
»Immer noch?«, fragte Elodin verblüfft.
»Ja, immer noch.«
Er wirkte empört. »Seit wann denn schon? Seit einem halben Jahr?«
»In drei Tagen ist es ein Dreivierteljahr«, sagte ich. »Und Meister Lorren hat sehr deutlich erklärt, dass er mich nicht so schnell wieder hereinlassen wird.«
»Das«, sagte Elodin in einem Beschützerton, der ganz ungewohnt klang, »ist doch vollkommener Schwachsinn. Du bist doch jetzt mein Re’lar.«
Er wechselte abrupt die Richtung und schritt über einen Dachabschnitt, den ich normalerweise mied, da er mit Tonziegeln gedeckt war. Von dort sprangen wir in eine Gasse hinab, überquerten das Dach eines Wirtshauses und gelangten schließlich auf ein anderes, steinernes Dach.
Schließlich kamen wir an ein großes Fenster, aus dem warmer Kerzenschein drang. Elodin pochte so energisch an die Scheibe, als wäre es eine Tür. Als ich mich umblickte, wurde mir klar, dass wir uns auf dem Meistergebäude befanden.
Ich sah die große, schmale Gestalt Meister Lorrens den Kerzenschein verdecken. Er legte den Riegel um und öffnete den Fensterflügel.
Elodin wies mit dem Daumen auf mich. »Der Junge hier behauptet, er hätte in der Bibliothek immer noch Hausverbot. Stimmt das?«
Lorrens ungerührter Blick huschte zu mir hinüber, dann wieder zu Elodin zurück. »Ja, das stimmt.«
»Lass ihn wieder rein«, sagte Elodin. »Er muss lesen. Du hast ihn genug bestraft.«
»Er ist leichtsinnig«, sagte Lorren. »Ich hatte vor, ihn ein Jahr und einen Tag lang auszusperren.«
Elodin seufzte. »Ja, ja, sehr traditionell gedacht. Wieso gibst du ihm nicht eine zweite Chance? Ich bürge auch für ihn.«
Lorren sah mich eine ganze Weile prüfend an. Ich versuchte, so verantwortungsbewusst wie nur möglich zu wirken, was nicht ganz einfach war, mitten in der Nacht auf einem Dach.
»Also gut«, sagte Lorren. »Aber er darf nur in den Präsenzbereich.«
»Präsenz, Schmäsenz. Jetzt mal ehrlich: Das ist doch Kinderkacke«, sagte Elodin. »Mein Junge hier ist Re’lar. Er hat einen unstillbaren Wissensdurst! Er muss das Magazin erkunden und dabei alle möglichen nutzlosen Dinge entdecken!«
»Um den Jungen mache ich mir keine Sorgen«, sagte Lorren weiterhin ungerührt. »Meine Sorge gilt der Bibliothek.«
Elodin packte mich bei der Schulter und schob mich ein wenig vor. »Wie wäre es damit? Wenn du ihn noch einmal in deinem Haus bei irgendeinem Blödsinn ertappst, gestatte ich dir, dass du ihm beide Daumen abhackst. Damit würdest du doch ein schönes Exempel statuieren, nicht wahr?«
Lorren sah uns beide an. Dann nickte er. »Also gut«, sagte er und schloss das Fenster wieder.
»Na bitte, geht doch!«, sagte Elodin mit großer Geste.
»Was war das denn?«, fragte ich händeringend. »Was … Was sollte denn das?«
Elodin sah mich verdutzt an. »Wieso? Du bist wieder drin. Problem erkannt, Problem gebannt.«
Er hob eine Augenbraue. »Hast du etwa vor, noch einmal gegen die Hausordnung zu verstoßen?«
»Was? Nein. Aber …«
»Dann hast du doch nichts zu befürchten«, sagte er, machte kehrt und ging weiter das Dach hinauf. »Jedenfalls wahrscheinlich nicht. Aber an deiner Stelle wäre ich trotzdem vorsichtig. Bei Lorren weiß ich nie, was er ernst meint und was nicht.«
Am nächsten Tag ging ich zuallererst ins Büro des Quästors und beglich bei Riem, dem leicht reizbaren Mann, der über die Finanzkasse der Universität wachte, meine Gebühren. Ich legte ihm hart erkämpfte neun Talente, fünf Jots auf den Tisch und sicherte mir damit für ein weiteres Trimester meinen Studienplatz.
Anschließend ging ich zur Anmeldung und schrieb mich bei der Mediho für Physiognomie und Heilkunde ein, bei Cammar im Handwerkszentrum für Eisen- und Kupfer-Metallurgie und schließlich bei Elxa Dal für Fortgeschrittene Sympathie.
Erst da wurde mir klar, dass ich den Titel von Elodins Seminar immer noch nicht kannte. Ich sah im Veranstaltungsverzeichnis nach, fand Elodins Namen und fuhr mit dem Finger dorthin, wo der Titel des Seminars mit noch frischer schwarzer Tinte eingetragen war: »Grundkurs: Wie man sich nicht wie ein Esel aufführt.«
Ich seufzte und setzte meinen Namen in die freie Zeile darunter.