Kapitel 37 Ein Platz am Feuer

Faeriniel war eine bedeutende Wegkreuzung, aber es gab dort keine Gasthäuser. Stattdessen gab es etliche Lichtungen im Wald ringsumher, auf denen die Reisenden ihr Lager für die Nacht aufschlugen.

Es war einmal, vor langer Zeit, da kamen fünf verschiedene Gruppen Reisender nach Faeriniel. Als die Sonne unterzugehen begann, suchten sie sich jeweils eine Lichtung aus und entfachten dort ein Lagerfeuer.

Später, lange nach Sonnenuntergang, und als die Nacht am Himmel aufgezogen war, kam ein alter Bettler in zerlumptem Gewand die Straße herab. Er ging langsam und stützte sich auf einen Stab.

Der alte Mann ging von Nirgendwoher nach Nirgendwohin. Er hatte weder eine Kopfbedeckung noch Gepäck. Er besaß keinen Penny und hätte auch gar keinen Geldbeutel gehabt, um ihn hineinzutun. Er besaß gerade noch seinen Namen, doch auch der erschien ihm nach all den Jahren abgenutzt.

Wenn man ihn gefragt hätte, wer er sei, hätte er geantwortet: »Niemand«. Doch das wäre nicht wahr gewesen.

Der alte Mann kam nun nach Faeriniel. Er war hungrig wie ein Wolf und vollkommen erschöpft. Das Einzige, was ihn noch in Bewegung hielt, war die Hoffnung, dass ihm jemand ein wenig von seinem Abendessen abgeben und einen Platz an seinem Lagerfeuer anbieten würde.

Als der alte Mann daher Feuerschein im Wald gewahrte, ließ er die Straße hinter sich und ging erschöpft und müde darauf zu. Bald sah er zwischen den Bäumen vier große Pferde stehen. Ihr Geschirr

Doch am meisten fesselte die Aufmerksamkeit des Bettlers der große Braten über dem Lagerfeuer, der dampfte und von dem Fett ins Feuer troff. Der alte Mann wäre beinahe ohnmächtig geworden, als er den köstlichen Bratenduft roch, denn er war den ganzen Tag gewandert und hatte dabei weiter nichts gegessen als eine Hand voll Eicheln und einen angestoßenen Apfel, den er am Wegesrand gefunden hatte.

Als er die Lichtung betrat, entbot er den drei dunklen, bärtigen Männern, die am Feuer saßen, einen Gruß und fragte: »Habt ihr wohl ein Stück Fleisch für mich, und darf ich mich ein wenig an eurem Feuer wärmen?«

Sie wandten sich zu ihm um, und ihre Goldketten funkelten im Feuerschein. »Aber gewiss doch«, sagte ihr Anführer. »Was hast du denn bei dir? Bits oder Pennys? Ringe oder Strehlaum? Oder etwa kealdische Münze, letztlich das einzig Wahre, unsere Lieblings-Währung überhaupt?«

»Nichts dergleichen«, erwiderte der alte Bettler und hielt ihnen die Handflächen hin, um zu zeigen, dass er mit leeren Händen kam.

»Dann können wir leider nichts für dich tun«, sagte der Anführer, und noch während der Bettler zusah, begannen sie, sich dicke Scheiben von dem Braten herunterzuschneiden, der über dem Feuer hing.

»Bitte nicht übel nehmen, Wilem. So geht diese Geschichte nun mal.«

»Ich hab doch gar nichts gesagt.«

»Du sahst aber so aus, als würdest du gleich was sagen.«

»Mag sein. Aber ich warte, bis du mit der Geschichte fertig bist.«

Der alte Mann ging weiter und folgte dem Lichtschein durch den Wald zu einem anderen Lagerfeuer.

»Hallo!«, rief der alte Bettler, als er die zweite Lichtung betrat. Obwohl er so erschöpft war, versuchte er fröhlich zu klingen. »Habt ihr wohl ein Stück Fleisch für mich, und darf ich mich ein wenig an euer Feuer setzen?«

An diesem Lagerfeuer saßen vier Reisende – zwei Männer und

Verständlicherweise ärgerte das den alten Mann. Er war es gewöhnt, dass man ihm die kalte Schulter zeigte, aber diese Leute standen einfach nur da. Sie wirkten dabei allerdings ausgesprochen unruhig, traten vom einen Fuß auf den anderen und zuckten nervös mit den Händen.

Als sich der Bettler schon eingeschnappt zurückziehen wollte, flackerte das Feuer auf, und er sah, dass die vier Personen blutrote Kleider trugen, die sie als Adem-Söldner auswiesen. Da ging dem alten Mann ein Licht auf. Die Adem werden auch das stille Volk genannt, und es kommt nur sehr selten vor, dass sie einmal etwas sagen.

Der alte Mann kannte viele Geschichten über die Adem. Er hatte gehört, dass sie über eine geheime Kunst verfügten, die Lethani genannt wurde. Sie ermöglichte es ihnen, ihre Stille wie eine Rüstung zu tragen, die Klingen und Pfeilspitzen zu trotzen vermochte. Deshalb sprachen sie nur so selten. Sie sparten ihre Worte auf, hielten sie in ihrem Innern, wie glühende Kohlen in einem Ofen.

Diese gehorteten Worte erfüllten sie mit einem solchen Übermaß an Energie, dass sie nie ganz still sein konnten, und deshalb zuckten sie immer ein wenig oder nestelten an irgendetwas herum. Doch wenn sie kämpften, nutzten sie ihre geheime Kunst dazu, diese Worte wie einen Treibstoff in sich zu verbrennen. Das machte sie stark wie Bären und flink wie Schlangen.

Als der Bettler zum ersten Mal gerüchteweise davon gehört hatte, hatte er es für den üblichen Unfug gehalten, den man sich abends an einem Lagerfeuer manchmal halt so erzählte. Dann aber hatte er, es war nun einige Jahre her, in Modeg eine Frau der Adem gegen die Stadtwache kämpfen sehen. Die Soldaten waren bis an die Zähne bewaffnet und gut gepanzert gewesen und hatten vor Kraft nur so gestrotzt. Sie hatten im Namen des Königs verlangt, das Schwert der Frau zu sehen, und die Frau hatte es ihnen, wenn auch zögernd, ausgehändigt. Als es sich in ihren Händen befand, hatten sie die Frau lüstern angeschaut und begrapscht und obszöne Vorschläge gemacht, wie sie es wiederbekommen könnte.

Ihre eigenen Verletzungen waren dagegen vergleichsweise gering – eine Prellung an der Wange und eine flache Schnittwunde an der Hand. Noch Jahre später erinnerte sich der alte Mann ganz deutlich daran, wie sie sich mit einer katzenhaften Geste das Blut vom Handrücken geleckt hatte.

Daran dachte der alte Bettler, als er die Adem dort stehen sah. Jeder Gedanke an Essen und Wärme fiel von ihm ab, und er wich langsam in den Schutz der Bäume zurück.

Dann brach er zum nächsten Lagerfeuer auf, in der Hoffnung, beim dritten Versuch mehr Glück zu haben.

Auf dieser Lichtung standen einige Aturer um einen toten Esel herum, der neben einem Karren lag. Als einer von ihnen den alten Mann erblickte, sagte er »Seht mal!« und zeigte auf ihn. »Den schnappen wir uns! Den spannen wir vor den Karren, dann kann er ihn ziehen!«

Der alte Mann lief in den Wald zurück, und nach einigem Hakenschlagen entwischte er den Aturern, indem er sich unter einem moderigen Laubhaufen versteckte.

Als er die Aturer nicht mehr hörte, kroch der Alte unter dem Laub hervor und nahm seinen Wanderstab wieder an sich. Dann brach er mit dem Mut des Armen und Hungrigen zum vierten Lagerfeuer auf, das er in der Ferne sah.

Dort hätte er durchaus finden können, was er suchte, denn an diesem Feuer saßen Händler aus Vintas. Unter anderen Umständen hätten sie ihn vielleicht zum Essen eingeladen und gesagt: »Wovon sechs satt werden, werden auch sieben satt.«

Doch der alte Mann bot mittlerweile einen ziemlich üblen Anblick. Sein Haar stand struppig in alle Himmelsrichtungen ab. Sein ohnehin schon zerlumptes Gewand war nun auch noch zerrissen und schmutzig. Sein Gesicht war bleich vor Angst, und sein Atem ging pfeifend und rasselnd in seiner Brust.

Deshalb erschraken die Vintaner, als sie ihn sahen. Sie glaubten,

Jeder der Vintaner hatte eine andere Idee, wie man ihn aufhalten konnte. Einige meinten, Feuer würde ihn vertreiben, andere wollten Salz verstreuen, um ihn fernzuhalten, und wieder andere glaubten, sie könnten mit eisernen Gegenständen die Bande zerschneiden, die seine Seele an den toten Körper fesselten.

Als er sie darüber debattieren hörte, wurde dem alten Bettler klar, dass ihm, ganz egal, zu welchem Vorgehen sie sich entschieden, hier nichts Gutes bevorstand. Und so flüchtete er zurück in den schützenden Wald.

Der alte Mann fand einen großen Stein, auf dem er sich niederließ, und klopfte sich das moderige Laub und den Schmutz ab, so gut es ging. Nachdem er dort eine Zeit lang gesessen hatte, beschloss er, es noch ein letztes Mal an einem weiteren Lagerfeuer zu versuchen, denn er wusste ja, dass er nur auf einen einzigen großzügigen Reisenden treffen musste, um sich den hungrigen Bauch zu füllen.

Er war froh, als er sah, dass an diesem letzten Lagerfeuer nur ein einzelner Mann saß. Als er näher kam, bemerkte er etwas, das bei ihm ebenso Freude wie Furcht auslöste, denn der Bettler hatte es in seinem langen Leben noch nie mit einem Amyr zu tun gehabt.

Er wusste jedoch, dass die Amyr zur Tehlanerkirche gehörten, und –

»Die gehörten doch nicht zur Kirche«, sagte Wilem.

»Wie bitte? Aber sicher doch.«

»Nein, die waren ein Teil des aturischen Staatsapparats. Sie hatten … Vecarum – richterliche Gewalt.«

»Ihr vollständiger Name war: Der Heilige Orden der Amyr. Und sie waren die starke rechte Hand der Kirche.«

»Um was wollen wir wetten? Einen Jot?«

»Gern. Aber nur, wenn du dann für den Rest der Geschichte die Klappe hältst.«

Der alte Bettler war hocherfreut, denn er wusste, dass die Amyr der Tehlanerkirche angehörten, und die Kirche verteilte oft milde Gaben an die Armen.

Als der alte Mann näher kam, erhob sich der Amyr. »Wer da?«,

»Sir«, sagte der Bettler. »Ich hoffe lediglich auf einen Platz am Feuer und etwas Mildtätigkeit auf meiner langen Reise.«

Der Amyr winkte den alten Mann herbei. Er trug eine stählerne Rüstung, und sein Schwert war mannshoch. Sein Wappenrock war leuchtend weiß, doch von den Ellenbogen einwärts ging die Farbe in ein tiefes Rot über, als wäre der Rock in Blut getaucht. Mitten auf der Brust trug er das Emblem der Amyr: einen schwarzen Turm, von lodernden Flammen umzüngelt.

Der alte Mann nahm Platz und seufzte wohlig, als ihm das Lagerfeuer die Knochen wärmte.

Nach kurzem Schweigen sagte der Amyr: »Ich kann dir leider nichts zu essen anbieten. Mein Pferd hat heute Abend schon mehr zum Fressen gehabt als ich, was nicht heißen soll, dass es viel bekommen hat.«

»Ich nehme auch gern mit irgendwelchen Resten vorlieb«, sagte der alte Mann. »Ich bin wirklich nicht wählerisch.«

Der Amyr seufzte. »Morgen muss ich fünfzig Meilen weit reiten, um einem Gerichtsverfahren Einhalt zu gebieten. Wenn ich zu spät komme und es mir nicht gelingt, wird eine unschuldige Frau gehenkt. Das ist alles, was ich habe.« Er deutete auf ein Tuch, auf dem ein Brotkanten und ein Stückchen Käse lagen. Beides zusammen hätte kaum etwas gegen den Hunger des alten Mannes auszurichten vermocht. Für einen Hünen wie den Amyr war es ein ausgesprochen kärgliches Mahl.

»Ich muss morgen reiten und kämpfen«, sagte der Ritter. »Ich brauche meine Kraft. Also muss ich deinen Hunger des heutigen Abends gegen das Leben dieser Frau abwägen.« Und als er das sagte, hob der Amyr die Hände, die Handteller nach oben, und bewegte sie wie Waagschalen.

Dabei erblickte der alte Bettler auch seine Handrücken, und einen Moment lang glaubte er, der Amyr habe sich geschnitten, und Blut

Ihm hätte nicht nur geschaudert, wenn er gewusst hätte, was diese Muster zu bedeuten hatten. Sie zeigten an, dass der Orden der Amyr diesem Mann so unumschränkt vertraute, dass er keine seiner Taten jemals in Frage stellen würde – und dass, da der Orden hinter ihm stand, keine Kirche, kein Fürstenhof, kein König jemals etwas gegen ihn unternehmen konnten. Denn er zählte zu den Ciridae, dem höchsten Rang der Amyr.

Tötete er einen unbewaffneten Mann, so war es aus der Sicht des Ordens kein Mord. Erwürgte er mitten auf der Straße eine schwangere Frau, so würde niemand etwas dagegen einwenden. Brannte er eine Kirche nieder oder zerstörte er eine alte Steinbrücke, so würde das Reich es ihm nicht zur Last legen, in dem Vertrauen darauf, dass alle seine Taten einem übergeordneten Wohl dienten.

Doch davon wusste der Bettler nichts, und daher versuchte er es erneut. »Wenn Ihr kein Essen übrig habt, dürfte ich Euch dann um ein oder zwei Penny bitten?« Er dachte dabei an das Lager der Kealden und dass er sich dort vielleicht ein Stück Fleisch oder ein wenig Brot kaufen konnte.

Doch der Amyr schüttelte den Kopf. »Wenn ich Geld hätte, würde ich dir gerne etwas geben. Aber ich habe mein letztes Geld vor drei Tagen einem Mann gegeben, der gerade Witwer geworden ist und ein kleines Kind zu versorgen hat. Seither bin ich ebenso mittellos wie du.« Er schüttelte den Kopf, und seinem Gesicht war die Erschöpfung und das Bedauern anzusehen. »Ich wünschte, die Umstände wären andere. Doch nun muss ich schlafen. Also geh jetzt bitte.«

Der alte Mann war ganz und gar nicht zufrieden mit dem Ausgang dieses Gesprächs, doch etwas an der Stimme des Amyr hieß ihn, sich in Acht zu nehmen. Und so erhob er sich mühsam und ließ auch dieses Lagerfeuer hinter sich zurück.

Und noch bevor die Wärme des letzten Lagerfeuers wieder ganz von ihm gewichen war, schnürte der alte Mann den Gürtel enger und beschloss, einfach bis zum Morgen weiterzuwandern. Er hoffte,

Und so ging er durch das Zentrum von Faeriniel, und dabei sah er einige große, graue Steine, die in einem Kreis umeinander standen. Innerhalb dieses Kreises war das schwache Glimmen eines Feuers zu sehen, das dank einer tiefen Feuergrube gut verborgen war. Dem alten Mann fiel auf, dass er gar keinen Rauch bemerkte, und er nahm an, dass man dort Rennel-Holz verbrannte, das zwar heiß und lang anhaltend brennt, dabei aber keinerlei Rauch oder Geruch abgibt.

Dann sah der alte Mann, dass zwei der großen Umrisse, die er für Steine gehalten hatte, in Wirklichkeit Wagen waren. Rings um das Feuer, über dem ein Kochtopf hing, saßen eine Handvoll Personen.

Doch der alte Mann hatte mittlerweile alle Hoffnung aufgegeben, und so ging er weiter. Er war schon fast an den Steinen vorbei, als jemand rief: »Heda! Wer bist du, und warum schleichst du hier durch die Nacht?«

»Niemand«, sagte der alte Mann. »Ich bin nur ein alter Bettler und gehe meinen Weg bis an sein Ende.«

»Weshalb wanderst du, statt dich zum Schlafen niederzulegen? Diese Straßen sind nachts nicht sicher«, erwiderte die Stimme.

»Ich habe keinen Schlafplatz«, sagte der alte Mann. »Es ist mir heute Abend einfach nicht gelungen, einen zu erbetteln.«

»Hier hast du einen, wenn du magst. Und auch ein kleines Nachtmahl, wenn du dich noch ein wenig mit uns unterhältst. Niemand sollte den ganzen Tag und die ganze Nacht wandern müssen.« Und damit trat ein gut aussehender, bärtiger Mann hinter einem der großen, grauen Steine hervor. Er nahm den alten Mann beim Ellenbogen, führte ihn zum Feuer und rief: »Wir haben einen Gast!«

Vor ihnen regte sich etwas, der leise Hauch einer Bewegung, doch da es eine mondlose Nacht war und das Feuer tief in der Grube brannte, konnte der Bettler nicht allzu viel von dem erkennen, was da vor sich ging. Neugierig geworden, fragte er: »Wieso verbergt ihr euer Feuer?«

Sein Gastgeber seufzte. »Nicht jeder hier ist uns wohlgesonnen. Wir sind am sichersten, wenn wir uns unauffällig verhalten. Außerdem ist unser Feuer heute Abend ohnehin nur klein.«

»Wir waren vorhin auch welches sammeln«, erwiderte der bärtige Mann. »Aber dann wurden wir als Diebe beschimpft und mit Pfeilen beschossen.« Er zuckte die Achseln. »Daher behelfen wir uns anderweitig, und morgen ist dann wieder ein neuer Tag.« Er schüttelte den Kopf. »Aber ich rede zu viel. Darf ich dir etwas zu trinken anbieten, Väterchen?«

»Einen Schluck Wasser, wenn ihr welches entbehren könnt.«

»Nichts da, du bekommst Wein.«

Es war lange her, dass der Bettler auch nur einen Schluck Wein getrunken hatte, und schon allein bei dem Gedanken lief ihm das Wasser im Munde zusammen. Er wusste aber auch, dass Weingenuss auf nüchternen Magen nicht ratsam war, zumal nach einem langen Tagesmarsch, und daher sagte er: »Das ist sehr freundlich, Gott segne dich, aber ein Schluck Wasser würde mir wirklich genügen.«

Der andere Mann, der immer noch seinen Ellenbogen hielt, lächelte. »Dann bekommst du eben Wasser und Wein, und zwar so viel du willst.« Und damit führte er den Bettler zu ihrem Wasserfass.

Der alte Mann beugte sich darüber und schöpfte sich eine Kelle. Das Wasser war kühl und köstlich, aber als er die Kelle hob, kam er nicht umhin zu bemerken, dass das Fass so gut wie leer war.

Dennoch forderte ihn sein Gastgeber auf: »Nimm noch etwas, und wasch dir auch den Staub vom Gesicht und den Händen. Ich sehe doch, dass du lange und bis zur Erschöpfung auf der Straße unterwegs warst.« Der alte Mann schöpfte sich noch eine zweite Kelle von dem Wasser, und nachdem er sich Hände und Gesicht gewaschen hatte, fühlte er sich ungemein erfrischt.

Dann nahm ihn sein Gastgeber wieder beim Ellenbogen und führte ihn zum Feuer. »Wie ist dein Name, Väterchen?«

Wiederum war der Bettler verblüfft. Es war Jahre her, dass sich jemand so für ihn interessiert hatte, dass er ihn nach seinem Namen fragte. Ja, es war so lange her, dass er kurz innehalten und sich darauf besinnen musste. »Sceop«, sagte er schließlich. »Ich heiße Sceop. Und du?«

»Mein Name ist Terris«, sagte sein Gastgeber und machte dem

Dann brachte Terris Sceop einen Becher Wein. Silla kredenzte ihm eine Schale Kartoffelsuppe, dazu warmes Brot und einen halben, ausgehöhlten Goldkürbis mit einem Klacks Butter darin. Es war ein schlichtes Essen, und es war nicht überreichlich, doch Sceop erschien es wie ein richtiger Festschmaus. Und während er aß, goss Wint ihm Wein nach, so dass sich sein Becher niemals leerte, und lächelte ihm zu und saß bei ihm und sprach ihn mit »Großvater« an.

Letzteres war einfach zu viel für den alten Bettler, und er begann leise zu weinen. Vielleicht lag es daran, dass er alt war und einen langen Tag hinter sich hatte. Vielleicht lag es daran, dass er solche Freundlichkeit nicht gewohnt war. Vielleicht lag es auch am Wein. Wie dem auch sei – Tränen liefen ihm die Wangen hinab und in den buschigen weißen Bart.

Als Terris das sah, fragte er: »Väterchen, was ist denn?«

»Ich bin ein törichter alter Mann«, sagte Sceop, mehr zu sich selbst als zu den anderen. »Ihr seid so freundlich zu mir wie seit Jahren niemand mehr, und es tut mir so leid, dass ich es euch nicht vergelten kann.«

Terris lächelte und legte dem alten Mann eine Hand auf den Rücken. »Würdest du wirklich gerne dafür bezahlen?«

»Ich kann nicht. Ich habe nichts, was ich euch geben könnte.«

Terris’ Lächeln wurde breiter. »Sceop. Wir sind die Edema Ruh. Was wir am höchsten schätzen, ist etwas, das jeder besitzt.« Sceop sah, wie ihn die Gesichter rings um das Feuer erwartungsvoll anblickten. Terris sagte: »Du könntest uns deine Geschichte erzählen.«

Und da Sceop nicht wusste, was er sonst tun sollte, begann er zu erzählen. Er schilderte, wie er nach Faeriniel gekommen und von einem Feuer zum anderen gewandert war, in der Hoffnung auf Mildtätigkeit. Zunächst stockte ihm noch ab und zu die Stimme, und er verhaspelte sich hin und wieder, denn er war lange allein gewesen und war das Sprechen nicht mehr gewöhnt. Bald jedoch wurde seine Stimme kräftiger, und er bekam seine Geschichte besser in den Griff, und während sich der flackernde Feuerschein in seinen hellblauen

Als seine Geschichte schließlich zu Ende war, regten sich die Zuhörer, als wären sie aus tiefem Schlaf erwacht. Einen Moment lang sahen sie einander nur an, und dann blickten sie zu Sceop hinüber.

Terris wusste, was sie dachten. »Sceop«, sagte er in sanftem Ton. »Wohin warst du denn eigentlich unterwegs, als ich dich vorhin zu uns einlud?«

»Nach Tinuë«, sagte Sceop, dem es ein wenig peinlich war, wie sehr er sich von seiner eigenen Geschichte hatte mitreißen lassen. Sein Gesicht war erhitzt, und er kam sich töricht vor.

»Wir reisen nach Belenay«, sagte Terris. »Könntest du dir vorstellen, dich stattdessen uns anzuschließen?«

Einen Moment lang hellte sich Sceops Gesicht hoffnungsfroh auf, doch dann fiel diese Hoffnung wieder von ihm ab. »Ich würde euch doch nur zur Last fallen. Und selbst ein Bettler hat seinen Stolz.«

Terris lachte. »Du willst den Edema etwas von Stolz erzählen? Wir fragen dich nicht aus Mitgefühl. Wir fragen, weil du zu unserer Familie gehörst und weil wir dich bitten würden, uns in den nächsten Jahren viele, viele Geschichten zu erzählen.«

Der Bettler schüttelte den Kopf. »Wir sind nicht verwandt. Ich gehöre nicht zu eurer Familie.«

»Was hat das damit zu tun?«, fragte Terris. »Wir Ruh entscheiden selbst, wer zu unserer Familie gehört und wer nicht. Und du gehörst zu uns. Sieh dich um, und überzeuge dich, ob ich lüge oder nicht.«

Sceop sah sich im Kreis der Gesichter um und sah, dass Terris die Wahrheit sprach.

Und so blieb der alte Mann bei ihnen und lebte viele Jahre lang an ihrer Seite, bis sich ihre Wege schließlich wieder trennten. Er sah vieles und erzählte viele Geschichten, und am Ende waren alle klüger.

Diese Dinge sind wirklich geschehen, wenn auch vor vielen Jahren und weit, weit entfernt von hier. Ich habe es aus dem Munde der Edema Ruh gehört, und daher weiß ich, dass es die Wahrheit ist.

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