Epilog

Meridion hielt den Rahmen an. Das Bild im Zeit-Editor erstarrte und schwebte unscharf in der Luft. Staubiges Licht fiel auf die gebogene, glatte Wand des Observatoriums. Er lehnte sich über das Instrumentenbord, stützte das Kinn auf die Hände und betrachtete nachdenklich das Bild seiner Eltern, die auf ewig in einem Augenblick wahrer Freude in der Zeit gefroren waren; sie lachten, während sie durch die sternklare Nacht liefen. Der Zeitpunkt war zufällig, aber gut gewählt.

Meridon stand von dem Editor auf. Sein Vibrationsfeld, das er zu einem Sessel geformt hatte, während er arbeitete, löste sich auf und kehrte in seinen durchscheinenden Körper zurück, als er von der Maschine wegging. Er schlenderte zu der Glaswand und blieb vor dem verschwommenen Bild seiner Mutter stehen. Die Projektion schwankte, als er sich bewegte; die Linien und Schatten dehnten und wellten sich, als ob die Gestalt in einer unbemerkten Brise schwanke.

Wie glücklich du aussiehst, dachte er, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte die Projektion aus dem Strang der Überlieferungen an. Ich bin froh. Selbst wenn das für mich jetzt das Ende ist, selbst wenn der soeben neu gewobene Zeitteppich sich als nicht besser als der erste herausstellen sollte, gibt es wenigstens diesen Augenblick des Glücks für dich. Viel besser als alles Vorhergehende. Ich bin froh.

Sein Blick wanderte über das Bildnis seines Vaters, eines Mannes, dem er nie persönlich begegnet war. In der Kraft seiner Jugend und Gesundheit erkannte Meridion ihn kaum. Im alten Leben warst du zu dieser Zeit bereits unwiderruflich im Wahnsinn versunken, gebrochen an Körper und Geist, dachte Meridion, während er zusah, wie die Luftströmungen in der Glaskugel seines Observatoriums das Bild verzerrten und es so aussah, als ob Gwydion auch jetzt noch liefe, auf ewig gefangen in freudiger Bewegung. Auch für dich bin ich froh.

Wie seltsam es doch war, sann er, als er zu der Maschine zurückkehrte, dass er solche Gefühle und Beziehungen Leuten gegenüber hegte, die er nie persönlich getroffen hatte.

Die Zeit hämmerte schwer in seinen Ohren. Schließlich fasste Meridion den Mut, durch die Glasscheiben des Observatoriums auf die darunter liegende Welt zu sehen Er atmete langsam ein und stieß den Atem in Schüben wieder aus.

Das Feuer war gewichen, ja sogar vom Antlitz der fernen Erde verschwunden. Nun sammelten sich Wolken über den blaugrünen Meeren, wirbelten im Wind, flogen um die Bergspitzen und verschleierten seinen Blick. Wie es sein sollte, dachte er und schüttelte die Melancholie ab, die in sein Herz brandete. Kein Mann sollte einen so klaren Blick auf die Welt haben, wenn er in ihr leben will.

Er bückte sich neben dem Zeit-Editor und hob sorgfältig die versengten Fetzen des Zeitfilms auf, die in verbranntem Konfetti und zerrissenen Bändern vor seinen Füßen lagen. Sorgsam durchsuchte er sie, bis er auf ein Fragment stieß, das er vor nicht langer Zeit hatte fallen sehen, als die neue Geschichte die alte wie ein frisch gegrabenes Flussbett oder einen neuen Teppich ersetzte, der aus den Fäden des alten gewebt war, aber andere Muster aufwies. Die zerknitterten Stücke wurden durchscheinend, lösten sich auf dem Boden auf und waren nun aus der Zeit und der Geschichte verschwunden. Bald würde nichts mehr von ihnen übrig sein, nicht einmal die Erinnerung an sie, denn in der Wirklichkeit waren sie jetzt nur noch Überbleibsel aus einer Vergangenheit, die nie existiert hatte.

Meridion hielt den Filmstreifen gegen das Licht. Zufrieden zog er ihn über eine zweite Lampe auf der Instrumententafel des Zeit-Editors und warf die Bilder an die Wand gegenüber dem Bildschirm, der seine Eltern zeigte.

Im schwachen Licht konnte er kaum das Bild erkennen. Es war eine kleine, ältliche Gestalt in blasser Robe, in welche die Symbole der alten Benenner eingewoben waren. Das lange Haar der weiblichen Gestalt war so weiß wie Schnee, zu einem Zopf geflochten und von einem einfachen schwarzen Band zusammengehalten. Ihr Gesicht war runzlig und zerfurcht, ihr Körper trug schwer an dem Gewicht des Alters, aber sie hielt sich mit Anmut und starkem Willen aufrecht. In den Armbeugen hielt sie ein weißes Geburtstuch, das man benutzte, um den Säugling aufzufangen. Sie streckte die Hände wie im Gebet aus.

Es war der Augenblick seiner eigenen Geburt im alten Leben.

Er vermied es, sich die nächsten Bilder anzusehen, die auf der Tafel lagen und sich zusammengerollt hatten. Die nächsten Augenblicke hatten großen Schmerz und grausamen Tod gebracht. Obwohl er seine Mutter nie gesehen hatte, hatte er bei seinem Gang ins Leben doch ihre Liebe gespürt, selbst in ihren letzten Augenblicken und bei dieser scheußlichen Geburt. Er hatte die Zeit verändert und vermutlich auch ihr Schicksal, doch er konnte es noch immer nicht ertragen, dem zuzusehen, was wieder mit ihr geschehen war.

Die Spule, auf welcher der Film mit der neuen Geschichte steckte, erregte Meridions Aufmerksamkeit. Sie ruhte geduldig auf ihrer Schwungfeder. Müßig nahm er das Ende in die Hand, spulte es ab und hielt den Film gegen das allgegenwärtige Licht des Observatoriums. Im Gegensatz zu den verblassenden Fetzen der Vergangenheit, die vor seinen Augen schmolzen, war dieser neue Strang klar, rein und lebendig.

Er spulte ihn weiter ab und suchte nach Momenten, die besonders schön waren: das Zusammentreffen von Emily und Gwydion, dem Jungen, den sie Sam genannt hatte, auf einer grünen, sommerlichen Wiese; die Drei, die von der Wurzel in die Luft einer neuen Welt aufstiegen, die sie sonst nie gesehen hätten; der Augenblick, in dem Achmed den Thron und damit auch die Sorge um das Schicksal der Bolg übernahm; das Wiedersehen seiner Eltern; der Sieg über den Dämon; die Wiedererrichtung der neuen Welt. Ja, dachte er, während der glatte Film durch seine Finger glitt, das war es wirklich wert.

Aber was war mit der Vergangenheit? Es musste Respekt vor ihrem Verlust geben. Die Ereignisse in diesem Zeitstrang, die schließlich zum Untergang geführt hatten, waren sicherlich schlimm gewesen, aber auch hier hatte es Momente des Glanzes gegeben sowie Heldentum, Tapferkeit, Selbstlosigkeit, weise und dumme Wahlmöglichkeiten und Liebe. Er betrachtete abermals das Bild Achmeds, wie er der Hochzeit seiner Eltern zuschaute und schief lächelte. Sicherlich war da Liebe gewesen.

Ein unwiderstehlicher Drang überkam ihn. Bevor er Zeit zum Nachdenken hatte, war bereits seine Hand hervorgeschossen, hatte das Fragment des Zeitfilms von der Lampe weggestoßen und es zusammen mit den letzten Resten des alten Lebens, der ersten Geschichte, der neu geschriebenen Vergangenheit vom Boden aufgehoben. Er legte die verschwindenden Schnipsel auf eine Glasplatte. Es war der untere Teil eines Objektträgers, der auf dem Zeit-Editor lag. Meridion nahm eine Flasche mit Fixierlösung von der wirbelnden prismatischen Scheibe, die neben der Maschine in der Luft schwebte. Fieberhaft überschüttete er die Fetzen mit der glimmernden Lösung und sicherte sie auf diese Weise. Er blinzelte rasch, während er sie vorsichtig zwischen den Objektträger und eine Deckplatte presste.

Dann öffnete er eine Schublade im Zeit-Editor, hob den Träger an und schob das Glas langsam in die Tiefen des Schrankes, bevor er die Tür sanft wieder schloss. Er atmete flach und versuchte, wieder zur Ruhe zu kommen.

Ein Gefühl großer Angst, die mit Erleichterung gemischt war, überflutete ihn. Er wusste nicht, welche anderen Momente der neu geschriebenen Vergangenheit er soeben gerettet hatte. Es konnten ebenso schlimme wie gute sein, doch der Impuls war so stark gewesen, dass er ihm nicht hatte widerstehen können. Da er nicht wusste, was nun vor ihm lag, entschied er, dass es richtig gewesen war, dem Drang zu folgen.

Ein Schatten an der Wand erregte seine Aufmerksamkeit. Er schaute zu der Stelle, auf die das letzte Bild geworfen worden war, und sah die Schatten, als ob sie in das Glas eingebrannt wären. Die Umrisse der älteren Frau waren nun schwächer. Sie streckte die Hände in milchiges Licht und graue Flecken. Meridion legte die heiße Stirn auf die kühle Oberfläche des Zeit-Editors und versuchte, Mut für den nächsten Schritt zu fassen. Obwohl sein Körper nur aus Gedanken, Überlieferungen und reinem Willen gebildet und sein Bewusstsein nicht den Beschränkungen des menschlichen Fleisches unterworfen war, konnte Meridion den Schmerz unmittelbaren physischen Verlustes, das Stechen in den abgearbeiteten Händen und die Müdigkeit spüren, die solcher Verzweiflung folgte. Er kämpfte darum, nicht von der erstickenden Furcht des Unbekannten verschluckt zu werden.

Die Ereignisse, die ihm das Leben geschenkt hatten, waren unwiderruflich verändert worden. Sie waren zu Fetzen bernsteinfarbenen Films geworden, der nun mit Ausnahme einiger zufälliger Fragmente verschwunden war, die er zusammen mit den Aufzeichnungen über seine Geburt gerettet hatte. Die Schritte, die er zur Veränderung der Zeit unternommen hatte, hatten anscheinend das Ergebnis hervorgebracht, um das er gebetet hatte. Die Welt unter ihm drehte sich noch, segelte ruhig durch den Äther, blau und unversehrt und bedeckt mit wirbelnden Luftströmungen, die über ihre Oberfläche tanzten unwissend, dass je die völlige Vernichtung gedroht hatte. Seine Einmischung in die Vergangenheit hatte funktioniert. Die Katastrophe, die er hatte verhindern wollen, war nicht eingetreten.

Zugleich wusste er, dass die Ereignisse, die sein Dazwischengehen hervorgerufen hatte, seine eigene Geschichte verändert hatten. Er hatte die Umstände geleugnet, unter denen er gezeugt worden war. Er wusste nicht, ob der neue Pfad, den die Zeit nun nahm, zu seiner Wiedergeburt darin führen würde.

Oder nicht.

Überlegungen, die er vor und nach der Veränderung der Vergangenheit angestellt hatte, hatten dazu geführt, dass er nicht daran glaubte. Er war als Idee, nicht als wirkliches Kind ins Leben gesetzt und von zwei verletzten Wesen gezeugt worden, von denen das eine durch die Umstände ein vorzeitiges, ungeheures Alter erreicht hatte. Sie hatten einen Teil von ihrem Leben und ihrem Wissen abgegeben, um eine Prophezeiung zu erfüllen, die in der neu geschriebenen Geschichte nicht mehr existierte. Zumindest der erste Teil war verändert. Meridion hatte überrascht festgestellt, dass Manwyn einige derselben Prophezeiungen auch in der neuen Geschichte äußerte. In der alten hatte sie seine Geburt vorhergesagt:

Ich sehe die Geburt eines unnatürlichen Kindes, hervorgegangen aus einer unnatürlichen Verbindung. Nimm dich vor dieser Geburt in Acht, Rhapsody: Die Mutter wird sterben, das Kind aber wird überleben.

Warum hatte die Seherin es in der neuen Geschichte wieder gesagt?, fragte er sich und wiegte den Kopf in den Händen. War das magische Opfer, das Rhapsody, die alte Benennerin der Liringlas, und Gwydion von Manosse, ein gebrochener Mann, der in den Augen der Welt tot war, gebracht hatten, um Meridion in die Welt zu setzen, in der Zukunft noch notwendig? Da der F’dor vernichtet und der Krieg abgewendet war, schien es nicht so zu sein. Doch nun, da die Vergangenheit ausgelöscht und neu gestaltet war, war die Zukunft unerforschlich. Anstatt sich in der neuen Welt zu treffen, nur um ihn zu zeugen und die Warnung einer Prophezeiung zu erfüllen, waren sich seine Eltern stattdessen schon in ihrer Jugend begegnet, hatten sich ineinander verliebt und ihre Seelen aus freiem Willen vereinigt. Alles gemeinsam Erlittene hatte sie wieder zusammengebracht. Es schien wenig Hoffnung darauf zu bestehen, dass sie ihm schließlich durch den üblichen Akt doch noch das Leben schenkten, wie es bei jeder anderen lebenden Seele der Fall war. Es wäre Wunschdenken gewesen. Wenn man zwei Leben zusammenführte, war das noch keine Garantie dafür, was sich daraus ergab. Das war eine Beobachtung, die er viele Male gemacht hatte, während er zugeschaut hatte, wie sich die Vergangenheit abspulte und gleichzeitig geändert wurde. Die Zeit war zerbrechlich und unterlag Veränderungen.

Es ist dein Schicksal.

Unsinn. Wir machen unser Schicksal selbst.

Ja, dachte Meridion mit grimmiger Freude. Ja, das tun wir.

Und jetzt schwebte sein Leben im Gewebe der Zeit innerhalb der Glaskugel seines Observatoriums, angetrieben vom ätherischen Feuer des Seren, des Sterns, nach dem die Heimat seiner Mutter benannt war. Wenn der Zeit-Editor die Arbeit einstellte, würde der Zeitfilm wieder laufen, ewig und ununterbrochen. Und Meridion würde an sein Ende gelangen und ausgelöscht werden wie eine Kerze.

Habe ich Genugtuung geleistet und um all die Vergebung gebeten, die ich brauche?, fragte er sich benommen und ging in Gedanken eine Liste mit Leuten durch, von denen er sich Absolution versprach, wie sehr er diese Geschöpfe auch verletzt hatte. Hauptsächlich dachte er an Achmed und daran, was ihn die Veränderung der Zeit gekostet hatte. Vergib mir, dachte er in stummem Gebet an einen Mann, den er nie getroffen hatte. Ich glaube, ich hätte dasselbe getan. Er dachte an die Worte der Reue, die der Bolg-König dem Patriarchen in der neuen Geschichte dargebracht hatte, und lächelte schwach. Ich hätte es genau so gewollt, wenn ich die Wahl gehabt hätte.

Sein letztes Ziel war natürlich wichtiger als alles andere gewesen. Alle Opfer, alle Veränderungen, die sich zwischen der einen und der anderen Geschichte ereignet hatten, waren sinnvoll gewesen. Die entstandenen Schäden wogen in der Bilanz weniger als das Ergebnis, und die glücklicheren Auswirkungen waren reiner Zufall. Meridion betrachtete noch einmal das Bild seiner glücklichen Mutter in der neuen Geschichte und seufzte. Wenn er seinen Vater nicht in dessen Jugend aus der Zeit genommen und ihn in die Vergangenheit verpflanzt hätte, damit er Rhapsody begegnete, wäre sie ihm niemals gefolgt, hätte niemals die Reise mit Achmed und Grunthor gemacht, niemals diesen Augenblick und jeden anderen erlebt, der noch folgte. Und die Welt wäre vom Feuer verschlungen worden. Ich habe es nicht für dich getan, dachte er und starrte auf das Bild. Aber es freut mich trotzdem.

Vor seinen Augen verblasste das dunklere Bild seiner eigenen Geburt und verschwand in der Vergessenheit.

Auch ich verblasse.

Langsam griff Meridion hinüber, legte den Schalter des Zeit-Editors um und trennte die Maschine vom Licht des Seren. Die leuchtende Instrumententafel verschwand in der völligen Finsternis. Er schloss die Augen, als die Überreste des ihm bekannten Zeitfilms sich auf der Spule entzündeten und wie Rauch aus den letzten Kohlen eines schon lange erstorbenen Feuers zerstoben.

Die runden Glaswände seines Observatoriums schmolzen beim nächsten Herzschlag dahin. Die letzten Worte, die er hörte, als die Welt um ihn herum zerbarst, wurden von der Stimme jenes Mannes gesprochen, der ihn seit seiner Geburt beschützt hatte, der bei ihm geblieben war, bis er den Raum des Zeit-Editors betreten hatte, und der ihn auf seine eigene, unbeholfene Weise getröstet hatte.

Werde ich sterben?, hatte Meridion seinen Beschützer gefragt und gleichzeitig gewusst, dass die Antwort sein Vorhaben nicht beeinflussen konnte. Als nun die Luft aus dem runden Glasraum in das Vakuum des Weltalls entwich, hörte er die Antwort wieder. Die Worte hallten von dem verschwindenden Glas der Fensterscheiben wider und wurden immer schwächer.

Kann man den Tod erfahren, wenn man nicht richtig lebendig ist? Du hast genauso wenig zu verlieren wie der Rest der Welt.

Inmitten des schrecklichen Lärms und des wirbelnden Abgrunds, der seine Lebensenergie aufsaugte, spürte Meridion, wie sich die durchscheinende Gestalt, die einmal sein Körper gewesen war, über die Leere von Raum und Zeit ausdehnte und in einem Schmerzausbruch explodierte. Sein gedämpftes Bewusstsein verebbte, wuchs dann wieder, um durch die äußeren Bereiche des Alls als weiß glühender Lichtstrahl zu schießen, bis er einem glimmenden Stein gleich durch die Windgepeitschten Wolken stürzte und auf die Erde niederfiel.

Die letzten Bruchstücke seines Bewusstseins kreischten in Todesqualen auf, heulten in Geburtswehen, taumelten blind durch die aufzuckenden Bilder einer Vergangenheit, die er nicht erkannte, und durch eine Zukunft, die er kaum sehen konnte, bis sie zum Stillstand kamen und er wie aus einem Traumerfüllten Schlaf erwachte.

Meridion öffnete die Augen.

Das Erste, was er sah, waren der vertraute, glatt polierte Stein und die dicken Glasfenster des hohen Turmzimmers. Er spürte die Kühle des Marmorsessels, in dem er saß. Seine Muskeln zitterten vor Kälte, und er fühlte das angenehme Gewicht seines Körpers. Froh bemerkte er die Wiedervereinigung seines Bewusstseins mit seiner physischen Gestalt. Er erinnerte sich daran, dass er bei seinen ersten Meditationen und Reisen durch die Zeit Angst gehabt hatte, es könne für ihn keinen Rückweg geben, doch allmählich hatte er sich mit dieser Gefahr angefreundet.

Es war beruhigend, aus dem Zeitstrom zu treten und zurück in sich selbst zu gelangen, in seine eigene Geschichte, die er aus alten Geschichten sowie eigener Anschauung kannte. Es war ihm entfallen, was er auf dieser Reise gesucht hatte. Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass die Zeit nicht das war, als was sie erschien, doch er hatte nie den Beweis für die Existenz einer anderen Wirklichkeit als die gefunden, welche er kannte und vor seinem inneren Auge sehen konnte. Aus irgendeinem Grund erschien es ihm, als wären seine Erinnerungen und die Geschichte, die er sah, neu und frischer, als sie sein sollten.

Manchmal sah er in seinen Träumen Blitze, Bruchstücke von etwas, das zu einer anderen Zeit zu gehören schien. Sie waren erfüllt von Bildern seltsamen Lichts und merkwürdiger Dunkelheit sowie von Spulen mit etwas, das wie Fäden aussah und zwischen den Sternen zu schweben schien. In diesen Träumen empfand er immer ein Gefühl des Schreckens und einer Dringlichkeit, der er nicht entkommen konnte. Keuchend und voller Angst wachte er daraus unter der hellen Morgensonne auf, welche die Kälte aus seiner Seele indes nicht zu vertreiben mochte. Er hatte versucht, die seltsamen Vorahnungen seiner Mutter zu erklären, die selbst mit der Gabe des Zweiten Gesichts gesegnet war, doch sie hatte nie wirklich begriffen, was er ihr mitzuteilen versuchte.

Die Tür des Turmzimmers wurde geöffnet, und sie trat ein. Meridion beobachtete sie aus den Augenwinkeln, als sie ein Tablett auf dem Tisch neben ihm absetzte. Er lächelte sie an, drehte sich dann in seinem Sessel um und betrachtete sie nachdenklich. Seit dem Tag ihrer Hochzeit waren viele Jahre vergangen, und sie sah noch genau so aus wie damals, obwohl in ihrem Gesicht eine Weisheit lag, die in ihrer Jugend noch nicht da gewesen war. Auch sein Vater wirkte noch jugendlich; allerdings hatte ihm die Zeit einige Falten um die Augen eingegraben, die sichtbar wurden, wenn er lächelte.

»Fertig?«, fragte Rhapsody und gab Meridion einen Becher dol mwl. Er nahm den Becher mit der dampfenden Flüssigkeit dankbar entgegen und nippte an dem bernsteinfarbenen Getränk, das sie beide so mochten. Auch sein Vater trank es gelegentlich, hatte aber nie eine Vorliebe dafür entwickelt. Meridion schluckte es herunter.

»Danke«, sagte er. »Vielen Dank.«

Sie trat hinter ihn und legte ihm die Arme um die Schultern. »Wohin bist du heute gegangen nach vorn oder zurück?«

Meridion dachte an das einzige Bild, an das er sich erinnerte. Es war das verschwommene Bild seiner Eltern, die durch die Sternerhellte Nacht liefen. »Zurück«, sagte er und nahm einen weiteren Schluck. »Ich glaube, ich war auf eurer Hochzeit, aber ich erinnere mich kaum daran. Dein Kleid war wunderschön.«

»Miresylle wäre froh, wenn sie das hören könnte«, sagte seine Mutter und nahm den eigenen Becher auf. »Sie hat zwei Monate hart daran gearbeitet.« Ihre smaragdenen Augen glänzten.

»Hast du auf der Hochzeit auch meine Lehrerin Oelendra gesehen?«

Er dachte kurz nach und durchforstete seine Erinnerungen. »Ja, aber nicht diesmal. Ich habe schon oft eurer Hochzeit zugesehen, weil das Feuerwerk so großartig ist. Ich erinnere mich nicht daran, sie diesmal gesehen zu haben. Und übrigens auch nicht das Feuerwerk.« Er hob den Becher an die Lippen. Er wollte nicht eingestehen, dass er sich an nichts außer dem Bild seiner Eltern erinnerte. Alles andere war gelöscht.

Rhapsody blinzelte und nickte. »Ich wünschte, du hättest sie kennen gelernt, Meridion. Sie war etwas Besonderes.«

Meridion lächelte. »In gewisser Weise kenne ich sie«, sagte er. »Du hast es nicht bemerkt, als du den ersten Tag in Tyrian warst, aber ich war eines der Kinder in ihrer Schwertkämpferklasse.«

Rhapsody lachte und fuhr ihm durch die Haare. Kurz ließ sie die Hand auf seinen drahtigen goldenen Locken ruhen. »Du bist durch die ganze Zeit gereist, nicht wahr? Ich erinnere mich an dich, wie du beim Brunnen in Ostend gesessen und mich gebeten hast, immer wieder dasselbe Lied zu spielen.«

Meridion nickte und trank einen Schluck dol mwl. »Ich war auch auf dem cymrischen Konzil, aber da war ich schon erwachsen.«

»Die Gabe der Zeitreise und die Möglichkeit, nach Belieben in den Zeitstrom einzutauchen und wieder daraus hervorzukommen, ist ein großes Geschenk.«

»Allerdings.« Meridion stellte den Becher auf dem Tablett ab und nahm eine Pastete von dem Teller daneben. »Aber es ist ein wenig enttäuschend, die Ereignisse in der Vergangenheit und Zukunft sehen und sie nicht verändern zu können. Ich habe das seltsame Gefühl, dass mir ein Eingriff möglich sein sollte, aber wenn ich in die Vergangenheit eintrete, bin ich leider nur Beobachter und höchstens einmal Kommentator. Ich musste mich sehr anstrengen, damit du mich hörst, als ich dich gebeten habe, dieses Lied zu spielen.« Er kicherte. »Wahrscheinlich ist es gut, dass ich nicht wirklich dort, sondern nur ein Bild bin. Wenn ich in die Zeit eingreifen könnte, würde ich es bestimmt verpfuschen.«

Rhapsody nahm einen Schluck aus dem dampfenden Becher und sah ihren Sohn ernst an.

»Das würde wohl jeder tun. Die Fähigkeit, in die Zukunft und Vergangenheit zu sehen, ist in deinem Fall ein Familienerbe, aber sie bringt nichts als Ärger. Meine eigenen Visionen haben mir schreckliche Albträume beschert, genau wie bei deiner Urgroßmutter und ihren 985

Schwestern. Diese Familiengabe hat sie die geistige Gesundheit gekostet vor allem bei Manwyn ist das der Fall. Die Gabe, in die Zukunft schauen zu können, ist offenbar sehr gefährlich.« Sie kniff die Augen ein wenig zusammen, als sie den Ausdruck auf dem Gesicht ihres Sohnes sah. »Worüber denkst du gerade nach, Meridion?«

Er zuckte die Schultern und hob den Becher wieder an die Lippen.

»Weißt du, woher Manwyn ihre Informationen über die Zukunft bekommt?«

Meridion lachte auf. »Nun, einige davon hat sie von mir. Ich schaue manchmal zum Tee bei ihr vorbei, und wir halten ein Schwätzchen. Sie ist schließlich meine Urgroßtante, und niemand sonst besucht sie, ohne etwas von ihr zu wollen. Ich bin für sie mehr als nur ein Bild. Wenn ich bei Manwyn bin, besitze ich so etwas wie körperliche Gegenwart. Manchmal darf ich bei ihr Merithyns Sextant benutzen und in die Zukunft schauen. Wenn man sie einmal kennen gelernt hat, kann sie sehr lustig sein auf ihre verrückte Weise.«

»Wirklich?« Seine Mutter löste einige verfilzte Haarsträhnen auf seinem Kopf. »Das ist seltsam. Du bist ein Benenner, Meridion. Wenn sie ihre Prophezeiungen von dir erhält, warum macht sie dann ein so großes Geheimnis darum? Und warum hat sie so selten Recht, wenn sie sie der Welt mitteilt?«

Sein Lächeln verblasste. Er wandte den Blick ab und sah eine Lerche an einem der Turmfenster vorbeisegeln. Die Sonne spiegelte sich in ihrem Gefieder. »Nun, sie ist etwas taub.«

»Ist das alles?«

Meridion stieß langsam die Luft aus und sah dem Vogel nach, bis er sich in die Höhe aufschwang. »Wer sagt, dass sie nicht Recht hat?«

»Manchmal liegt sie daneben, oder etwa nicht?«

Er schüttelte den Kopf und sah sie nicht an. »Nein. Sie ist verrückt und listig und schwerhörig, aber sie liegt nie daneben.« Endlich erwiderte er Rhapsodys Blick. »Erinnerst du dich daran, was Jo dir bei den Rowans erzählt hat? Dass man das Nachleben erst verstehen kann, wenn man es erlangt hat?«

Rhapsody stellte den Becher ab. »Ja.«

»Das stimmt auch für die Zukunft. Manwyn mag sie sehen, aber das bedeutet nicht, dass sie sie versteht.« Nicht besser als du, dachte er mit einer Spur von Trauer.

»Aber du verstehst sie?«

Er beugte sich zum Fenster und hoffte, den Vogel wieder zu sehen. »Meistens.«

»Hmmm.« Rhapsody folgte seinem Blick nach draußen. Das Licht der Herbstsonne ergoss sich in den Raum. Als sie Meridion wieder ansah, lächelte sie.

»Hast du je herausgefunden, woher deine Gabe stammt? Ich verstehe, warum die drei Seherinnen ihre Fähigkeit erhalten haben. Ihr Vater wurde am Geburtsort der Zeit und ihre Mutter an deren Todesort geboren, und beide stammten von alten Rassen ab. Aber warum du, Meridion?«

Er biss ein Stück von der Pastete ab. »Lecker«, sagte er. Ihre Frage hing schwer in der Luft und blieb unbeantwortet.

Nach einigen Momenten des Schweigens wurde Meridion nervös. Schließlich seufzte er auf.

»Sicherlich war es wie bei den Seherinnen wichtig, dass meine Eltern von Entgegengesetzten Seiten des anfänglichen Meridians stammen und viel Zeit in beiden Welten verbracht haben.«

Und dass die eigene Seele in der einen Welt gezeugt, dann ungeboren durch die Zeit getragen wurde und in der anderen Welt das Licht erblickte, dachte er.

Er wandte den Blick ab und vermied es, in ihre klaren grünen Augen zu schauen. Er hatte noch keine Möglichkeit gefunden, wie er ihr erklären konnte, dass die Gegenwart seiner ungeborenen Seele in ihr sowie die Brücke über die Zeit und das Band zwischen seiner Mutter und seinem Vater, das in jener Nacht auf der Wiese gefestigt worden war, der Grund dafür waren, dass Rhapsody ihr ganzes Leben hindurch Visionen der Zukunft erlitten hatten, die bei seiner Geburt abgebrochen waren. Er war sich selbst nicht sicher, wie das alles zusammenhing. Auf seinen Reisen hatte er oft nach der Antwort auf die größte Frage gesucht, wie es möglich gewesen war, dass sein Vater für einen Augenblick aus der Zeit herausgenommen und zu dem Moment zurückgeschickt worden war, an dem seine Eltern ihre Seelen vereinigt und ihn gezeugt hatten, doch er hatte diese Antwort nie gefunden. Rhapsody sah ihn liebevoll an. »Dein Name kommt nicht von dem anfänglichen Meridian, falls du das geglaubt haben solltest. Du bist nach deinem Vater und nach Merithyn benannt.«

»Ich weiß. Ich habe die Reden anlässlich meiner Namensgebung als Säugling gehört. Schließlich hast du mich benannt. Du hast die Angewohnheit, den Namen, die du verleihst, unbeabsichtigt Macht beizugeben.« Meridion stand aus dem Marmorsessel auf. »Kann ich jetzt spielen gehen?«

»Natürlich.« Rhapsody betrachtete ihren Sohn nachsichtig. »Wie groß du geworden bist. Bald bist du so groß wie ich.«

»In drei Jahren, drei Monaten und siebzehn Tagen«, antwortete Meridion und stopfte sich den Rest der Pastete in den Mund. »Tschüss, Mama.« Er küsste sie auf die Wange, als sie sich bückte, um ihn zu umarmen. Die seltsamen vertikalen Schlitze in seinen blauen Augen glitzerten warm. Dann rannte er zur Tür hinaus und tauchte ein in die klare Herbstluft.

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