Es war ein schöner Tag, an dem man das Leben genießen konnte, fand Tristan Steward, als sein Kriegspferd, dessen kastanienbraunes Fell und die Mähne unter der metallenen Rüstung verschwanden, den Gipfel eines Hügels in der orlandischen Steppe erreichte. Der Wind kündete vom nahenden Sommer und war warm und wohlriechend; die Erde duftete üppig. An der Spitze von hunderttausend starken Männern und zehntausend Berittenen zu stehen war das großartigste Gefühl, das er je verspürt hatte. Es war eine mächtige, beinahe geschlechtliche Erregung. Er hatte den Eindruck, die Erde selbst bewege sich im Einklang mit ihm. Heftige Schwingungen und der ohrenbetäubende Lärm seines vorrückenden Heeres begleiteten ihn, und die Landschaft hinter ihm war geschwärzt von seinen Mannen. Je näher das Kontingent den Manteiden, den Zahnfelsen, kam, desto größer wurde seine Erregung. Während etliche der Männer, die in seiner Nähe ritten, und sogar viele Fußsoldaten genau wie er auf den Ruf des cymrischen Hornes reagierten, glaubte die überwiegende Mehrheit, die nicht von serenischer Abstammung war, man wolle die Bolglande überrennen. Anfangs war es seltsam gewesen, die Verwirrung zu beobachten, welcher die wenigen cymrischen Soldaten offenbar ausgesetzt waren. Der Gerichtshof war den Legenden zufolge ein Ort großer Kraft, an dem das Land selbst die Gesetze des Konzils durchsetzte, die ein Minimum an Höflichkeit und gutem Benehmen vorschrieben und es den vielen Parteien des cymrischen Königreichs ermöglichten, Verhandlungen über Frieden und die Errichtung eines cymrischen Reiches zu führen. Daher war es für all jene Männer von cymrischem Geblüt quälend, in vermeintlich kriegerischer Absicht mit Tristan Steward zu reiten.
Erfreut hatte der Herrscher entlang der transorlandischen Verbindungsstraßen verlassene Wachtposten bemerkt, die sonst mit rohen Gestalten besetzt waren, welche die Grenze schützten. Seit er die Steppe betreten hatte, die zu den Bergen führte, hatte er keinen einzigen Firbolg mehr gesehen. Die Ebene wirkte noch öder, als er erwartet hatte.
Eine Seuche konnte eine wunderbare Waffe sein.
Er wandte sich an McVickers, seinen Marschall, der mit ernstem Gesicht neben ihm ritt.
»Wie weit noch, McVickers?«
»Morgen sollten wir in Sichtweite des Gerichtshofes kommen, Herr.«
»Ausgezeichnet«, sagte Tristan Steward und tätschelte sein Pferd. »Wir werden unser Lager außerhalb des Gerichtshofes aufschlagen. Diejenigen, die an dem Konzil teilnehmen, werden dann entlassen, damit sie sich dazugesellen können. Sorge dafür, dass alle Truppen wissen, wo sie sich nach dem Konzil versammeln sollen.«
»Ja, Herr.«
Tristan seufzte vergnügt. Er legte den Kopf zurück, damit die Sonne sein Gesicht bescheinen konnte.
Alles in allem war es ein schöner Tag.
Nach Monaten quälenden Wartens dämmerte endlich der Tag des Konzils herauf. Es war unmöglich, den richtigen Zeitpunkt zu verpassen. In der Nacht war es in der Senke plötzlich ganz still geworden; der Lärm zehntausender Stimmen war zu tiefem Schweigen verstummt. Der Sonnenuntergang war in dieser letzten Frühlingsnacht besonders prächtig gewesen. Die Feuerfarben der herannahenden Nacht hatten sich in einer letzten blutroten Wolke verdichtet, die zu sanftestem Rosa geworden war, bevor sie hinter dem Rand der Welt in der Finsternis verschwand. Der Himmel war zu Azurblau verblasst, dann zu Kobaltblau und schließlich zu tintigem Schwarz. Zaghaft hatten sich die Sterne gezeigt, als ob Rhapsodys Abendgebet sie allmählich hervorgelockt hätte. Wie jede Nacht hatte die Senke ihren Vespergesang aufgenommen; das war der einzige Zeitpunkt während der langen, lärmenden Tage, an dem die Cymrer jedes Mal zur Ruhe kamen und verzückt lauschten, wie die Sängerin die Sterne in der Abenddämmerung begrüßte.
Als in dieser Nacht der letzte süße Ton verweht war, schoss ein Schauer aus Sternschnuppen herab und entlockte der Menge ein erstauntes Seufzen. Kurz darauf war ein tiefes, gemeinsames Luftholen aus den Lagern auf der anderen Seite der Zahnfelsen zu hören. Die cymrischen Häuser hatten das Omen ebenfalls gesehen und begriffen es. Jedermann begriff es tief in seinem Innern. Es war Zeit zusammenzukommen.
Es war eine ruhige Nacht. Rhapsody mied ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort im Kessel und hielt Wache auf dem Feld. Sie beobachtete, wie die Feuer in den äußeren Lagern gelöscht wurden eines nach dem anderen. Achmed und Grunthor waren bei ihr geblieben; Rhapsody sah sie zärtlich an. Grunthor saß mit seinem gewaltigen Schwert auf den Knien da und hatte die Ellbogen aufgestützt. Das Kinn auf die Fingerspitzen gestützt, dachte er angestrengt nach. Die Bürde, den kleinen Stadtstaat zu überwachen, zu dem der Gerichtshof geworden war, war ihm zugefallen. Er hatte diese Aufgabe ausgezeichnet gelöst, was insofern erstaunlich war, als dass der König ihm als Truppe nur einige Finder-Soldaten zur Verfügung gestellt hatte. Achmed stand neben ihm und hatte den Blick ebenfalls auf die Lager der cymrischen Häuser und die lange Karawane der Reisenden gerichtet, die sich mit jedem Tag erneuerte. Er hielt das Gesicht in den Wind; diesmal hatte er es nicht hinter seinen Schleiern versteckt, doch sein Ausdruck war steinern. Dennoch wusste Rhapsody zumindest teilweise, was er gerade dachte. Es war diese Gruppe von Cymrern, die für seine unangenehme Stimmung verantwortlich war, denn sie stellte eine Bedrohung dar. Es waren die stolzen Abkömmlinge der Meeresreisenden, die Städtebauer, die Architekten von Basiliken und die Gelehrten einer großen Zivilisation. Sie waren aber auch die Kinder von kriegerischen Anführern, die vergewaltigenden und zerstörenden Heere, die schweigenden Verräter der Menschheit.
Zwar hatte Rhapsody Vertrauen zu ihnen als Volk, doch Achmed hegte Zweifel daran, ob es vernünftig war, sie wieder zusammenzubringen und aus ihren Reihen einen Thronfolger zu bestimmen. Er traute diesen Leuten nicht, auch wenn er im Grunde einer von ihnen und vielleicht älter als sie alle war. Aber Rhapsody war mit den Bolg in ähnlicher Weise verfahren und hatte unerwarteten Erfolg gehabt. Vielleicht hatte sie auch in diesem Fall wieder Recht. Seine Worte zu ihr und ihre Antwort erklangen in seiner Erinnerung. Es waren Worte aus einer lange vergangenen Nacht, bevor sie ausgezogen war, um einem verirrten Wanderer zu helfen, in dessen Armen sie gelandet war.
Es ist vermutlich besser, wenn du nicht einmal versuchst, es zu verstehen.
Du hast vermutlich Recht. Ich glaube, es ist besser für mich, einfach zu entscheiden, wie es sein soll, und dann wird es so sein.
Es war Rhapsody gewesen, die sie beide zu dem gemacht hatte, was sie nun waren. Sie hatte ihn einen Pfadfinder genannt, und er hatte die Gabe des zweiten Gesichts erhalten Grunthor, stark und zuverlässig wie die Erde selbst, hatte si gesagt. Die Zuneigung in ihrer Stimme hatte die Seele des Sergeanten mit der Erde vermählt. Sie war der Optimismus gegen seinen Zynismus, die Hoffnung gegen seine Zweifel. Wir si wirklich zwei Seiten derselben Person, hatte sie einmal gesagt Was immer bei der Versammlung am nächsten Morgen h rauskommen würde, würde ihr Verhältnis zueinander nich beeinflussen. Allerdings wusste sie nicht, dass er beinahe di‹ Erinnerung an sein früheres Leben verloren hatte, bevor si in es eingetreten war, ihm einen neuen Namen gegeben und ihm den Weg aus seiner Vergangenheit gewiesen hatte. Er wollte nicht in jene Zeit zurückkehren.
Rhapsody saß noch immer Wache, als die ersten Strahlen der Morgensonne sie berührten. Der Himmel war schon seit einiger Zeit heller geworden und hatte das Muster der Blaufärbungen vom Abend spiegelverkehrt wiederholt. Die tintenhafte Dunkelheit war einem reichen Kobaltblau und dann einem sanften Azurblau gewichen, das den herannahenden Morgen ankündigte.
Sie schloss die Augen und bot ihre Brust den Sonnenstrahlen dar, die sie mit dem Ton ihres Liedes erfüllten. Sie lächelte; es war ela, und in ela sang sie das Liebeslied der Lirin an den Morgen.
Sie hörte, wie in der Ferne eine Stimme in ihren Gesang einfiel, und erkannte sie. Oelendra war zum Gerichtshof gekommen. Dann hörte sie, wie eine Stimme nach der anderen das Lied aufnahm, bis es zehntausende waren, welche die aufgehende Sonne priesen. Mit Oelendra waren die cymrischen Lirin gekommen Rhapsodys eigene Untertanen und die Abkömmlinge derjenigen, die lieber in Tyrian als in den großen Städten Anwyns und Gwylliams gelebt hatten. In ihrer kurzen Zeit als Königin hatte Rhapsody das Morgenlied dem Lande Tyrian beigebracht, und der Wald hatte es die Menschen gelehrt.
In noch größerer Ferne erkannte sie weitere Stimmen, die sie nie zuvor gehört hatte. Sie nahmen ihre Melodie auf und fügten die eigene hinzu. Die Modulation der fernen Sänger passte wunderbar zu Rhapsodys eigener, und ihr Herz hüpfte bei der Erkenntnis, dass auch die Liringlas gekommen waren. Sie waren von Manosse über das Meer gesegelt oder kamen aus den Ländern jenseits von Hintervold.
Dann hob ein letzter Chor vom Ende der gewaltigen Karawane zu singen an, die sich den Weg durch die Felder von Bethe Corbair nach Ylorc gebahnt hatte. Die Lieder dieser Sänger besaßen eine uralte Harmonie, die bis in Rhapsodys Seele reichte und sie zum Klingen brachte, wie es nie zuvor der Fall gewesen war. Sie wandte sich von der Sonne ab, beschirmte die Augen und versuchte herauszufinden, woher diese wundervollen Klänge kamen, doch sie sah lediglich ein Meer von Menschen, die in einer langen, schlangengleichen Prozession auf die Zahnfelsen zumarschierten.
Als schließlich der letzte Ton erstarb, setzte eine andere Musik ein. Trompeten schmetterten über die Ebene, und in der Senke nahmen die Hörner den Ruf auf und kündigten die Ankunft der cymrischen Häuser an. Es war ein erregender Klang. Die vollen Bläsertöne ließen Rhapsody erschauern. Es war ein Gefühl, das sie bisher nur ein einziges Mal verspürt hatte. Alte Erinnerungen wurden wach Erinnerungen an das alte Land und den Tag, an dem die jüngste Prinzessin in der elysianischen Festung des Seren-Königs geboren worden war. Im ganzen Land waren Boten zu jedem kleinen Dorf ausgesandt worden, damit die frohe Nachricht rasch verbreitet wurde. Als sie Rhapsodys Dorf erreicht hatten, hatten sie die großen Trompeten geblasen, welche eine königliche Geburt ankündigten. Damals war Rhapsody ein kleines Kind gewesen und hatte nie zuvor solch wunderbare Musik gehört. Noch viele Wochen später hatte sie davon geträumt und bei ihren Eltern um ein eigenes Instrument gebettelt. Immer wieder hatte sie sich auf den Hügelkamm gesetzt, wo sie die Trompeter gesehen hatte, und auf ihre Rückkehr gehofft. Doch es war vergeblich gewesen. Rhapsodys Augen füllten sich bei dieser Erinnerung mit Tränen. Sie lächelte.
Sie kehrte gerade rechtzeitig in die Gegenwart zurück, um das erste Haus, das Haus Faley, in die Senke einrücken zu sehen. Es waren fünfhundert, zumeist Menschen mit ein wenig lirinschem Blut. Sie kamen vor der großen Prozession der Cymrer zu Fuß und zu Pferd; einige gingen allein, viele in kleinen Familiengruppen, Kinder und Erwachsene. Rhapsody begrüßte das Oberhaupt der Familie mit einer Verbeugung; der Mann winkte freudig zurück. Als die ersten Cymrer eingetroffen waren, hatte sie jeden Einzelnen begrüßt und war oft bis nach Mitternacht aufgeblieben, damit sich alle wohl fühlten und wussten, warum sie hier waren. Doch die wachsende Menschenmenge hatte es ihr bald unmöglich gemacht, weiterhin jeden willkommen zu heißen.
Die Woge an Menschen ergoss sich nun in den Gerichtshof wie ein See, der einen Damm durchbricht. Einige riefen freudig Leuten, die sie kannten, etwas zu, andere nickten alten Gegnern zu, wobei die Luft um sie herum vor Spannung knisterte. Sie schritten hinter gewaltigen Bannern her, die ihre Abstammung kundtaten, oder hatten sich zu uneinheitlichen Gruppen zusammengerottet. Sie waren die teils größeren, teils unwesentlicheren Häuser, die letzten Überbleibsel des cymrischen Zeitalters, die Abkömmlinge der Drei Flotten, die ihre gegenseitigen Bande bis nach dem Ende des Krieges aufrechterhalten hatten. Dies war die politische Struktur, welche das Konzil vor zwölfhundert Jahren gebildet hatte.
Einige der größeren, angeseheneren Häuser bestanden aus den Adligen von Roland, Sorbold und den umgebenden Ländern. Rhapsody verneigte sich tief vor Tristan Steward, dem Prinzen von Bethania, der hinter Herzog Cunliffe herritt, einem kleineren Adligen aus seinem Hofstaat, welcher das Oberhaupt seines Hauses Glyden war.
Rhapsody bemerkte eine unruhige Bewegung in dem Meer von Menschen unter sich. Lord Stephen Navarne und seine Kinder befanden sich am Ende des Hauses Glyden, und alle drei winkten nervös. Melisande hockte auf den Schultern ihres Vaters und winkte ihr wild zu. Rhapsody lächelte und winkte zurück.
Nach der anfänglichen Aufregung anlässlich des Eintritts der ersten Häuser wandelte sich die Atmosphäre. Die Gruppen teilten sich nicht nur nach Häusern, sondern auch nach den Flotten auf, auf denen sie oder ihre Vorfahren gesegelt waren, oder aber nach Rassen. Als die Lirin einschritten, begaben sie sich sogleich zum Fuß des Rufersimses und stellten sich unter Rhapsody auf. Sie kam herunter und begrüßte sie, umarmte Oelendra und Rial sowie einige ihrer engeren Freunde aus Tyrian. Dann kehrte Stille ein, und die Augen vieler anderer Cymrer ruhten auf ihr. Oelendra spürte es auch. »Komm«, sagte sie und nahm die Königin am Arm, »ich will dir bei dem Kleid helfen, das Miresylle dir für die Willkommensrede genäht hat.« Rhapsody stimmte zu und führte Oelendra zu ihrem Zelt. Von drinnen hörten sie, wie der Lärm wieder einsetzte und die gelegentlichen Streitereien heftiger wurden, als immer mehr Häuser in die Senke einschritten. Rhapsody seufzte.
»Der Morgen ist noch jung, und zehntausende sind noch gar nicht eingetreten, aber sie quäken schon wie die Kinder«, sagte sie und öffnete einen Kleidersack. »Ich hoffe, sie bringen sich nicht gegenseitig um, bevor alle hier sind.«
Oelendra ergriff den Saum des Rocks und verhinderte, dass er durch den Dreck geschleift wurde. »Sie werden nicht kämpfen, nicht beim Konzil. Das verbietet die Macht des Gerichtshofes. Als sich diese Leute das letzte Mal gesehen haben, standen sie sich auf dem Schlachtfeld gegenüber. Sie müssen ihre Meinungsverschiedenheiten austragen; das ist schon lange überfällig. Es ist wichtiger, dass du als Ruferin neutral bleibst. Nur so kannst du die Befehlsgewalt über die Versammlung ausüben.«
Rhapsody nickte und schlüpfte aus ihrer Kleidung, um das neue Gewand anzuziehen. Miresylle, ihre Lieblingsnäherin, war eine mütterliche Frau, die Rhapsodys Körper kannte und ihr jegliche Kleidungsstücke nähte, ohne dass Rhapsody sie anprobieren musste. Dieses Kleid war aus alter cymrischer Seide geschneidert, die noch aus der Zeit vor dem Krieg stammte. Sie war silbern und mit Goldfäden durchwirkt. Man sah entweder die eine oder andere Farbe, je nachdem von welchem Winkel aus man das Gewand betrachtete. Miresylle hatte Dutzende kleiner Knöpfe am Rücken und den Ärmeln eingenäht. Oelendra half Rhapsody dabei, das Kleid zu schließen und den gebauschten Rock zu glätten; dann drehte sie die Sängerin um die eigene Achse und betrachtete das Ergebnis. Die lirinsche Meistern keuchte unwillkürlich auf. Der Anblick war atemberaubend.
Der alte Stoff glimmerte im Licht des Diadems, das sich in dem Gesicht, den Augen und dem Haar der Königin widerspiegelte. Oelendras Augen füllten sich mit Tränen, doch sie trockneten rasch wieder, als sie den Ausdruck der Verärgerung in Rhapsodys Gesicht bemerkte.
»Was ist los?«
Rhapsody wandte sich von ihr ab und schlüpfte in ihre Schuhe. »Nichts.«
»Sag es mir.«
Die smaragdenen Augen, deren Blick dem der silbernen Augen Oelendras begegnete, kündeten von tiefer Besorgnis, die jedoch schnell wieder verschwand und von Ernsthaftigkeit ersetzt wurde. »Es ist nichts, Oelendra«, wiederholte sie. »Der Stoff ist über dem Bauch ein wenig eng, das ist alles. Miresylle muss vergessen haben, dass mir der Bauch anschwillt, wenn ich gegessen habe.«
Oelendras Miene bewölkte sich. »Wann hast du zum letzten Mal gegessen, Rhapsody?«
»Gestern Abend. Mach dir bitte keine Sorgen, Oelendra. Es kneift nur ein klein wenig. Miresylle hat mich längere Zeit nicht mehr gesehen. Vielleicht hat sie meine Maße vergessen.«
Oelendra nickte. »Zweifellos. Sollen wir zurück zum Konzil gehen?« Rhapsody gürtete die Tagessternfanfare um und ergriff die Hand der alten Frau. Zusammen verließen sie das Zelt und umarmten sich noch einmal, bevor Oelendra sich wieder in die Reihen der Lirin begab. Rhapsody nahm erneut ihren Platz auf dem Rufersims ein und blickte hinunter auf die anwachsende Menschenmenge.
Die meisten der Cymrer, die sich bisher versammelt hatten, waren Menschen oder Lirin oder eine Kombination von beiden, doch gelegentlich bemerkte sie auch Leute anderer Rassen, die sie seit ihrer Abreise aus Serendair nicht mehr gesehen hatte. Manche waren ihr sogar völlig unbekannt.
Die erste dieser Gestalten war klein und ging am Fuß des Rufersimses entlang. Sie sah sich um, als suchte sie einen Unterschlupf. Es war eine Gwaddi-Frau, kaum vier Fuß hoch, mit riesigen grüngrauen Augen, einem herzförmigen Gesicht mit hohen Wangenknochen und karamellfarbenem Haar, das sie zu einem langen Zopf geflochten hatte. Wie die anderen Mitglieder ihrer Rasse war sie schlank, hatte übermäßig große Hände und lange, schmale Füße. Sie schien sich in der Gesellschaft von Menschen nicht wohl zu fühlen, doch bevor Rhapsody sie zu sich rufen konnte, war sie in der Menge untergetaucht. Rhapsody war höchst erstaunt; sie hatte befürchtet, dieses kleine, sanfte Volk sei während des schrecklichen cymrischen Krieges vernichtet worden. Nun war sie tief erleichtert, dass ihre Angst zumindest teilweise unbegründet war.
Nach und nach fielen ihr noch weitere unbekannte Rassen ins Auge Männer und Frauen mit einzigartigem Körperbau und Aussehen, dunkle lirinhafte Gestalten mit Augen, die schwärzer als die vergangene Nacht waren; geschmeidige Menschen mit Haaren und einer Haut, die so golden wie Weizen auf einem Sommerfeld waren, gedrungene, stämmige Männer mit breiten Schultern und langen, silbernen Barten, eine Gruppe umherrennender Kinder in Silber und Blau, die wie die Sonne auf dem Meer leuchteten, und dazwischen Menschen und Lirin in den Farben ihrer Nationen. Es war etwas Einzigartiges an ihnen allen, eine Schönheit, die tief in Rhapsodys Seele drang und in ihr den Wunsch hervorrief, sie zu beschützen, als ob sie diese Leute ihr ganzes Leben lang gekannt hätte, auch wenn sie nicht zu ihnen gehörte. Sie dachte an das, was Elynsynos über die Cymrer zu ihr gesagt hatte, und lächelte über die Weisheit der Drachin.
Sie waren Magie. Sie hatten die Erde überquert und dabei die Zeit angehalten. In ihnen fanden alle Elemente ihren Ausdruck, auch wenn sie nicht wussten, wie sie diese anwenden sollten. Einige stammten von Rassen ab, die man in diesen Gegenden nie zuvor gesehen hatte; es waren Gwadd und Liringlas und Gwenen und Nain, Alt-Serener und Dhrakier und Mythlin ein menschlicher Garten voller verschiedener, wunderbarer Blumenarten. Sie waren etwas Besonderes, meine Schöne, ein einzigartiges Volk, das es verdient, geschätzt und beschützt zu werden.
Rhapsody fragte sich, wo sich diese fremden Völker aus einem Land, das vor mehr als tausend Jahren untergegangen war, nur versteckt gehalten hatten. Sie hatte keine Zeit, lange über diese Frage nachzudenken, denn von Osten ertönte ein neuerlicher Trompetenstoß, und Huftritte kündeten die Ankunft einer weiteren Cymrergruppe an.