Rhapsody hörte Oelendra, bevor sie sie sah. Achmed hatte erklärt, dass ihr früheres Ungeschick es gefährlich machte, lange durch Yarim zu reisen; daher durchquerten sie die Provinz so rasch und unauffällig wie möglich. Nach drei Tagen fanden sie sich in einem bewaldeten Gebiet zwischen dem nördlichen Zipfel von Bethania und dem östlichen Rand des üppigen Ackerlandes von Canderre wieder.
Achmed, der die ganze Reise über den starken, klauenähnlichen Griff um Vincanes Hals nicht gelockert hatte, nickte am Ende eines langen Reittages und zügelte sein Pferd in der Mitte eines sanft ansteigenden Hügels. Rhapsody stieg rasch ab, streckte die Arme nach Arie aus und hob das Kind vorsichtig aus dem Sattel, um sein entzündetes Bein zu schonen. Als sie ihr Lager aufschlugen, ging die Sonne bereits unter; ein einzelner Stern erschien in dem Himmelsfleck über den blattlosen Bäumen. Rhapsody stand auf und bürstete sich den Dreck von ihrer Hose; dann sah sie sich nach einem Platz für die Abendvesper um. Dabei hörte sie, wie in der Ferne eine Stimme mit dem uralten Gesang begann.
Es war eine zeitlose Stimme, warm und rau; sie sang mit der Kraft und Qual eines Wesens, das Welten entstehen und untergehen gesehen hat, das die schrecklichsten aller Albtraumschlachten erlebt hat und wieder aufgestanden ist, zwar nicht triumphierend, aber siegreich, und das sich im Licht jeder neuen Morgendämmerung wieder erhebt.
Tränen der Erregung traten in Rhapsodys Augen. Sie ergriff Achmeds Arm.
»Oelendra! Das ist Oelendra!«
Achmed nickte knapp und fuhr damit fort, Vincane an einen Baum zu binden, sodass er ihn zu jeder Zeit sehen konnte, aber Zugang zu Wärme und Nahrung hatte. Er wusste bereits, dass sie in der Nähe war; er war dem Herzschlag der alten lirinschen Kriegerin bis hierher gefolgt. Sie war eine der wenige tausend zählenden Seelen, die auf der Insel Serendair geboren waren und die er mit seinen Blutsinnen aufspüren konnte.
»Sie ist nahe genug. Vielleicht solltest du zu ihr gehen.«
Er warf einen Blick über die Schulter. Rhapsody war schon fort.
Der Hain, in dem sie lagerten, wurde gegen Osten dünner und erstreckte sich über die Flanke eines großen Hügels. Rhapsody rannte auf die Spitze und kümmerte sich dabei nicht um den zerbröckelnden Fels, die Wurzeln und die rutschigen Blätter unter dem Schnee. Sie wurde von einem Drang tief in ihrem Herzen angetrieben.
Auf dem Kamm des Hügels hielt sie an, erstarrt vom Anblick ihrer Lehrerin, die die Arme ausgestreckt und die Handflächen in demütiger Bitte an die Sterne nach oben gerichtet hielt. Die Tränen der Erregung wurden zu Tränen quälender Liebe.
Von der Seite und im grauen Licht der Dämmerung sah Oelendra ganz wie ihre Mutter aus, während sie das Loblied sang, das sie ihr vor einem ganzen Leben beigebracht hatte. Rhapsody hatte ihre Mutter schon lange nicht mehr im Traum sehen können; sie schluckte und fiel in den abendlichen Lobgesang ein; ihre Stimme verschmolz mit der anderen in einer hohen Harmonie.
Am Ende des Gebets drehte sich Oelendra um und lächelte. Nun sah Rhapsody in ihr nicht mehr die Mutter, sondern ihre Freundin und Lehrerin, die lirinsche Meisterin im Kampfanzug und mit Schultern, die so breit wie die von Achmed waren. Ihren langen, dünnen Zopf aus grauem Haar hatte sie säuberlich im Nacken zusammengebunden, und in ihren großen silbernen Augen strahlte ein freudiges Licht, als sie Rhapsody sah.
Die beiden Frauen, die gegenwärtige Ilianchenva’ar und diejenige, welche die Tagessternfanfare in einem vergangenen Leben getragen hatte, umarmten sich auf dem windigen Hügelkamm.
»Du bist müde«, bemerkte die lirinsche Meisterin und strich eine goldene Haarlocke aus Rhapsodys Augen.
Rhapsody lächelte. »Und außerdem bin ich zu spät«, entgegnete sie. »Das tut mir Leid.«
Oelendra nickte. »Was hat dich aufgehalten?«
Rhapsody schlang den Arm um die Hüfte ihrer Lehrerin. »Komm mit mir, und ich werde es dir zeigen.«
Achmed hatte den herannahenden Frauen den Rücken zugewandt. Die Nacht war nun vollständig hereingebrochen, und der Himmel war dunkel, als sie Oelendras Reittiere, zwei Rotschimmelstuten, in eine kleine Baumgruppe neben Achmeds und Rhapsodys Pferde führten.
Rhapsodys Augen leuchteten, als sie ihre Lehrerin zum Feuer brachte und Achmed vorstellte.
»Achmed, das ist Oelendra. Oelendra, das ist Seine Majestät, König Achmed, Kriegsherr des Reiches von Ylorc.«
Achmed stand langsam auf und wandte sich in die Feuerschatten. Sein zweifarbiger Blick ruhte nun auf der lirinschen Meisterin, die ihn ernst erwiderte. Einen Moment später wurde ihr Blick etwas härter, dann entspannte sie sich wieder, blieb aber zurückhaltend. Der Fir-Bolg-König betrachtete die lirinsche Meisterin flüchtig und wandte sich dann ab. Er streckte die behandschuhte Hand aus und zog einen Kessel vom Lagerfeuer.
»Hungrig?«
Oelendra betrachtete ihn immer noch. Rhapsodys Blick lief vom einen zum anderen, während die Stille immer drückender wurde. Schließlich ergriff sie Oelendras Hand.
»Ich schon. Warum verteilst du es nicht, Achmed?« Sie führte ihre Lehrerin zur anderen Seite des Feuers, wo der Lirin Junge kauerte, und kniete sich neben ihn. »Das ist Arie, Oelendra. Arie, Oelendra ist meine Freundin. Sie wird dir nichts tun.«
Sie wandte sich an die lirinsche Meisterin, die den Jungen eingehend ansah. »Ja«, sagte Rhapsody, als sie ihre Gedanken las. »Seine Mutter war offenbar eine Liringlas.«
»Ja.« Oelendra fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Verstehst du, was das bedeutet?«
»Dass es hier auf dem Kontinent noch weitere Liringlas gibt, von denen du und Rial nichts wusstet?«
»Möglich.« Oelendra starrte einen Moment lang ins Feuer. »Es könnte auch bedeuten, dass der Rakshas das Meer nach Manosse oder vielleicht nach Gaematria, der Insel der Meeresmagier, überquert hat. Dort gibt es Liringlas, oder wenigstens hat es sie gegeben. Wenn das der Fall ist, wer weiß, wie viele Frauen er dann geschwängert hat?«
Rhapsody erzitterte, schüttelte aber den Kopf. »Nein. Rhonwyn sagte, es seien nur neun lebende und eines, das noch geboren wird. Und als wir sie fragten, war der Rakshas schon tot.«
Oelendra seufzte erleichtert. »Gut. Das hatte ich vergessen. Gut.« Ein schwaches Lächeln flog über ihr Gesicht, während sie nachdenklich das Kind ansah. »Hallo, Arie«, sagte sie in der Sprache der Liringlas. »Haben sie dich gut behandelt?«
Das Kind erbebte. »Ja«, antwortete es flüsternd.
Oelendra wandte sich wieder an Rhapsody. »Er kennt die Sprache unseres Volkes, aber er ist offensichtlich nicht von Liringlas aufgezogen worden. Was sagt dir das?«
Rhapsody streichelte dem Kind über den Kopf. »Glaubst du, er hat ein angeborenes Talent zum Sänger?«
Achmed reichte beiden Frauen Krüge mit Suppe; Arie erhielt einen eingedellten Stahlbecher. Oelendra nickte zum Dank und hob das Gefäß an die Lippen. Sie nahm einen tiefen Schluck und betrachtete dann wieder das Kind.
»Das weißt du besser als ich«, sagte sie schließlich. »Aber das ist die wahrscheinlichste Erklärung.«
»Nun, es gibt nur einen Weg, um es herauszufinden«, meinte Rhapsody. Sie setzte sich mit gekreuzten Beinen neben das Kind. »Arie, würdest du bitte den Strumpf herunterziehen und Oelendra dein Bein zeigen? Ich verspreche dir, dass sie es nicht anrühren wird«, fügte sie hastig hinzu, als sie die Angst im Gesicht des Kindes bemerkte. Oelendra nickte zustimmend.
Langsam und mit zitternden Händen zog der Junge den Strickstrumpf herunter. Im Feuerschein war das entzündete Bein schwarz und die heilende Haut deutlich am Rande sichtbar. Es roch schwach nach Thymian.
»Ich habe es mit Kräutern eingerieben, seit wir ihn zu uns genommen haben. Allmählich wird es besser; zuerst war es brandig«, erklärte Rhapsody Oelendra. Sie wandte sich wieder an den Jungen: »Kannst du mir deinen Namen vorsingen, Arie?«
»Wie bitte?«, fragte das Kind nervös.
»Wähle einen Ton aus, der dir richtig erscheint, und singe deinen Namen, etwa so.« Rhapsody stimmte seinen Namen an: Arie.
Der Junge schluckte und kam dann der Bitte nach. Arie, sang er leise.
Rhapsody sah Oelendra an. »Sol«, sagte sie. »Sein Namenston ist Sol, die fünfte Note der Tonleiter. Möglicherweise hat er irgendwo ältere Geschwister. Wenn er der Erstgeborene wäre, wie du, Oelendra, dann würde sein Ton Ut lauten.« Sie sah Achmed nicht an, der ebenfalls ein Erstgeborener war. Oelendra nickte ernst.
»Also gibt es irgendwo auf diesem Kontinent weitere Liringlas-Kinder, die jetzt mutterlos sind.«
Rhapsody seufzte. »Ja.« Sie besah das Bein eingehend; es hatte sich nicht verändert.
»Versuch es bitte noch einmal, Arie. Denk einfach daran, dass dein Bein besser wird.«
Das Kind sang die Note erneut, doch ohne erkennbaren Erfolg. Oelendra zuckte die Achseln. Rhapsody seufzte stumm, dann kam ihr ein Gedanke.
»Vielleicht hat seine Mutter nicht lange genug gelebt, um ihn zu sehen«, meinte sie leise zu Oelendra. »Alle Kinder des Rakshas sind Waisen; ihre Mütter sind bei der Geburt gestorben. Vielleicht ist Arie nicht sein richtiger Name.«
»Möglich. Aber woher willst du wissen, wie sein richtiger Name lautet?«
Rhapsody streichelte den Jungen und setzte sich zurück. Das Feuer wärmte ihre Schultern.
»So etwas herauszufinden ist ein langer und schwieriger Prozess, wenn der Betreffende nicht weiß, welcher Name ihm gegeben wurde«, sagte sie nachdenklich. »Es würde viel mehr Zeit beanspruchen, als wir haben, da wir uns auf Versuch und Irrtum verlassen müssen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Mutter ihrem Kind überhaupt einen Namen gegeben hat. Vielleicht ist sie gestorben, bevor sie das tun konnte.«
»Du könntest leider Recht haben. Er könnte seinen Namen von einem filidischen Priester oder einem Liringlas-Benenner bekommen haben, falls es noch welche gibt. Oder von einem zufällig vorbeikommenden Fremden oder sogar von einem Feind, da er als Sklave geendet ist.«
Die Hitze in Rhapsodys Rücken erinnerte sie an Bäder in ihrer Kindheit vor dem brennenden Ofen. Sie schloss die Augen und versuchte, sich das Gesicht ihrer Mutter vorzustellen. Es gelang ihr nicht.
»Vielleicht hat sie ihn bloß ›Kind‹ genannt, weil sie in ihrer Schwäche nicht einmal wusste, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.« Sie aß ihre Suppe auf, wartete darauf, dass auch der Junge sein Mahl beendete, und beugte sich wieder vor.
»Arie, kannst du ein anderes Wort für mich singen?« Das Kind nickte. »Gut! Hör dir das Wort an, das ich gleich sage, und dann singe es, wie es dir richtig erscheint. Hier ist es:
Pippin.« Sie schenkte dem Kind ein ermutigendes Lächeln und sah, wie sich die Wärme in seinen klaren blauen Augen widerspiegelte.
Arie holte tief Luft, zuckte vor Schmerz zusammen und sang dann das Wort Pippin in der Note Sol.
Oelendra und Rhapsody lauschten verzückt. Nach einem Augenblick untersuchten sie eingehend sein Bein und sahen sich danach gegenseitig an. Es war keine sichtbare Veränderung eingetreten.
Die lirinsche Meisterin klopfte dem Kind sanft auf die Schulter und wollte aufstehen, doch Rhapsody bedeutete ihr zu warten.
»Das war sehr gut, Arie. Ich werde jetzt mein Schwert ein wenig aus der Scheide ziehen das ist schon in Ordnung«, fügte sie rasch hinzu, als sich die klaren blauen Augen des Kindes mit Furcht umwölkten. »Nur ein kleines bisschen, damit ich es anfassen kann. Ich verspreche dir, dass es nicht heller als das Lagerfeuer sein wird. Einverstanden?«
Das Kind war bezaubert vom Leuchten ihrer grünen Augen und nickte wieder, als wäre es hypnotisiert. Rhapsody packte die Tagessternfanfare am Griff unmittelbar über dem Querstück und zog sie langsam aus der schwarzen Elfenbeinscheide. Sie zwang sich zur Ruhe und sandte diesen Gedanken auch in das Schwert.
Zur Antwort auf ihren Befehl brannte die winzige Flamme still und tief. Das elementare Band des Feuers zwischen ihnen flammte auf, und sie war wieder eins mit dem Schwert. Sein Gesang erfüllte ihre Seele, während sich ihr Geist aufhellte.
Sie sah das Kind wieder an und versuchte sich seine tragische Geburt und den hastigen Aufbruch der gemarterten Seele seiner Mutter ins Licht vorzustellen, als es auf die Welt kam, vor etwa acht oder neun Jahren, wenn sie richtig geschätzt hatte. Tränen von Mitleid und Wut traten ihr in die Augen, als sie sich vorstellte, wie sich die Frau im Griff der Schmerzen wand, die sie unzweifelhaft gespürt hatte Schmerzen, die mit ihrer Vergewaltigung vor einem Jahr oder mehr begonnen hatten und die sie sicherlich jeden Tag der vierzehnmonatigen Schwangerschaft einer Liringlas begleitet hatten.
Ihre Hände zitterten aus einem ihr unbekannten Grund, und sie hörte die harsche, vieltönige Stimme Manwyns wieder in ihrem Kopf.
Ich sehe die Geburt eines unnatürlichen Kindes, hervorgegangen aus einer unnatürlichen Verbindung. Nimm dich vor der Geburt in Acht, Rhapsody: Die Mutter wird sterben, das Kind aber wird überleben.
Was hat die Wyrmkin damit gemeint?, fragte sich Rhapsody benommen. War dies das Kind? Oder war es das noch nicht geborene Lirin-Kind? Oder hatte Manwyns Prophezeiung etwas mit ihr selbst zu tun?
Konzentriere dich auf das Kind vor dir.
Rhapsody schüttelte den Kopf, und sofort klärten sich ihre Gedanken. In den Tiefen ihres Seins hatte sie eine Stimme gehört eine Stimme, die sie nie zuvor vernommen hatte. Vielleicht war es die Stimme des Schwertes. Oelendra hatte ihr vor vielen Monaten während der Ausbildung gesagt, das Schwert habe eine Stimme, wenn sie es bei sich trage eine Stimme, die erst dann schweigen würde, wenn das Schwert und Seren, der Stern, aus dem es geformt war, für immer getrennt werden sollten. Vielleicht war es auch nur die Stimme ihrer eigenen Vernunft gewesen, die zu ihr sprach und sie zur Besinnung brachte.
Sie lächelte Arie abermals an. »Noch einmal? Willst du es mir zuliebe noch einmal versuchen, Arie?«
»Ja.« Seine Stimme war fast unhörbar.
»Gut. Singe nun das für mich: Y Pippin.« Mein Kind.
Y Pippin, sang der Junge mit brechender Stimme.
Erneut untersuchten die beiden Frauen das Bein. Am Rande der eiternden Wunde, wo die Haut zuvor noch rot gewesen war, hatte sich die Entzündung vor ihren Augen zurückgezogen. Das eiterige Innere war zu einem dunkleren Rot und das Schwarz zu Rosa geworden. Die Wunde war noch da, aber sogar im schwachen Licht des Lagerfeuers war deutlich zu sehen, dass sie sich gebessert hatte.
»Sieh dir das an«, murmelte Oelendra.
»Ich wusste von Anfang an, dass er etwas Besonderes ist«, sagte Rhapsody stolz. »Das ist ein Beweis dafür, dass auch aus dem Bösesten noch etwas Gutes erwachsen kann.«
Oelendra tätschelte das Kind und stand plötzlich auf. Sie starrte über den Feuerkreis hinweg auf den Baum, an dem Achmed Vincane angebunden hatte.
»Und was haben wir da?«, fragte sie.
»Zwei Huren und den hässlichsten Bastard der Welt«, antwortete der Junge mit einem höhnischen Grinsen.
Mit übertriebener Langsamkeit ging Oelendra über die Lichtung und hockte sich vor Vincane, sodass sie auf Augenhöhe mit ihm war. Die Muskeln an ihrem Rücken zuckten bedrohlich, als sie sein Gesicht betrachtete. Selbst von ihrem Platz aus konnte Rhapsody erkennen, wie Vincane unter dem Blick der lirinschen Meisterin erschlaffte. Sie kicherte, denn sie hatte bei mehr als einer Gelegenheit diesen kriegerischen Blick auf sich ruhen gespürt. Es war ein tödlich gelassener, eindringlicher Blick, und er durchbohrte die Seele aus grauen Augen, die mehr Zerstörung gesehen hatten, als man sich vorstellen konnte.
»Entschuldigung«, sagte Oelendra mit fester Stimme. »Ich fürchte, ich habe dich nicht verstanden. Was hast du gesagt?«
Der Junge versuchte sich noch enger gegen den Baum zu drücken. Seine Frechheit war verschwunden; Panik hatte ihn ergriffen.
»Dein Name«, sagte Oelendra.
»Vincane«, antwortete der Junge mit brechender Stimme.
»Wie schön, dich zu treffen, Vincane. Ich bin sicher, wir werden hervorragende Reisegefährten sein. Ich glaube, ich werde dich während unserer Reise nicht mehr ermahnen müssen, nicht wahr?«
»Nein«, sagte der Junge hastig.
»Das hatte ich auch erwartet.« Sie kehrte zum Feuer zurück, wo Rhapsody Arie gerade in eine Decke wickelte, und nickte Achmed zu, der sich zu ihnen gesellte, nachdem er Vincanes Fesseln überprüft hatte.
»Ihr wollt also die anderen holen?«, fragte Oelendra.
»Ja«, antwortete Rhapsody.
»So viele, wie es unsere Zeit erlaubt«, warf Achmed ein, der nach einem bedeutungsschweren Blick auf den Gefangenen in die alte lirinsche Sprache fiel. »Wir hatten gehofft, den Gladiator bei oder nach dem Winterfest zu fangen, aber das ist jetzt nicht mehr möglich.«
Oelendra nickte. »Was habt ihr als Nächstes vor?«
Rhapsody schaute hinüber zu den beiden Kindern. Arie schlief fest, und Vincane schien in einen leichten Schlummer gefallen zu sein, doch es war schwer zu sagen, ob er das nicht nur vorspielte.
»Hintervold«, erwiderte sie. »Rhonwyn sagte, dass es dort zwei Kinder gebe, und eines in Zafhiel. Die anderen befinden sich in Roland und der Neutralen Zone, also näher bei dir. Es sollte uns möglich sein, sie alle zu bekommen, doch es wäre gut, wenn wir den Ältesten erwischen, bevor das Kind geboren wird. Danach werden wir entscheiden, wie wir an den Gladiator herankommen.«
Achmed stieß verärgert die Luft aus. Er sprach nur wenig Alt-Lirin, doch er hatte ihre Worte erwartet.
»Vielleicht erwischen wir nicht einmal die anderen. Der Winter wird immer härter. Noch ein paar Schwierigkeiten wie die in Yarim, und wir müssen einen oder sogar mehrere laufen lassen.«
»Nein«, sagte Rhapsody fest. »Wir werden sie alle bekommen. Wir müssen es. Jemand muss es. Es sind doch Kinder.«
»Es sind keine Kinder, sondern Abscheulichkeiten«, warf Oelendra ein. Sowohl Rhapsody als auch Achmed sahen sie erstaunt an. »Ich kann nicht glauben, dass dir das nicht klar ist, Rhapsody. Sieh sie dir doch einmal an. Vielleicht sind sie süß und scheu, vielleicht auch böse und grausam auf alle Fälle sind sie halb dämonisch. Kannst das nicht erkennen?«
Achmed lächelte schwach. »Vielen Dank.« Er wandte sich wieder an Rhapsody. »Jetzt hast du es von jemand anderem gehört; vielleicht schenkst du mir nun Glauben.«
»Ich bin verblüfft«, murmelte Rhapsody nach einem Augenblick. »So etwas hätte ich von Achmed erwartet, nicht aber von dir, Oelendra. Wie kannst du diese Kinder wegen ihres Vaters verdammen? Sie haben es schon schwer genug. Es sind doch nur Kinder, genau so, als wenn ihr Vater ein Dieb oder Mörder wäre. Sieh dir Arie an. Um Himmel willen, er ist ein Liringlas!«
»Seine Mutter war eine Liringlas«, sagte Oelendra ernst. »Er ist eine Missgeburt mit Liringlas-Vorfahren; das ist nicht dasselbe. In den Adern dieser beiden Kinder fließt das Blut des Dämons, Rhapsody, eines F’dors. Du scheinst nicht zu begreifen, was das bedeutet. In den alten Zeiten gab es viele F’dore, aber ihre Anzahl war begrenzt. Es existierte ein ganzes Pantheon, und die mächtigsten wurden sogar in alten Manuskripten mit Namen und Neigung genannt. In der Ober und Unterwelt bedeutete es eine Plage weniger, wenn einer von ihnen durch einen Dhrakier getötet wurde, während er sich noch in einem Körper befand. Irgendwie hat ein besonders gewitzter F’dor einen Weg gefunden, sein Blut weiterzugeben, ohne sich dadurch zu schwächen. Das ist eine höchst beunruhigende Wendung. Durch den Rakshas hat der F’dor seine dämonische Linie weitergeführt, was eine sehr gefährliche Tür in die Zukunft aufstößt. Diesem Problem werden wir uns sehr bald stellen müssen.
Ich weiß, dass du nur Kinder in ihnen siehst. Du musst lernen, tiefer zu blicken, damit du erkennst, was sie wirklich sind. Du musst hinter die Fassade schauen, wie niedlich sie auch sein mögen. Ansonsten wirst du irgendwann eine böse Überraschung erleben.«
Rhapsody seufzte. »Bitte sage mir, dass ich keinen Fehler mache, wenn ich sie dir anvertraue«, erwiderte sie. Ihre Stimme war ruhig, doch in ihren Augen leuchtete es eindringlich. »Wir müssen unseren Weg gehen und bei unserem Plan bleiben. Wenn es uns gelingt, sie zu dem Herrscherpaar Rowan zu bringen, und das Dämonenblut aus ihnen geschieden wird, haben wir damit nicht nur die Möglichkeit, den Dämon zu finden, sondern können auch die Kinder von dem Makel befreien, den sie in sich tragen. Sie werden vor der Verdammnis der Gruft gerettet sein. Sie werden nicht auf ewig dämonisch sein. Aber du musst ehrlich zu mir sein, Oelendra. Kannst du in dieser Sache einen kühlen Kopf bewahren? Wenn nicht, muss ich mir etwas anderes ausdenken. Ich werde es nicht zulassen, dass du durch deinen Hass auf den F’dor ihre Sicherheit aufs Spiel setzt.«
Verärgerung brannte in den Augen der lirinschen Meisterin. »Soll ich das wirklich so verstehen, dass du soeben meine Fähigkeit in Zweifel gezogen hast, einen kühlen Kopf zu bewahren?«
Rhapsody seufzte und verschränkte die Arme.
Oelendra versteifte sich und setzte nach: »Sag mir, was du damit meinst, Rhapsody.«
»Das habe ich schon getan«, meinte Rhapsody tonlos. »Du hasst den F’dor so sehr, dass du alle anderen Beweggründe beiseite schiebst. Du musst erkennen, dass es nicht nur deine Aufgabe ist, Achmed beim Aufspüren des Dämons zu helfen, sondern auch die Kinder zu beschützen. Sie sind vielleicht eine Dämonenbrut, aber sie wurden von unschuldigen Frauen geboren und haben unsterbliche Seelen. Daran musst du dich immer erinnern. Sie dürfen nicht zur Zielscheibe deines Hasses auf ihren Vater werden. Ansonsten sind wir nicht besser als der Dämon.« Ein belustigtes Flackern trat in ihre Augen. »Das ist meine Antwort auf deine Frage. Vielleicht verstehst du sie besser, wenn ich sie vertone und auf meiner Laute spiele. Warte. Wo ist denn die Laute?«
Oelendra blinzelte, zuckte zusammen und kicherte schuldbewusst, als sie sich daran erinnerte, wie sie das Instrument in ihrer Wut auf den Dämon zerschlagen hatte. Rhapsody lachte und umarmte ihre Lehrerin.
Dabei fragte sie: »Vergibst du mir?«
»Dafür, dass du die Wahrheit gesagt hast?«, erwiderte Oelendra. »Dafür sollte sich niemand entschuldigen, vor allem kein Benenner. Ich schwöre dir, Iliachenva’ar, dass ich die Kinder unter Einsatz meines Lebens schützen werde.«
»Das weiß ich«, flüsterte Rhapsody ihr ins Ohr. Sie drückte Oelendras breite Schultern ein letztes Mal und wandte sich dann wieder Achmed zu, während Oelendra sich um ihre Pferde kümmerte.
»Hat Vincane gegessen?«
»Wen?«
»Das ist nicht witzig. Oelendra muss unverzüglich aufbrechen, und wir sollten uns ebenfalls auf den Weg machen.«
»Er war nicht sonderlich hilfsbereit, aber er hat etwas Suppe durch verschiedene Löcher in seinem Kopf aufgenommen. Ich war versucht, ihm noch ein paar weitere zu schlagen.«
»Es wird ihm vermutlich nichts ausmachen, wenn er hungert, bis Oelendra das nächste Lager aufschlägt.«
Während Achmed den Lehrling an dem Sattel eines der Rotschimmel festband, kam Oelendra zu Rhapsody zurück und überreichte ihr einen kleinen Käfig aus Schilfrohr. In ihm flatterte ein schwarzer Wintervogel; dann beruhigte er sich und starrte sie neugierig an.
»Das ist ein weiterer geflügelter Bote für dich. Ich werde dir zu jedem Treffpunkt einen mitbringen, damit du mir immer sagen kannst, wo du bist.«
»Vielen Dank«, sagte Rhapsody und umarmte Oelendra noch einmal. »Du musst wissen, dass ich deine Hilfe über alles schätze und es bedauere, dich damit in Gefahr zu bringen. Aber du bist die Einzige, die diese Sache erfolgreich zu Ende bringen kann.«
»Das Vertrauen der Iliachenva’ar ehrt mich«, entgegnete Oelendra und lächelte, als Achmed Arie auf ihr eigenes Pferd setzte, damit er in gehöriger Entfernung von Vincane mit ihr reiten konnte. »Pass auf dich auf, Rhapsody. Und mach dir keine Sorgen mehr um diese Kinder. Sie stehen jetzt unter Bewachung.«
»Unter der besten Bewachung, die sie bekommen können. Ich wünsche dir eine sichere Reise. Ich werde es dir mitteilen, wenn wir die nächsten beiden haben.«
Oelendra nickte und sah dann wieder in Achmeds Gesicht. Einen Moment lang starrten sie sich gegenseitig an; dann nickte Oelendra erneut, stieg auf und ritt davon. Die Zügel von Vincanes Pferd hielt sie fest in der Hand.
»Übrigens«, rief sie Achmed über die Schulter hinweg zu, »sobald das hier vorbei ist, erwarte ich von dir, dass du sie als Entschädigung zu mir schickst, damit sie uns dabei hilft, die abgespaltenen Teile des lirinschen Königreiches wieder zusammenzufügen. Wir werden jede lirinsche Seele dazu brauchen.«
Achmed verbarg ein Lächeln, als Rhapsody ihr nachwinkte. Die lirinsche Meisterin ahnte nicht, dass er ihr in einem anderen Leben bereits eine Entschädigung geleistet hatte, indem er in der alten Welt die vielen Aufträge, sie zu ermorden, nicht angenommen hatte.