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Vier Straßenecken östlich vom zweiten Wall des Stadtviertels im Norden, dann elf Straßen nach Süden. Rhapsody zählte schweigend mit, als sie den Fußgängern und Karren folgte. Sie hielt den Kopf gesenkt und den großen Kleidersack fest unter dem Arm, wobei sie sorgsam darauf achtete, dass sie ihn nicht durch den gefrorenen Dreck der gepflasterten Straße zog. Ihr vom schnellen Schritt und der Angst in der Luft um sie herum warmer Atem bildete dünne Wölkchen aus weißem Nebel, die bei jedem Ausatmen und jedem eiligen Schritt wieder im Wind verwehten.

Im Mittsommer, während ihrer Liebestage, hatte Ashe ihr Anweisungen zum Auffinden sicherer Orte in verschiedenen Städten im ganzen Land gegeben; dabei handelte es sich um Dachstuben, Keller und Lagerräume, die er bei Bedarf selbst aufsuchte. Jede Anweisung hatte er mit der Warnung begleitet, dass diese Orte möglicherweise bereits nicht mehr existierten. Er hatte die meiste Zeit mit Reisen über Land verbracht und sich nur sehr selten in ein Dorf oder eine Stadt gewagt; daher verging immer viel Zeit zwischen den einzelnen Besuchen dieser Verstecke. Er hatte ihr gesagt, dass sie schon beim nächsten Besuch vielleicht nicht mehr sicher wären. Es gab nur ein Versteck die Torfhütte hinter einem Wasserfall im nördlichen Gwynwald , das er für alle Zeiten als ungefährdet ansah. Dennoch hatte er sie dazu gedrängt, von diesen Zufluchten Gebrauch zu machen. Eine war hier irgendwo in Bethania, wo sie sich vor und vielleicht auch nach der Hochzeit hatten treffen wollen, vorausgesetzt sie fand diesen Ort.

An der achten Straße, die nach Süden führte, bemerkte sie, dass der Verkehr abnahm. Sie blieb stehen und sah sich um. In unmittelbarer Nähe von ihr erhoben sich drei gewaltige Türme; jeder wurde von einer großen Zisterne gekrönt, die das Regenwasser für die Stadt sammelte. Damit wurden die öffentlichen Gärten bewässert, das alte cymrische Abwassersystem in Gang gehalten und Trinkwasser für den Palast und die Basilika bereitgestellt. Die Straßen um die Türme wurden von kleineren Steinzisternen und Regenwassertanks sowie mit Baracken für die Arbeiter und Soldaten gesäumt, die das System erhielten und verteidigten. Jeder Turm hatte einen Wachtposten, denn die Zisternen wurden Tag und Nacht bewacht, damit der königliche Wasservorrat nicht vergiftet wurde. Rhapsody folgte der scheinbar endlosen, gebogenen Steinmauer drei weitere Straßen, bis sie zu der Stelle kam, an der sich die Tür befinden sollte, falls sie sich richtig an Ashes Anweisungen erinnerte. Sie schaute sich verstohlen um. Da niemand in der Nähe war, huschte sie in eine Seitengasse, die vor einer Mauer endete, welche wie alle Mauern des Bewässerungssystems mit dichtem Dornengestrüpp überwuchert war.

Diese immergrüne Vegetation, die bei den Filiden von Gwynwald als Unterdorn bekannt war, stellte im ganzen westlichen Teil des Landes eine beliebte Verteidigungseinrichtung dar. Es handelte sich dabei um eine natürliche Barriere mit gezahnten Stacheln, die in Doppelreihen wuchsen und sehr schmerzhafte Wunden verursachten, welche auch dann noch bluteten, wenn sie sich eigentlich schon lange geschlossen haben sollten. Rhapsody hatte während ihres Aufenthalts in Gwynwald den Unterdorn sowohl mit Llauron als auch mit Lark, der scheuen Kräuterexpertin des Fürbitters, studiert und kannte daher die Gefährlichkeit dieser Pflanze. Sie wusste, wie man sich vor ihr schützen konnte; die Techniken dazu hatte sie zum Teil in Gwynwald gelernt, zum Teil verdankte Rhapsody sie ihren Fähigkeiten als Benennerin. Sie sah sich noch einmal um, als der Lärm einer Pferdekutsche durch die Gasse hallte, dann aber wieder verebbte. Gut, dachte sie. Die Straßen waren nicht fern; es würde einfach sein, eine Kutsche für die Fahrt zur Hochzeit zu mieten. So bald der Lärm verklungen war, wandte sie sich wieder der Dornenbewehrten Mauer zu und glitt mit der Hand in Gegenrichtung der Dornen unter die erste struppige Schicht.

Verlyss, sang sie sanft und sprach damit den wahren Namen der Pflanze aus. Sie spürte die musikalische Schwingung der rauen Rinde, der Stacheln und Dornen in der Luft, während sich die Pflanze in den Ruf einschwang.

Evenee, sagte sie. Samtmoos.

Die wilden Dornen, die sich gegen die Haut auf ihrem Handrücken drückten, wurden weich, glitschig und harmlos. Nun waren sie so sanft wie die grünen Flechten, die im Frühling die umgestürzten Bäume bedeckten. Sanft zog sie den Vorhang aus Vegetation zur Seite. Dahinter befand sich eine Steintür ohne Klinke, so wie Ashe es gesagt hatte.

Sie ertastete die Ränder der Tür, bis sie eine Einkerbung fand, die als Griff diente, und daran zog. Die Tür öffnete sich geräuschlos. Rasch trat Rhapsody ein und schloss die Tür hinter sich.

Sie befand sich in einem kleinen, dunklen Raum, der in cymrischer Zeit Teil einer Zisterne auf Straßenhöhe oder das Zimmer eines Aufsehers gewesen sein mochte, das hinter der Wand aus schwertähnlichen Dornen vergessen worden war. Ein winziges, zurückgesetztes Gitter diente als Fenster. Es ließ Licht, aber keinen Laut in das Zimmer.

Rhapsody tastete in ihrem Gepäck nach einer Kerze. Als sie eine gefunden hatte, entzündete sie diese mit ihrer Willenskraft. Während die Flamme aufschoss, spürte sie eine Welle angenehmer Gefühle aus ihrem inneren Feuer auflodern, die sich sofort mit dem elementaren Band in ihr zusammenschlössen. Sie hob die Kerze und sah sich um.

Der Raum enthielt ein Bett, eine Kommode und einen türlosen Alkoven. Ein durchgescheuerter Armlehnsessel wie jener in Ashes Zimmer hinter dem Wasserfall stand am Fenster neben einem kleinen Tisch mit einer Lampe darauf. Das Zimmer war bemerkenswert frei von Schimmel und angenehm trocken, aber kalt. Überall auf dem Boden und der Kommode befanden sich große Bienenwachskerzen.

Rhapsody ging zu dem türlosen Alkoven und hing dort den Kleidersack auf, der ihre Garderobe für die Hochzeit enthielt. Ihr restliches Gepäck legte sie auf die Kommode. Dann machte sie sich daran, die Wachskerzen mit einem Zündholz anzustecken.

Sie setzte sich auf das Bett und beobachtete, wie die Flammen immer stetiger brannten und das Licht heller wurde. Während sie sich zurücklehnte, um auf Ashe zu warten, lächelte sie, als sie die Stimme ihrer Mutter vernahm.

Bei Kerzenschein ist selbst das einfachste Haus ein Palast.

Rhapsody schloss die Augen und rief sich das Gesicht ihrer Mutter in Erinnerung. Es erschien und gab das Lächeln zurück.

»Vielen Dank, Fürst und Fürstin Rowan«, flüsterte sie. »Vielen Dank dafür, dass ihr sie mir zurückgegeben habt.«

Auf dem Balkon des oberen Ballsaals in Tannenhall, der königlichen Residenz, in der die Hochzeitsgäste untergebracht waren, verschränkte Llauron die Arme vor der Brust und atmete die frostige Luft ein, die mit dem Herannahen der Nacht noch kälter wurde. Er blickte in den westlichen Himmel und beobachtete die Wolken, die in verschwommenen, goldenen Spiralen die Sonne hinter dem Rand des Horizonts jagten. Wie wunderschön, dachte der Fürbitter und rieb sich geistesabwesend mit den Händen über die Arme, um sich zu wärmen. Bald weiß ich aus erster Hand, wie es ist, Teil dieser Schönheit zu sein.

Der Abendstern erschien am Himmel und glitzerte hell am Firmament. Als ob sie darauf gewartet hätten, dass jemand die Führung übernimmt, leuchteten die Sterne nacheinander auf, glitzerten kalt, brannten hell, ewig. Tränen erschienen in Llaurons alten blauen Augen.

Ich komme, meine Brüder, flüsterte er in den Wind. Ich komme.

Die Balkontür wurde geöffnet. Llauron wandte sich von der dunklen Schönheit der Nacht ab und dem Licht und der Feier im königlichen Ballsaal zu. Der Umriss eines Dieners hob sich vor dem Hintergrund aus schwebenden Gestalten und Lachen ab.

»Ist alles in Ordnung, Euer Gnaden? Kann ich etwas für Euch tun?«

Der Fürbitter lächelte.

»Nein, vielen Dank, mein Sohn«, sagte er und ging langsam zur Tür. »Ich habe nur gerade den Wunsch zum Abendstern geschickt, dass morgen alles gut gehen möge.«

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