48

Ashe bemühte sich, gleichmäßig zu atmen. Seine Wunden stachen ihm in Haut und Lunge. Es war nicht mehr weit bis zu dem Zimmer in der verlassenen Zisterne, und er betete darum, Rhapsody möge sich an diesen Treffpunkt erinnern. Er hatte sie in der Hochzeitshalle und der Basilika von Bethania gesucht. Vielleicht hatte sie ihren Plan vergessen, sich heimlich mit ihm auf der Hochzeit zu treffen. Wenn es wirklich so war, würde er es nicht ertragen können. Die Häscher des Dämons waren keine Soldaten, sondern Dorfbewohner gewesen, Schmiede und Fuhrleute, eine besonders schwer zu bekämpfende Gruppe, denn er wollte keine unschuldigen Bürger töten. Sie hatten sich mit ihm an der Brücke über den Phon einen erbitterten Kampf geliefert, denn sie hatten den Fluss unbedingt überqueren und er sie davon abhalten wollen. Er hatte gesiegt, aber um einen hohen Preis.

Er öffnete müde die Tür und lächelte. Sie war da, saß in dem alten Sessel mit den zerschlissenen Lehnen, und trug noch ihren Hochzeitsputz. Ihr Kleid hatte die Farbe von rauchigem Amethyst und sich um sie gebauscht, während sie schlief. Das goldene Haar bildete einen Wirbel über ihrem Kopf und fiel allmählich nieder.

Einer ihrer Schuhe war unter ihrem kleinen nackten Fuß zu Boden gefallen. Um den Hals trug sie eine enge Kette: ein großer Amethyst von derselben Farbe wie ihr Kleid, der von kleinen Perlen umgeben war und von drei Strängen aus milchig weißen Perlen gehalten wurde. In ihrem Schoß lagen ein Paar Ohrringe und zwei zerknitterte Handschuhe.

Er sah sie schweigend an und sog ihren Anblick in sich auf.

Verlangen und ein Gefühl von Leere überkamen ihn so heftig, wie er es vor ihrem Eintritt in sein Leben nie gespürt hatte.

Als er endlich begriff, dass sie tatsächlich da war und auf ihn wartete, verschwanden seine Schmerzen. Er eilte auf sie zu, hob sie vorsichtig aus dem Sessel, drückte sie an seine Brust und fuhr ihr mit den Lippen über Gesicht und Haare. Er atmete ihren Duft ein und schwelgte in ihrer Weichheit, als sie sich in seinen Armen regte und lächelnd erwachte.

»Ich habe dich vermisst«, sagte sie und strahlte ihn auf eine Weise an, die ihm immer wieder bis in die Seele fuhr. »Hat man dir aufgelauert?«

Er trug sie zum Bett und legte sie darauf nieder. Sie sah, dass es ihn unerwartet große Mühe kostete.

»Ashe?«, fragte sie mit Besorgnis im Blick. »Was ist los? Bist du verletzt?«

»Nicht der Rede wert«, sagte er, setzte sich neben sie und nahm sie wieder in den Arm. Aber ihr Blick verdüsterte sich vor Sorge. Sie fuhr ihm mit den Händen über die Brust und suchte nach Anzeichen für eine Verletzung. Sanft öffnete sie sein Hemd und keuchte vor Entsetzen auf, als sie die Schnittwunden und Quetschungen sah, die bereits allmählich verheilten.

»Was ist passiert?«, fragte sie erschüttert, zog ihm das Hemd ganz aus und befreite sich aus seiner Umarmung, damit sie ihn eingehender untersuchen konnte.

»Bitte bleib ganz dicht bei mir«, sagte er und versuchte, das Gesicht nicht vor Schmerzen zu verziehen. »Ich muss dich festhalten. Es geht mir gut. Bitte umarme mich nur bitte.«

Vorsichtig schlang sie die Arme um ihn, wobei sie versuchte, seine wunden Stellen nicht zu berühren. »Ich hoffe, du machst dir das nicht zur Gewohnheit«, sagte sie mit einer Spur Humor in der Stimme. »Ich habe wirklich Besseres zu tun, als mich andauernd um deinen verwundeten Brustkorb zu kümmern.«

Seine Antwort bestand aus einem langen, tiefen Seufzer. Er legte den Kopf auf ihre Schulter. Das Glücksgefühl, wieder in ihren Armen zu liegen, überwältigte ihn. Sie streichelte seine Haare und summte eine wortlose Melodie, die seine Kopfschmerzen vertrieb und dazu führte, dass der pochende Schmerz in seinen Wunden verging. Sanft rieb sie seine Schultermuskeln und verschaffte so seinem Körper und seiner Seele Erleichterung.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch als er aufwachte, lag er auf dem Bett mit dem Kopf in ihrem Schoß, während sie noch immer leise Worte sang, die er nur selten verstand. Er drehte sich auf den Rücken und sah sie an. Wenn ihr Bild auf dem Kopf stand, war sie genauso schön. Nun stemmte sich ihr Haar gegen seine Fesseln und drohte ihr jeden Augenblick auf die Schultern zu fallen.

Ashe begab sich nie leichtfertig in Gefahr, doch jetzt streckte er die Hand aus und löste vorsichtig den juwelenbesetzten Verschluss in ihrem Nacken. Er lächelte, als ihr die goldene Seide um den Hals und bis zur Hüfte fiel. Er blinzelte erstaunt; diese Bewegung war für ihn mühelos und ohne jeden Schmerz gewesen, als wäre er nie verletzt gewesen. Außerdem waren die wunderbaren Locken, die er so liebte und mit denen er sehr vertraut geworden war, weitaus länger als noch vor einigen Monaten, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Wenn Rhapsody gestanden hätte, wären ihr die Haare bis in die Kniekehlen gefallen.

»Was ist denn das?«, fragte er und hielt verwirrt eine lange Locke in der Hand.

»Ich glaube, in deiner Sprache nennt man es für gewöhnlich ›Haare‹«, erwiderte Rhapsody schalkhaft. »Benötigst du weitere Informationen? Zum Beispiel: Wo du bist, welches Jahr wir haben, wie dein richtiger Name lautet? Die ersten beiden Fragen kann ich beantworten, aber für die dritte habe ich nicht genug Zeit; ihre Beantwortung wäre länger als die meisten zwölfversigen Märchen.«

Ashe richtete sich auf und sah sie an. Seine Drachensinne strichen über sie. Er spürte die Reste von Schmerz in ihrem Körper; es war wie eine Reihe von fast verheilten Wunden. Entsetzt riss er ihr Leibchen auf. Grauen huschte über sein Gesicht, als er sah, wie sich seine eigenen Verletzungen auf ihrem Körper spiegelten. Sie waren zu einem schwachen Rosa verblasst, als würden sie bald verschwinden.

»Gute Götter, Rhapsody! Was hast du getan?«, wollte er wissen. Seine Stimme war erstickt von Entsetzen. Rhapsody sah ihn an und drückte seine Hände weg. Rasch zog sie das steife Leibchen wieder an.

»Entschuldige bitte«, meinte sie in verärgertem Tonfall. »Könntest du mir wenigstens erst einen Blumenstrauß schicken? Was bin ich deiner Meinung nach bloß für ein Mädchen?«

»Auf alle Fälle ein verwegenes«, antwortete er und berührte den Rand der Wunde, die über ihrem Ausschnitt hervorlugte. »Wie ist das passiert?«

»Das ist ein neues Kunststück, das ich vor kurzem gelernt habe«, erwiderte sie und drückte seine Finger wieder weg. »Halt deine Hände bei dir.«

»Ein neues Kunststück? Heilung anderer durch eigenes Leiden?«

»Praktisch, nicht wahr?«

»Du bist krank«, sagte er und beruhigte sich ein wenig, als er feststellte, dass dieses neue Kunststückchen sie nicht wirklich gefährdet hatte. »Weißt du nicht, wie du diese Wunden bekommen hast und wie ernst sie waren?«

»Nein«, gab sie zu, stand vom Bett auf und bürstete ihre Hose. Die Haare flössen ihr den Rücken herab. »Aber das ist egal. Fühlst du dich jetzt besser?«

Ashe erhob sich und folgte ihr. Er packte sie bei den Schultern und drehte sie zu sich um. Er sah auf seine Frau hinunter auf die Frau, die ihn nur als früheren Liebhaber betrachtete , und eine Welle der Zärtlichkeit überspülte ihn. Sie gab ihm wie immer den Vorzug, selbstlos wie sie war. Er beugte sich hinunter und wollte sie küssen, doch sie wich vor ihm zurück und wandte sich ab. Sie ging quer durch den Raum zu seinem Sessel und hob ihre verstreuten Habseligkeiten auf.

»Ja«, sagte er ermunternd und hoffte, sie damit zu sich zurückzuholen. »Gute Götter, Rhapsody, die Erinnerung an dich ist wunderbar, kommt aber an die Wirklichkeit nicht heran. Was ist mit deinen Haaren geschehen?«

»Sie sind gewachsen«, meinte sie nur, faltete die Handschuhe und legte die Ohrringe auf den Tisch. »Das erzähle ich dir später. Wieso bist du verletzt worden?«

»Ich bin in eine Gruppe bethanischer Dörfler geraten, die unter dämonischem Einfluss standen und unterwegs zur Hochzeit waren. Sie hatten wohl vor, einigen Gästen aufzulauern. Ich war der Meinung, es sei nicht falsch, ihre Pläne in letzter Minute ein wenig zu ändern«, antwortete er und rieb sich dabei geistesabwesend die Schulter. »Durch reinen Zufall war der Phon über die Ufer getreten, sodass sie bis zur Hüfte im Schlamm feststeckten. Ich wünschte, ich hätte Kirsdarkes Macht eingesetzt, bevor sie mich durchgeprügelt haben. Falls ihr Befehl lautete, die Hochzeit zu stören, hoffe ich, dass der Bann des F’dor nun von ihnen genommen ist, denn die Zeremonie ist schließlich vorbei. Wie war sie übrigens?«

Rhapsody zog sich gerade die Schuhe an. Seine Frage brachte sie in Aufruhr; sie schwankte auf den Absätzen und wäre beinahe wie ein Kind umgekippt, das gerade laufen lernt.

»Oh, es war wunderbar«, sagte sie mit glühendem Gesicht. »So viele Kerzen und so schöne Musik; und das Brautpaar sah so hübsch aus. Und der Ballsaal war mit den besten Kleidern gefüllt, die ich je an einem Ort versammelt gesehen habe. Es war ganz anders als bei den Hochzeiten, an denen ich bisher teilgenommen habe. Es tut mir Leid, dass du nicht da warst; ich glaube, du hättest es genossen.«

»Da bin ich mir sicher«, sagte er und beobachtete, wie die Erinnerungen durch ihre Augen tanzten, die wie Sonnenlicht auf dem Wasser glitzerten.

»Das Hochzeitskleid muss unglaublich schwer gewesen sein. Es hatte eine Schleppe, die eine ganze Meile lang war. Während man ihr noch durch den Mittelgang der Basilika folgte, stand die Braut schon am Altar des Feuers. Ich muss zugeben, dass ich so etwas niemals tragen wollte. Ich wette, morgen schmerzt ihr der Rücken.« Sie kicherte hämisch. »Es ist jedenfalls schade, dass du es verpasst hast. Sie war sicherlich die schönste Braut, die du je in deinem Leben hättest sehen können.«

Ashe lächelte zusammen mit ihr und spürte ihre Freude. »Nein, das glaube ich nicht«, sagte er zärtlich und dachte an einen Augenblick, an den sie sich nicht erinnern konnte. Sie ging zum Alkoven und holte einen Weidenkorb mit einem Deckel hervor. »Bist du hungrig? Magst du vielleicht etwas essen?«

Ashe dachte darüber nach. »Ja«, sagte er. »Ich glaube, ich könnte etwas gebrauchen.«

»Bitte bediene dich«, meinte sie, während sie den Deckel abnahm und ihm den Korb hinhielt.

»Hier haben wir ein wenig kalten Schinken und Früchte und eine Flasche von Achmeds bestem Wein bitte keine hämischen Kommentare, er ist wirklich nicht schlecht.«

»Ich wäre niemals so undankbar und würde eine beleidigende Bemerkung über etwas machen, das du mir gibst«, sagte er, nahm ihr den Korb ab und stellte ihn auf den kleinen Tisch in der Ecke. »Was ist mit dir? Worauf hast du Appetit?«

»Nur auf etwas Wein und Brot, bitte«, antwortete Rhapsody und setzte sich wieder in den abgeschabten Sessel. »Ich habe auf der Hochzeit peinlich viel gegessen.«

»Das hätte ich gern gesehen.« Er stellte ihnen ein Essen zusammen und reichte ihr mit einer militärischen Verbeugung ein Glas Wein. »Wie fühlst du dich? Sind die Wunden inzwischen verschwunden?«

Rhapsody spähte unter ihr Leibchen. »Alle weg.«

»Beweise es mir«, meinte Ashe neckisch.

Sie lächelte ihn an, kam seinem Wunsch aber nicht nach. Stattdessen nahm sie einen großen Schluck Wein. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Korb, denn er wusste, dass der Abstand, den sie zu ihm hielt, aus ihrem Glauben erwuchs, ihre Liebesbeziehung sei zu Ende. Dafür verfluchte er still seinen Vater und Großvater ein weiteres Mal.

»Wieso ist dein Haar so schnell gewachsen?«, fragte er, als er mit seinem Teller auf dem Bett saß.

Rhapsody nahm einen weiteren Schluck und senkte dann das Glas. »Eigentlich ist es gar nicht schnell gewachsen«, sagte sie. Ihr Blick verdunkelte sich. »Ich werde dir alles darüber berichten, aber es hat mit einer anderen Sache zu tun, über die ich mit dir reden muss. Ich weiß nicht, ob es ein Gespräch nach deinem Geschmack ist. Falls du noch ein wenig Ruhe haben willst, sollten wir etwas warten. Wenn wir es hinter uns haben, muss ich gehen. Morgen unternehme ich mit deinem Vater eine kleine Reise.«

Ashes Herz klopfte schneller. »Morgen? Du begleitest ihn morgen?«

»Ja«, erwiderte sie. »Llauron und ich haben uns auf der Hochzeit getroffen. Wir reisen den Cymrerweg entlang zu den Orten, wo die Erste Flotte an Land gegangen ist. Das sollte sehr aufschlussreich sein.«

Ashes Appetit verschwand. »Das ist zu schnell«, sagte er und stellte den Teller auf den Tisch.

»Du bist noch nicht in der Verfassung, mit Llauron über Land zu reisen, Rhapsody. Du hast erst vor kurzem Jo verloren. Du trauerst und bist ernsthaft verwundet worden. Du solltest einige Zeit in Elysian verbringen und dich auskurieren.«

Rhapsody lächelte und fuhr mit dem Finger am Rand ihres Weinglases entlang. Ein leiser, melodischer Ton erklang. Sie begleitete ihn mit ihrem Gesang, einem Lied ohne Worte, und schickte ihn nach ihrem Willen durch den Raum wie einen Diener. Einen Moment später verschwand er. Sie trank den Rest des Weines und stellte das Glas neben seines.

»Ich bin auskuriert, Ashe«, sagte sie sanft und sah ihm in die Augen. »Es ist schon etwa sieben Jahre her.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Ashe. Sein Gesicht verlor jede Farbe. »Wo bist du gewesen, Rhapsody?«

Sie stand auf, kam zum Bett und setzte sich neben ihn. »Ich habe Fürst und Fürstin Rowan besucht«, sagte sie und hielt dabei seinem Blick stand. »Wie du weißt, vergeht dort die Zeit anders als hier. Aus diesem Grund ist mein Haar so lang. Während ich dort war, habe ich Jo gesehen mehrere Male sogar, besonders dann, wenn ich unter den Augen der Fürstin geschlafen habe. Sie ist jetzt glücklich, Ashe, und sie hat mir vergeben. Beim Gedanken an sie habe ich keine Schmerzen mehr, auch wenn ich sie noch vermisse. Ich glaube, ich werde eines Tages bei ihr sein. Fürst Rowan hat mir versprochen, dass er mich holt, wenn er kann.«

Ashe bekämpfte den Drang, sich zu übergeben. »Du bist zu den Rowans gegangen und hast sie tatsächlich gefunden? Gute Götter, Aria, ich hatte keine Ahnung, dass dir die Sache mit Jo so zugesetzt hat. Gewöhnlich nehmen die Rowans keine Gäste auf, es sei denn, es geht um Leben und Tod.«

»Ich weiß«, sagte sie und sah weg. »Aber ich bin nicht wegen Jo oder einer eigenen Krankheit dorthin gegangen. Ich hatte einen anderen Grund. Bevor ich dir davon erzähle, will ich dich fragen, ob du noch an mich glaubst. Ich meine, glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich dich nicht anlüge?«

»Völlig.«

»Das freut mich«, sagte sie und sah ihn wieder an. »Dann musst du mir glauben, wenn ich dir sage, dass sich die Probleme gelöst haben und alles gut werden wird.«

Ashe erzitterte. »Rhapsody, du machst mir Angst. Wovon redest du? Sag es mir, bevor ich einen Herzschlag bekomme.«

Rhapsody ergriff seine Hände, holte tief Luft und sagte mit glänzenden Augen: »Ich habe zehn neue Enkel. Sie sind alle unterschiedlicher Abstammung und nicht gleichaltrig, einschließlich eines Lirin-Kindes, das ich selbst auf die Welt geholt habe. Seine Mutter ist bei der Geburt gestorben.« Sie wartete darauf, dass er ihre Worte in sich aufnahm.

Der Ausdruck auf Ashes Gesicht wandelte sich von Furcht zu Erleichterung. »Bei der Geburt? Die Mutter ist gestorben, aber das Kind lebt? Wie in Manwyns Prophezeiung?«

»Ja.«

Nun atmete Ashe wieder regelmäßig. »Es tut mir sehr Leid, das zu hören«, sagte er und streichelte ihr geistesabwesend die Wange.

»Das war noch nicht der schlimme Teil, Ashe.«

»Was kommt denn noch?«

Rhapsody senkte den Blick. »Diese Kinder haben alle denselben Vater. Sie sind ausnahmslos Nachkommen des F’dor.«

Ashe hörte zu, verstand aber nicht. Auch nach einem Moment des Nachdenkens begriff er noch immer nichts. »Das ist unmöglich. Die Prophezeiung hat gesagt, dass der Dämon nicht den Körper von jemandem bewohnen kann, der Kinder gezeugt oder geboren hat oder dazu in der Lage wäre.«

Rhapsody seufzte und fuhr fort: »Das alles sind Kinder aus Vergewaltigungen, Ashe. Der F’dor hat die Mütter durch die Hilfe des Rakshas geschwängert. Das Blut des Rakshas war sein eigenes, und daher sind es auch seine Nachkommen. Er hat einen Weg gefunden, die Prophezeiung zu umgehen.«

Ashe starrte sie weiter an. Rhapsody spürte ein Summen; es war eine Schwingung, die sie ängstigte; es steckte in den Wänden des Zimmers und in der Luft. Die Sängerin wusste, dass nun der Drache zum Vorschein kam. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und versuchte ihn dazu zu bringen, ihr in die Augen zu sehen.

»Hör mir zu, Gwydion ap Llauron«, befahl sie und setzte ihre Macht als Benennerin ein. Das Summen wurde nicht mehr stärker, blieb aber in der Luft hängen, als sein Gesicht wieder Farbe bekam und das Feuer in die Augen zurückkehrte. »Es mag schrecklich klingen, aber eigentlich ist es sehr gut. Die Kinder haben unsterbliche Seelen, jedes Einzelne von ihnen, weil der Rakshas ein wenig von dir hatte. Ohne dich wären sie rein dämonisch gewesen. Aber deinetwegen werden sie zur Vernichtung des Rakshas beitragen, denn aus ihrem Blut wurde der dämonische Anteil geschieden, mit dem Achmed den F’dor aufspüren kann.«

Ihre Worte kämpften im tiefsten, dunkelsten Teil seiner Seele, der früher einmal die Kraftquelle gewesen war, welche in der eiskalten Gestalt des Rakshas Form angenommen hatte. Die Erinnerung an die Ereignisse, unter denen diese Abscheulichkeit erschaffen worden war, kehrte wie eine Flutwelle zurück; es war eine Reihe so grausamer Taten gewesen, die man nur als Morde bezeichnen konnte. Jede einzelne Scheußlichkeit erfüllte gleichzeitig seinen Geist mit Geschrei und dem Lärm seines eigenen kranken Lachens. Ashe verspürte das Grauen so stark, als beobachtete er die ganzen Vorkommnisse noch einmal aus nächster Nähe. Er entwand sich dem Griff ihrer Hände und schrie auf. Es war ein Brüllen wie ein Erdbeben. Kleine Dinge flogen von dem Nachttisch und der Kommode, und der Korb fiel vom Tisch; sein Inhalt ergoss sich auf den Boden.

Als der Raum unter ihnen und um sie herum erzitterte, warf Rhapsody Ashe die Arme um den Hals und hielt ihn so fest wie möglich. Wellen aus Kraft und Schmerz wurden nun deutlich und umwirbelten die beiden rot und zornig. Sie hing an ihm und fürchtete, sie würde ihn an den Abgrund verlieren, der sich über ihnen bildete. Er klammerte sich an sie, versuchte sie abzuschütteln, doch in seiner Trauer und Wut zerkratzte er ihr nur das Gesicht. Rhapsody blickte über ihre Köpfe in die wirbelnde Finsternis und erbebte. Das Dunkel kam näher und wollte sie gemeinsam in das Vergessen saugen. Sie versuchte, wieder Blickkontakt mit Ashe herzustellen.

»Gwydion! Gwydion ap Llauron, hör mir zu.« Ihre Stimme klang ruhig und stark und schwang im Einklang mit der alten Macht der Musik in ihrer Seele. »Lass los. Lass los.«

Er sah ihr in die Augen; die vertikalen Schlitze seiner Pupillen waren so dünn wie ein Flüstern. Sein Name würde ihn einen Moment lang im Bann halten, dann wollte sie ihn wieder seinem Zorn überlassen. Rhapsody konzentrierte sich darauf, die Schwingungen aufrechtzuerhalten, damit er ihr weiter zuhörte.

»Ich liebe dich«, sagte sie und gebrauchte dabei die Macht des Wahrsprechens. »Ich liebe dich aus ganzer Seele, Gwydion ap Llauron. Ich würde dich nicht belügen, und ich sage dir wahrhaftig, dass alles so richtig ist, wie es ist, auch wenn es dir jetzt Schmerz bereitet. Daraus wird Gutes erwachsen. Bitte, bitte glaube mir.«

Ashe wich ihrem Blick nicht aus, doch sein Gesicht verwandelte sich langsam in das eines Reptils. Er erzitterte unter dem Innersten seines Wesens. Rhapsody wusste, dass der Drache sprungbereit und wütend war, doch was ihn anstachelte, lag jenseits ihres Verstehens. Sie spürte, wie er ihr entglitt, und fasste ihn fester, weil sie versuchen wollte, die Verwandlung nicht geschehen zu lassen.

Es war ein Fehler. Ein durchdringender Schrei quoll aus seinem Mund, der in Raserei weit offen stand, und mit einer Kraft, die sie nie zuvor an ihm bemerkt hatte, machte er sich von ihr los. Er zuckte vor ihr zurück, wand sich heftig und versuchte zu fliehen. Die Gewalt seines Fluchtversuchs schleuderte Rhapsody durch den Raum und gegen die Wand. Sie segelte mit unglaublicher Gewalt durch die Luft, schlug mit einem ekelhaft dumpfen Geräusch gegen die Mauer und sank zu Boden. Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, verfluchte sie ihre Dummheit und betete darum, dass Ashe nicht lostoben und das Land in Schutt und Asche legen würde.

Das Entsetzen über ihren Aufprall bewirkte, dass Ashe inne hielt. Als er sah, was er getan hatte, wurde er ruhiger. Der Drache, der jetzt wieder unter Kontrolle war, erkannte mit Schrecken, dass sein Schatz schlaff auf dem Boden lag und sich nicht mehr bewegte. Die menschliche Seele in ihm geriet in Panik und erkämpfte sich die Vorherrschaft. Er rannte zu ihr und nahm sie zitternd vor Angst in die Arme.

Die wirbelnde Kraft, die den Raum noch einen Augenblick zuvor zerrissen hatte, fiel zusammen wie eine Schneeflocke und sank schimmernd zu Boden, während Ashe Rhapsody auf das Bett legte. Seine Hände bebten vor Sorge. Er ging zu dem Krug auf dem Nachttisch und bespritzte ihr Gesicht mit Wasser, aber es erfolgte keine Reaktion.

Er blieb neben ihr, wurde immer besorgter, streichelte ihr Gesicht und flehte sie an aufzuwachen. Nach einer Zeitspanne, die ihm wie Stunden erschien, jammerte und ächzte sie endlich.

»Rhapsody? Rhapsody, bitte sag etwas. Bitte.«

Sie öffnete ein Auge und sah ihn benommen an.

»Ist dein Wutanfall vorbei?«, fragte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht.

Ashe brach in Tränen aus, die er bisher nicht zu vergießen gewagt hatte. Er beugte den Kopf über sie und weinte, wobei er das Gesicht gegen ihren Bauch drückte.

Rhapsody strich ihm fahrig mit der Hand über den Kopf.

»Ashe«, sagte sie sanft, aber nachdrücklich. »Bitte hör auf damit. Es geht mir gut, und ich verstehe, dass es nicht deine Schuld ist. Außerdem machst du meine Kopfschmerzen nur noch schlimmer und ruinierst mein Kleid.«

»Es tut mir Leid. 0 Götter, es tut mir so Leid ...«

»Nicht«, sagte sie mit etwas stärkerer Stimme. »Bitte nicht. Das ist nicht nötig. Ich wusste, dass es geschehen würde... das konntest du nicht ertragen. Ich war darauf vorbereitet. Aber ich hatte erwartet, du würdest ausschlagen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du mich gegen die Wand werfen könntest, weil du mir nicht wehtun wolltest. Ein taktischer Fehler. Es war mein Fehler, dass ich mich genau in diesem Moment an dich geklammert habe.«

»Dein Fehler?«, fragte er ungläubig. »Wie, im Namen des ...«

»Ashe«, unterbrach Rhapsody ihn; sie klang verärgert. »Wir sollten nicht mehr darüber reden. Bitte. Um meinetwillen. Es wird mir gleich besser gehen. Aus diesem Grund habe ich den Wein getrunken. Ich hatte diese Reaktion erwartet. Ich weiß, dass du mich nicht verletzen wolltest. Können wir das Thema damit beenden? Ich will nicht, dass wir unsere letzten gemeinsamen Minuten auf diese Weise verleben. Hilf mir auf.«

Vorsichtig schlang er die Arme um ihre Hüfte, half ihr aufzustehen und spürte dabei den Schaden, den er bei ihr angerichtet hatte. Sie hatte blaue Flecke, aber es war nichts gebrochen. Ihre Schulter schmerzte, doch sie blutete nicht.

Sie humpelte zum Sessel und griff nach dem Krug. Nachdem sie sich ein wenig Wasser ins Gesicht gespritzt und es mit einem Tuch, das er ihr reichte, abgewischt hatte, setzte sie sich, streckte die Hand nach ihm aus und zog ihn zu sich. Er kniete sich vor ihr auf den Boden, damit er auf Augenhöhe mit ihr war. Sein Gesicht war noch angstverzerrt.

»Ich bin in Ordnung«, versicherte sie ihm und streichelte ihm über das Gesicht. »Ich habe nur versucht, dir zu sagen, dass es den Kindern gut geht. Sie sind bei Oelendra, und wenn der F’dor tot ist, werde ich sie zu mir holen. Sie werden geliebt und umsorgt werden und eine weitaus bessere Zukunft haben als früher.«

»Und ihre Mütter? Was ist mit den Frauen geschehen?«

Rhapsody nahm seinen Kopf zwischen die Hände und küsste ihn auf die Stirn. »Die Mütter haben alle ihren Frieden gefunden«, sagte sie, weil sie ihn nicht aufregen, aber auch nicht anlügen wollte. »Aria ... das ist das Neugeborene ... ihre Mutter konnte sie noch halten, bevor sie gehen musste, und ich weiß, dass sie glücklich in das Licht eingegangen ist.«

»Du hast sie Aria genannt?« Sein Gesicht wurde sanfter. Sie sah, wie gerührt er war.

»Es ist wunderbar, so genannt zu werden«, sagte sie und lächelte schwach. »Es ist ein so schöner alter Name, der in dieser Welt verloren gehen würde, wenn niemand ihn gebraucht, und das wäre doch eine Schande, oder etwa nicht?«

Ashes Augen füllten sich erneut mit Tränen. »Ja. Ja, das stimmt.«

»Und wenn du dich fragst, wieso ich dir vergeben kann, dass du mich verletzt hast, findest du die Antwort in dem, was du vorhin gesagt hast. Du weißt, ich bin kein wehrloses Opfer, Ashe. Du hast bereits meine Wut geschmeckt und meine Faust gespürt. Aber du hast gegen mich gewütet, weil der Gedanke an die Schmerzen, die du sehen musstest, dich überwältigt hat. Du hast das Gefühl, daran beteiligt oder vielleicht sogar der Grund dafür gewesen zu sein. Ich habe diese Schmerzen ebenfalls gespürt, auch wenn ich im Gegensatz zu dir nicht dabei war. Es war so schrecklich, dass man es einfach nicht ertragen und dabei geistig gesund bleiben kann.

Du bist ein guter Mann, Ashe. Du musst dich für nichts entschuldigen, weil du nichts falsch gemacht hast. Auch du warst ein Opfer, falls du das vergessen hast. Trotzdem fühlst du dich noch verantwortlich, auch wenn du es nicht bist. Du wirst einen wunderbaren Fürsten der Cymrer abgeben, weil du der Erste mit einem Gewissen sein wirst und auf alle Fälle auch der Erste, der gewillt ist, auf sein Herz zu hören. Erinnerst du dich an das alte lirinsche Sprichwort? Ryle hira. So ist das Leben. Wir können nur versuchen, es besser zu machen; diese Kinder sind ein Teil des Versuchs. Vertrau mir bitte. Die Lage ist unter Kontrolle. Geh jetzt und sei glücklich. Tu, was du tun musst.«

Er sah sie mit einem Blick an, der ihr das Herz brach. »Ich verdiene dich nicht. Wirklich nicht.«

Sie lachte. »Ich weiß, aber nun hast du mich am Hals, mein Freund.« Sie stand langsam auf und ging zum Schrank, packte ihre Habseligkeiten zusammen und nahm den Mantel vom Ständer neben der Tür. Aus dem Alkoven holte sie ein Paar Stiefel und zog sie an; die Satinschuhe steckte sie in die Taschen. Sie ging zur Tür und öffnete sie gerade, als er sagte:

»Rhapsody?«

Sie drehte sich ein letztes Mal nach ihm um. »Ja?«

Seine Stimme war so leise, dass sie ihn kaum hören konnte. »Liebst du mich noch? Auch nach der ganzen Zeit bei den Rowans?«

Sie sah ihn an; ihre Augen schimmerten und leuchteten wie die Tiefen des Meeres. »Für immer.«

Er seufzte; ein Lächeln legte sich wieder über sein Gesicht. »Dann wird sich alles Weitere ergeben.«

»Das tut es sowieso«, meinte sie nur. »Weißt du, ob es draußen schneit? Vielleicht sollte ich etwas Wärmeres anziehen.«

Er drehte sich um, ging zum Fenster und schaute hinaus in den klaren, mit Sternen übersäten Nachthimmel. »Nein, ich glaube nicht...«

Als er sich wieder umdrehte, war sie verschwunden. Sie hatte ihm den Schmerz erspart, sie gehen zu sehen; selbst in ihrer letzten Handlung hatte sie an ihn gedacht.

Er schloss die Augen und wartete, bis die letzte feine Schwingung der geschlossenen Tür erstorben war. Dann sah er wieder aus dem Fenster in den Nachthimmel.

»Auf Wiedersehen, Emily«, sagte er.

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