Als Rhapsody die alte Bibliothek betrat, war sich Grunthor einen Augenblick lang sicher, dass sie ein Geist war.
Er widerstand dem dummen Drang, sie wild zu umarmen, und stieß stattdessen nur hörbar die Luft aus, schob den Teller mit dem Schinken beiseite, an dem er genascht hatte, und kam still zu ihr herüber. Im Abstand einer Armeslänge hielt er vor ihr inne.
»Willkommen daheim, Gräfin. Hatte schon gedacht, du hättest den Heimweg vergessen.«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war dünner geworden, seit sie vor vielen Monaten fortgegangen war. Tiefe Ringe lagen unter ihren Augen, doch die dramatischste Veränderung lag in den Augen selbst. Sie waren klar, wie sie immer gewesen waren, doch etwas lag in ihren Tiefen. In der Hand trug sie eine Kapuze aus ungefärbter Wolle wie jene, welche die filidischen Priester trugen. Sie hatte einen braunroten Fleck.
»Ich habe Blut von jemandem, der möglicherweise der Wirt des Dämons ist; vielleicht steht er auch nur unter seinem Bann«, sagte sie ohne weitere Umschweife. »Es tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat, es herzubringen.«
Achmed stand von dem Tisch neben dem Sprech- und Lauschapparat auf, dessen Pfeifen sich durch die Berge wanden und durch die er soeben neue Wehrverpflichtungen bekannt gemacht hatte. Bei ihren Worten summte seine Haut genau so stark wie damals, als sie ihm die Blutsteinphiole gegeben hatte. Sein Herz hämmerte. Der tiefe und feste Hass in seinem Blut loderte mit mörderischer Wut auf, doch er war nicht sicher, ob der Grund dafür seine Gier nach dem F’dor oder Rhapsodys unglaubliche Erschöpfung und Müdigkeit war, wo sie doch noch vor kurzem so gesund und zufrieden gewirkt hatte. Still verfluchte er sich dafür, dass er sie allein nach Bethania hatte gehen lassen.
»Was ist auf der Hochzeit geschehen?«, wollte er wissen.
»Tristan und Madeleine wurden verheiratet.«
»Verärgere mich nicht. Was hast du in Erfahrung gebracht?«
Rhapsody gab ihm die Kapuze, wandte sich um und wollte gehen. »Nichts über die Bolg oder irgendwelche Angriffspläne. Es tut mir Leid, dass ich in dieser Mission versagt habe. Aber es ist gut, wieder zu Hause zu sein. Übrigens sind die Leichname, die am Griwen hängen, ein entzückender Schmuck. Musstest du sie wirklich so drapieren, dass es aussieht, als würden sie miteinander Sodomie treiben?«
Der Sergeant und der König tauschten einen kurzen Blick. Während Achmed fort gewesen war, hatte Grunthor die Bolg-Soldaten dabei überrascht, wie sie den Haufen mit den aussortierten Waffen durchsucht hatten.
»Aber klar doch«, meinte Grunthor. »Hätte noch schlimmer kommen können. Wird’s auch werden, wenn ich mehr von denen fange. Wird ’ne richtige Party da oben aufm Gipfel werden.«
»Wunderbar. Wenn wir hier fertig sind, gehe ich zurück nach Elysian. Kommt zu mir, wenn es Zeit ist, den Dämon zu jagen.« Sie ging auf die Tür zu.
»Warte ’nen Augenblick, Herzchen«, sagte Grunthor streng. »Wo willst du hin? Du bist den ganzen Winter weg gewesen und willst jetzt einfach so wieder abhaun? Das glaub ich kaum.«
»Ich fürchte, ich bin im Augenblick keine gute Gesellschafterin, Grunthor«, antwortete sie mit gesenktem Blick. »Ich will nicht die Atmosphäre dämpfen und dir dein Abendessen verderben.«
»Noch einen Schritt, und du bist mein Abendessen«, erwiderte Grunthor. »Und ehrlich gesagt bist du nie ’ne gute Gesellschafterin beim Essen gewesen. Hast immer auf deinen feinen Lirin-Manieren bestanden, wie keine Knochen auf n Boden werfen und mit Besteck essen. Setz dich, Herzchen. Ich will aufm Tisch sitzen und dich ansehn und dann entscheiden, ob ich’n Dessert will oder nich.« Er breitete die Arme aus. Rhapsody drehte sich um und warf sich in seine mächtige Umarmung. Sie blieb lange in seinem Griff und lauschte dem hämmernden Schlag von Grunthors Herzen; es war ein Rhythmus, den sie aus der Zeit gut kannte, als sie während ihrer endlosen Reise auf seiner Brust geschlafen hatte. Plötzlich wurden ihre Ohren von dem Spruch erfüllt, den Gwylliam einst dem Eroberer Merithyn und allen Flüchtlingen aus Serendair gegeben hatte und mit dem sie die Leute in der neuen Welt begrüßen sollten.
Cyme we inne frið, fram the grip of deaþ to lif inne ðis smylte land.
Kommen wir in friedlicher Absicht, den Klauen des Todes entronnen, um in diesem schönen Land zu leben.
Sie schüttelte den Kopf über den seltsamen Zeitpunkt, zu dem ihr dieser Gedanke gekommen war. Wie all jene, welche die Insel verlassen hatten, waren auch sie, Grunthor und Achmed der Umklammerung des Todes entronnen. Ob dieses neue Land ein neues Leben für sie oder etwas Schlimmeres als das bereithielt, was sie zurückgelassen hatten, wusste sie noch immer nicht zu sagen.
Endlich ließ der Sergeant sie los, und sie setzte sich in einen Sessel auf der anderen Seite des Tisches, wobei sie den Teller mit dem Schinken zu sich zog. Kurz durchlief sie ein Zittern. Die Stelle, an der sie saß, war genau die, wo sie Gwylliams mumifizierten Leichnam gefunden hatten; seine leeren Augenhöhlen hatten zur hohen Decke gestarrt. Sie schüttelte den Gedanken ab und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Schinken.
Achmed hielt das Stück Tuch hoch, das sie mitgebracht hatte. »Wem gehört das?«
»Khaddyr.«
Der Bolg schnaubte. »Das bezweifle ich. Er ist ein zu großer Weichling. Aber man kann nie wissen.«
»Nein, man kann nie wissen. Wärest du so freundlich, mir zu erklären, was seit meiner Abreise in Ylorc geschehen ist?«, fragte sie, zog ein Messer aus dem Stiefel und schnitt ein Stück Schinken ab. »Draußen sieht es schrecklich aus; ich habe einen Moment lang geglaubt, ich wäre beim falschen Berg angekommen, als ich den aufgegebenen Außenposten beim Grivven gesehen habe. Ich hatte mir bereits Sorgen gemacht, bis ich an den Barrikaden vorbei war und die Musterung mitbekommen habe. Es müssen hundertmal so viele Wachen durch die Gänge patrouillieren wie bei meiner Abreise. Ich bin fünfmal angehalten worden. Woher kommen all diese Soldaten? Was ist mit den Schulen und der Landwirtschaft passiert?«
»Wir sind wieder zu Ungeheuern geworden.«
»Warum?«
Achmed lehnte sich zurück und sah zu dem großen Drachenfresko an der Decke.
»Ungeheuer werden den sich abzeichnenden Angriff besser überleben.«
Rhapsody hörte auf zu kauen. »Von welcher Seite?«
Der Bolg-König zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Aber du hast es selbst vorhergesehen.« Er fuhr mit der Hand durch einen Stapel mit Pergamenten und zog ein Stück Ölpapier hervor, das er ihr zuwarf. »Das habe ich von Llauron durch einen Vogelboten erhalten, während du weg warst.«
Rhapsody legte ihr Messer beiseite, nahm das Stück Papier und hielt es gegen das Feuer. Sie runzelte die Stirn, während sie die winzige Handschrift las. Schließlich warf sie das Papier wieder Achmed zu.
»Er war ein großer Lügner. So etwas habe ich nie zu ihm gesagt.«
Die Bolg tauschten einen raschen Blick. »War?«, fragte Achmed.
Rhapsody setzte sich in ihrem Sessel zurück und seufzte. »Habt ihr keine Nachrichten über Llauron von der Postkarawane erfahren?«
»Nein. Was ist passiert?«
»Khaddyr hat ihn nach dem Recht von Buda Kai herausgefordert, um seine Nachfolge anzutreten. Es war ein Kampf auf Leben und Tod, dessen Sieger der neue Fürbitter ist. Llauron hat verloren.«
»Interessant ausgedrückt«, bemerkte Achmed. »Ich habe bemerkt, dass du nicht die Worte ›er ist tot‹ gebraucht hast. Was also willst du damit wirklich sagen?«
Rhapsody schob den Rest ihres Abendessens fort und steckte das Messer wieder in den Stiefel.
»Ich bin für eine Weile in Elysian gewesen und habe versucht, mich von dem zu erholen, was ich gesehen habe. Ashe kam gestern dort an und hat mir gesagt, es sei nur ein Streich gewesen. Llauron habe die ganze Zeit gewusst, dass er herausgefordert werden würde, und war darauf vorbereitet. Es war für ihn eine Möglichkeit, das zu bekommen, was er haben wollte. Er hat es so aussehen lassen, als wäre er getötet worden. Ich finde es überraschend, dass er damit sogar Lark hinters Licht geführt hat, denn sie kennt sicherlich all die Kräuter, die er genommen haben muss, um einen todesähnlichen Zustand hervorzurufen. Es war schrecklich. Ich war sein Zeuge und Bote und bin danach sofort zu Herzog Stephen gegangen, weil er das nächste Staatsoberhaupt war. Ich habe ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass Llauron herausgefordert wurde und im Kampf starb. Nun ist Khaddyr der neue Fürbitter.« Sie hustete, als bei der Erinnerung bittere Galle in ihr aufstieg.
Grunthor schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum hat er das getan?«
»Weil er schon immer seine menschliche Gestalt hinter sich lassen und in eine elementare schlüpfen wollte in eine Drachengestalt, so wie es auch Ashe kann, zumindest teilweise, denn er trägt in der Brust einen Sternensplitter, den ihm Fürst und Fürstin Rowan eingesetzt haben. So wie Ashe vom Abgrund des Todes zurückgeholt wurde und dadurch sein ererbtes Drachenblut erwachte und in den Vordergrund trat, wollte auch Llauron dem drohenden Tod seiner sterblichen Hülle entgehen und in eine elementare Gestalt überwechseln, indem er sein Wyrmblut zum Leben erweckte. Er wusste auch, dass ich dem nie zugestimmt hätte, wenn mir klar gewesen wäre, dass er überleben würde. Er hat das Ganze geplant, seit er uns begegnet ist. Er hat mich benutzt, und ich habe ihm in die Hände gearbeitet.«
Grunthor gab ihr eine Flasche und sah zu, wie sie tiefe Schlucke daraus nahm. Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, rülpste dann laut auf Bolg-Art und erntete dafür ein Grinsen von beiden Männern. Schließlich lehnte sie sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch.
»Außerdem hoffte er, der F’dor könne kühner werden oder sich sogar zeigen, wenn er von seinem Tod erführe. Ich hasse es, dich enttäuschen zu müssen, aber alle Freudenfeste, die du vielleicht wegen der Nachricht seines Todes feiern möchtest, sind möglicherweise verfrüht. Mir ist klar, dass du ihn nicht gemocht hast.«
»In dieser Hinsicht hast du Recht«, sagte Achmed und machte es sich mit seiner eigenen Flasche gemütlich. »Aber das ist kaum ein Anlass zum Feiern. Der Gedanke, einen weiteren Wurm wie Elynsynos irgendwo dort draußen im Äther zu haben, erscheint mir nicht gerade wie eine Quelle des Trostes. Aber ich vermute, jetzt ist er eher ein Verbündeter als in menschlicher Gestalt.«
Rhapsody kniff die Augen zusammen. »Warum?«
Der Bolg-König hielt mit der behandschuhten Hand das Blutstein-Gefäß gegen die glitzernden Kristalllaternen der Bibliothek. »Da nun die Sorgen des Lebens von ihm genommen sind, bleiben ihm nur die Dinge, die für ihn am wichtigsten sind. Was sind seine beiden Hauptziele?«
»Den F’dor zu finden und zu töten sowie die Wiedervereinigung der Cymrer, wobei er am liebsten Ashe als Herrscher einsetzen würde.«
»Richtig. Endlich stimmen seine Ziele mit unseren überein, zumindest teilweise. Es ist mir völlig egal, wer Herrscher über die Cymrer wird; ich vermute, Ashe ist so gut wie jeder andere.«
Der Schock auf Rhapsodys Gesicht entlockte ihren beiden Freunden ein lautes Lachen. Nachdem sie die Fassung wieder erlangt hatte, setzte sie sich aufrecht hin.
»Wie lange war ich fort?«, fragte sie verwundert. »Wollt ihr etwa sagen, dass die Wiedervereinigung der Cymrer eine gute Sache ist?«
Achmed sah sie ernst an. »Das hängt davon ab, welche Gestalt sie annimmt. Die Länder, über die Gwylliam und Anwyn geherrscht haben, werden nie wieder unter einem einzigen Regenten stehen. Sorbold und Ylorc haben inzwischen ihre eigenen Führer, und es würde in einem Blutbad enden, wenn jemand versuchen sollte, sie zu entmachten. Roland ist in verschiedene Provinzen zersplittert. Gwynwald und Sepulvarta befinden sich mitten im Machtwechsel Letzteres sobald unser Freund, der Patriarch, des Lebens Weben hinter sich lässt. Auf dem gesamten Kontinent herrscht Chaos, und das macht ihn zu einem ausgezeichneten Jagdgebiet und Rückzugsort des F’dor. Je mehr Bündnisse geschmiedet werden, desto besser, wenigstens von meinem Standpunkt aus gesehen. Wenn die alten cymrischen Loyalitäten wiedererweckt werden, sind sie möglicherweise tief und altehrwürdig genug, um jede neue Bedrohung abzuwehren, die der F’dor für ein einzelnes Heer oder einen einzelnen Führer darstellen könnte.« Er trank aus der Flasche und stellte sie dann mit einem lauten Geräusch auf dem Tisch ab. »Außerdem ist Ashe ein so unfähiger Narr, dass er lediglich ein Strohmann sein wird und der Rest von uns sich selbst überlassen bleibt.«
»Du gehst davon aus, dass die Cymrer Ashe auf dem Konzil wählen?«, fragte Rhapsody. »Es gibt eine ganze Menge königlicher Häuser, einschließlich all der Herzöge von Roland, die ebenfalls einen Anspruch auf die Herrschaft haben, Gwylliams Sohn Anborn sowie Edwyn Griffyth gar nicht zu erwähnen, falls Letzterer noch lebt. Es könnte unangenehmer sein, einen Anführer zu wählen, als für sich zu bleiben.«
»Für sie vielleicht. Soweit es mich angeht, ist der größte Feind das Chaos.«
Rhapsody nickte. »Mit Tyrian ist es dasselbe. Es war nie Teil des cymrischen Reiches, aber die Lirin waren mit Anwyn und der Ersten Flotte verbündet, was schließlich ihren Untergang herbeiführte. Sie bilden ein zerfallenes Königreich. Die Leute aus Tyrian sind von den Lirin des Meeres, der Städte und sogar jenen in Manosse getrennt, mit denen sie früher einmal starke Bande hatten. Ich weiß nicht, ob man sie in ein cymrisches Bündnis aufnehmen kann, aber es wäre sicherlich einen Versuch wert. Vielleicht wünschen sie eine Verbindung zu ihrem eigenen Besten.« Sie warf einen Blick auf die dunklen Regale, die endlosen Reihen von Manuskripten, Schriftrollen und Elfenbeinröhren, die uralte Handschriften enthielten.
Achmed starrte sie an. »Du bist also auf dem Rückweg?«
»Bist doch hier zu Hause«, protestierte Grunthor.
Rhapsody seufzte. »Ich weiß es nicht mehr. Es war mein Plan, die Wiedervereinigung voranzutreiben. Ich habe mit Oelendra und Rial ausführlich darüber gesprochen. Aber da ich keine Benennerin mehr bin, weiß ich nicht, welche Fähigkeiten ich dazu mitbringe und ob ich überhaupt noch glaubwürdig bin. Ich bin dort eine Außenseiterin, ein Halbblut. Vielleicht ist es das Beste, wenn sie es unter sich selbst abmachen.«
»Du sagst, du bist keine Benennerin mehr?«, fragte Grunthor.
Sie lächelte ihn traurig an. »So ist das nun einmal. Ich habe gelogen, und es war eine Lüge in einem wesentlichen Bereich. Ich habe in einer wichtigen Angelegenheit etwas Falsches behauptet: in der Angelegenheit von Llaurons Leben und Tod. Ich habe meinen Eid verletzt. Alles, was ich von nun an sage, ist lediglich eine Behauptung, die jedermann aufstellen kann. Ohne die Kräfte, die ich aus dem Singen und Benennen gezogen habe, bin ich für die Lirin von nur geringem Nutzen. Meine Glaubwürdigkeit war bei ihnen mein größtes Kapital.«
»Hrekin«, spuckte Achmed aus. »Du bist die Iliachenva’ar. Man sollte doch glauben, dass dir das bei ihnen Glaubwürdigkeit verschafft. Hör endlich auf, dich deswegen zu grämen. Ich habe eine Weisheit für dich. Hör gut zu: Wahrheit ist subjektiv. Llauron hat dir das bewiesen. Was genau hast du zu Stephen gesagt?«
Rhapsody dachte kurz nach. »›Ich bringe Neuigkeiten. Eine Herausforderung nach dem Gesetz von Buda Kai wurde von dem filidischen Tanisten Khaddyr ausgesprochen. Der Kampf wurde bei zunehmendem Mond im Einklang mit den Gesetzen des Glaubens ausgetragen. Khaddyr hat gesiegt. Der Fürbitter Llauron ist tot. Nun trägt Khaddyr den Stab des Fürbitters.‹«
Achmed schlug entschieden mit der Hand auf den Tisch. »Da hast du es. Der Fürbitter Llauron ist eindeutig tot. Wenn du stattdessen seinen vollen Namen ausgesprochen hättest, wäre es eine andere Sache, aber niemand würde bestreiten, dass das, was du gesagt hast, der Wahrheit entspricht.« Er lehnte sich nach vorn, um seinen Worten größeren Nachdruck zu verleihen. »Und selbst wenn das jemand täte, liegst du falsch. Deine Macht als Benennerin kommt von deinen Studien und deiner Ausbildung, nicht aber von deinem Eid. Wenn dein Lehrer nicht vor der Beendigung deiner Ausbildung gestorben wäre, hätte er dir genau das gesagt. Der Eid, den du abgelegt hast, schützt deine Kunst vor falschem Gebrauch; er verleiht dir aber keine Macht. Du hast die Macht immer noch. Es ist nur dein Gefühl für Ehre und Pflicht, das dich davor schützt, sie zu missbrauchen.«
Die beiden Bolg sahen sie an, während sie wegschaute und überdachte, was er gesagt hatte; dann wechselten sie einen raschen Blick.
»Du kannst es doch ausprobieren, Herzchen«, meinte Grunthor kurz darauf. »Geh zu den Lirin und sieh zu, wie du ihnen helfen kannst. Für diesen besonderen Kampf hast du ’ne Menge Waffen in der Hinterhand.«
Schließlich hob Rhapsody den Blick und sah ihn an. »Willst du jetzt also doch, dass ich gehe? Nachdem ich endlich heimgekommen bin?«
Achmed zuckte die Achseln. »Geh oder bleib; es ist ganz allein dir überlassen. Aber ich glaube nicht, dass du schrecklich begeistert davon sein wirst, wie sich die Dinge hier entwickelt haben. Ich musste die Schule, die Hebammenschulung und die landwirtschaftlichen Programme für den Export auflösen.
Wir befinden uns mitten in den Kriegsvorbereitungen. Im ganzen Reich finden Aushebungen statt, sowohl von Männern als auch von Frauen. Die Kinder und Alten dienen als Versorgungstruppen. Die Schmieden arbeiten Tag und Nacht. Vermutlich war es während des Großen Krieges hier genauso; es war derselbe Wahnsinn, der zur Vernichtung der dhrakischen Kolonie führte. Ich bin mehr als glücklich, an einem friedlichen Bündnis teilzuhaben, aber ich bin auch an allen Fronten auf Krieg vorbereitet. Deine Vision hat mir klar gemacht, dass ich das sein muss. Ich werde dir das cymrische Hörn geben; dann ist es deine Entscheidung, ob du sie damit rufen willst oder nicht. Du kannst bleiben, wenn du willst, aber du musst begreifen, dass ich keinerlei Ablenkung von den Kriegsvorbereitungen dulde, nicht einmal von dir. An der Oberfläche und in den Augen der Welt scheinen wir tot zu sein. Es ist mein Wille, dieses Erscheinungsbild aufrechtzuerhalten, aber keinesfalls ihm zu entsprechen.« Er stand aus seinem Sessel auf und hielt den Blutsteinbehälter hoch.
»Vielen Dank dafür«, sagte er kühl. »Und jetzt entschuldige mich bitte. Ich muss ihn einsetzen.« Er schaute immer noch das kleine Blutbehältnis an und deutete auf Grunthor.
»Bring mir das Hörn.«
Sobald diese Worte ausgesprochen waren, erfüllten sie Rhapsodys Ohren und hallten leise in ihr wider. Die Worte wiederholten sich, dehnten sich, die Stimme wurde tiefer, wechselte ein wenig den Dialekt und wurde zu der Sprache, die man in dem alten Land gesprochen hatte. Ihr Essmesser fiel ihr aus der Hand, klapperte auf den Tisch und schlug auf den Steinboden.
Bring mir das Hörn.
Die Worte eines Königs, der nun mit der Phiole voller Blut vor ihr stand, sie anschaute, flüchtig wurde wie Rauch in einem unfühlbaren Wind, ersetzt durch dieselben Worte in einem tieferen Tonfall, erstickt vor Schmerz und Angst. Die Worte eines anderen Königs. Eines Königs, der dort gestorben war, wo sie nun saß.
Bring mir das Hörn.
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Rhapsody hielt sich am Tisch fest, während die Stimme in ihrem Geist tiefe Wurzeln schlug. Sie biss die Zähne zusammen, drehte den Kopf unter großen Anstrengungen Grunthor zu, der besorgt von seinem Stuhl aufgesprungen war, und schloss die Augen. Die Worte wanden sich durch ihren Geist und Mund.
Bring... mir das ... Hörn! Um der Götter willen ...
Beide Bolg fuhren unter dem Klang der Stimme zusammen. Es war eine Stimme, die sie nicht erkannten; die Stimme eines Mannes, der in Todesqualen keuchte. Schmerz zerfurchte Rhapsodys Stirn, und sie packte den Tisch noch fester.
Anborn! Bareth! Irgendjemand... o Götter...
Achmed streckte rasch die Hand aus und ergriff Grunthors Arm, als dieser auf Rhapsody zutreten wollte. »Lass sie«, sagte er knapp. Der Bolg-Riese schüttelte wütend seine Hand ab, tat aber nichts.
Nein, keuchte Rhapsody. Mein gutes Volk ... bitte ... helft mir. Bringt mir das Große Siegel.
Ich muss ... ich muss ...
Sogar Achmed bekam Angst, als Rhapsody sich auf den Rücken rollte, auf dem Tisch zum Liegen kam, mit glasigen Augen die Decke anstarrte und keuchte.
Das Siegel, sagte sie mit Gwylliams Stimme. Bitte ... das Große Siegel ... und Wasser, bitte, irgendjemand ... gebt mir Wasser.
Die Bolg sahen einander an. Grunthor packte den Stuhl vor ihm so fest, dass der hölzerne Rücken zerbrach. Wie oft er auch Zeuge dieser Visionen wurde, so waren sie doch etwas, das er nie ertragen konnte, ohne die Fassung zu verlieren.
Ein glasiger Ausdruck der Verwunderung legte sich über Rhapsodys Gesicht. Das kann nicht sein, sagte sie traurig. Sie verdrehte die Augen und starrte blind auf das gewölbte Firmament über ihr, in dem die kupfernen Schuppen des Drachenfreskos zwischen den kristallenen Sternen an der kobaltblauen Decke funkelten. Der Drache hielt die silbernen Klauen ausgestreckt.
Ah, Anwyn. Schließlich hast du mich doch besiegt, sagte Gwylliams Stimme sanft und belustigt. Welch eine Ironie des Schicksals deine Schwestern aufbieten. Ich sterbe hier, unter dem grausamen Bild des großen kupfernen Wurms, den ich an dieser Stelle habe anbringen lassen, um deine Mutter zu ehren.
Selbst in meinen letzten Augenblicken bin ich dazu gezwungen, dich zu sehen dieses Leben mit dem Bild von dir vor Augen zu verlassen.
Die Farbe wich aus Rhapsodys Wangen; ihre Haut verblasste von rosigem Rot zu totengleichem Elfenbein. Als ihr Atem immer rauer wurde, bekam Achmed Panik. Er legte die Phiole beiseite, schoss um den Tisch herum, gefolgt von Grunthor, zog sie herunter und schlug ihr mit der linken Hand ins Gesicht.
»Es reicht, Rhapsody«, sagte er ruhig. »Genug hör auf mit dieser Vision.«
Sie sah an ihm vorbei, als ob sie hinter den Schleier des Hoen schaute. Ihre Lippen waren blutleer, blass und ausgetrocknet.
Alles umsonst, sagte sie dumpf. Alles Licht floss aus ihren Augen. All meine... großen Taten, meine großen Träume. Umsonst. Hague, du hattest Recht. Du hattest Recht.
Achmed schüttelte sie sanft und versuchte, die Macht ihrer Vision zu brechen, doch sie hatte sich fest in Rhapsody verankert. Hinter ihm atmete Grunthor flach und versuchte, ruhig zu bleiben.
»Alles in Ordnung«, sagte Achmed zu dem Sergeanten. »Es muss bis zum Ende durchlaufen.«
»Das Ende ist der Tod«, knurrte Grunthor. »Na los, Herzchen, komm zu dir, sofort.«
Ich schaue in die Gruft der Unterwelt, flüsterte die raue Stimme. Aber es ist eine Gruft, die ... ich selbst erschaffen habe. Das Große ... Siegel. Anwyn ... vergib mir. Mein Volk ... vergib mir. Das Siegel...
»Rhapsody...«
Wir kommen in ... friedlicher Absicht ... den Klauen des Todes ... entronnen ... um in diesem ... schönen Land ...zu leben...
Mit einem heftigen Keuchen erschlaffte Rhapsody in Achmeds Armen. Sie wurde ganz still. Dann kniff sie die Augen zusammen, und ihr Blick wurde klarer. Als sie in die angstverzerrten Gesichter ihrer Freunde blickte, seufzte sie tief auf.
»Ich sollte mir wirklich eine andere Freizeitbeschäftigung zulegen«, sagte sie. Achmed schaute finster drein, schüttelte sie noch einmal kräftig durch, ließ sie dann los und nahm die Phiole in die Hand. »Was sollte dieser Unsinn über das Große Siegel bedeuten?«
Rhapsody schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Er hatte Angst; das ist alles, was ich gefühlt habe. Mit jedem Herzschlag floss das Blut aus ihm; er spürte, wie er stückweise starb. Welch eine schreckliche Empfindung. Ich hoffe, ich werde einmal rasch gehen.« Sie dachte über ihre Bitte nach, die sie an Fürst Rowan gerichtet hatte, und an sein Versprechen, ihr zu helfen, soweit es ihm möglich war. Diese Erinnerung beruhigte sie. »Jetzt kenne ich die letzten Worte des cymrischen Herrschers.«
Achmed nickte. »Sie könnten sich eines Tages als nützlich erweisen.«
Grunthor schloss sie in die Arme. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist mit dir?« Als sie nickte, sah er sie ernst an. »Na, das sollte dir so einiges über deinen Stand als Benennerin klar gemacht haben. Wünschte, du hättest Recht und’s war vorbei, aber nee, du willst mich wohl weiterhin mit diesen verdammten Anfällen zu Tode erschrecken.«
»Glaubst du, dass er mit dem Großen Siegel das königliche Wappen gemeint hat?«, fragte Rhapsody Achmed. »Wenn ja, welches ist es? Es gibt zwei in den Schlafgemächern: das Wappen des serenischen Königshauses, das sich auch auf den Rückseiten der Münzen in der alten Welt befunden hat, und das über Anwyns Bett der Drache am Rande der Welt.«
»Keine Ahnung«, erwiderte er und ging auf die Tür zu. »Ich habe jetzt Wichtigeres zu tun. Wenn du nach Tyrian gehen solltest, wünsche ich dir eine gute Reise. Gib Bescheid, wenn du den Rat einberufst. Wir behalten das Hörn hier, bis du zurückkommst. Falls du vorhast, hier zu bleiben, halt dich außer Sicht weite. Ich will, dass jeder, der den Berg einnehmen will, nichts als einen Kadaver, eine Hülle sieht. Wenn er närrisch genug ist, einen Angriff zu wagen, soll er die Freuden, die ihm bei der Entdeckung des Inneren blühen, bis zur Neige auskosten.«
Tief im Innern des Berges hatten die Bolg sorgfältig den Ankündigungen des Königs gelauscht und den Wechsel in den Einberufungen und anderen Befehlen bemerkt, die nun täglich zusammen mit anderen militärischen Anweisungen ergingen.
Als die in bolgischer Sprache erteilten Anweisungen beendet waren, begaben sie sich wieder an ihre Arbeit und beachteten nicht die fernen Gespräche, die in menschlicher Sprache durch die Korridore drangen. Es war eine Sprache, die sie nicht verstanden. König Achmed besaß die Macht, den Berg zum Reden zu bringen, doch er tat es nicht immer in ihrer Sprache. Die Bolg wussten nichts von den Sprachröhren oder dem Horchapparat. Sie nahmen an, der König sei die Stimme des Berges und dessen Ohren. Er hatte die Herrschaft über die Erde unter ihren Füßen und die sie umgebende Luft angetreten. Mit der Zeit hatten sie sich daran gewöhnt, von einem Gott beherrscht zu werden.
Deshalb hörten die meisten Bolg nicht weiter auf das Gespräch zwischen dem König, dem Sergeant-Major und der Ersten Frau, das im Lärm der Schmieden und marschierenden Füße unterging.
Doch die Finder lauschten ihm.
Jedes Mitglied der geheimen Gesellschaft, jeder Bolg, der von einem unerklärlichen inneren Drang auf die Suche nach Willum-Dingen mit dem Siegel darauf getrieben wurde, stand wie verzaubert da, als die Stimme zum ersten Mal seit mehr Generationen sprach, als sie zählen konnten. Wie ihre Vorväter kannten sie sie nur aus alten Erzählungen, doch sie spürten in ihren Seelen einen Widerhall, in ihrem Blut einen Befehl, bis in die Knochen tief, schmerzlich in seiner Beharrlichkeit, unverständlich und unwiderstehlich.
Bringt mir das Hörn.