70

Mit dem Wissen, dass Tyrian in guten Händen war, brach Rhapsody nach Nordosten zu den Bolg-Landen auf. Die Erde um sie herum reckte und streckte sich in der Erleichterung des kommenden Tauwetters; Büschel aus gefrorenem Gras und nackter Erde lugten hier und dort hervor. Die Bäume in den Wäldern und die Felder bereiteten sich darauf vor, winzige Knospen als Vorboten der neuen Blätter auszutreiben, die sich im Frühling entfalten würden, und die widerstandsfähigsten frühen Schneeglöckchen blühten bereits überall.

Rhapsody betrachtete diese Anzeichen nachdenklich. Sie bemühte sich, all das wahrzunehmen, was sie schon immer als schön empfunden hatte, und es in der Erinnerung zu speichern, denn vielleicht würde sie all das nie wieder sehen. Es jetzt zu sehen war nicht dasselbe wie damals, als sie sich daran so erfreut hatte. Es war eine freudlose Zeit. Ihr Bauch war zwar noch glatt und geschmeidig, aber er verkrampfte sich mit jedem Tag mehr, und das wenige Essen, das sie herunterbekam, blieb oft nicht im Magen. Außerdem waren ihre Alb träume gewalttätiger und eindringlicher denn je geworden. Sie hatte Visionen des Seligpreisers, der lachte, als der Rakshas sie wieder und wieder vergewaltigte und mit Ashes Stimme sprach, sich dann in ihr zusammenrollte und seine entsetzliche Wiedergeburt erwartete. Selbst die zahmeren Träume von Ashe und der Zeit mit ihm, von ihrer sanften, beruhigenden Liebe endeten immer mit seiner Verwandlung in das Geschöpf des F’dor. So sehr sie es auch versuchte, konnte sie doch den Albtraum, der sich an sie geheftet hatte, nicht abschütteln. Daher schlief sie nur gerade so lange, wie es für ihr Überleben nötig war. Sie wurde in ihrer Erscheinung und Rede abgehärmt und konnte manchmal keine zusammenhängenden Sätze mehr formen oder einfache Gedanken zu Ende denken. Rial war besorgt gewesen und hatte versucht, sie vom Alleinreisen abzuhalten. Oelendra hatte sich angeboten, sie zu begleiten, doch sie hatte abgelehnt und nur gesagt, bald werde sie wieder lange und gut schlafen. Vor ihrer Abreise hatte sie allen Leuten aus Tyrian, die ihr viel bedeuteten, Lebewohl gesagt:

Sylvia und den Dienern im Palast, Rial, den Bewohnern der Stadt Tyrian, den Soldaten und lirinschen Kindern, ihren adoptierten Enkeln und vor allem natürlich Oelendra. Ihre Lehrerin hatte sich aller gut gemeinten Ratschläge enthalten und mit ihr nur geschwiegen oder über belanglose Dinge geredet, ins Feuer geschaut und unter den Sternen gesessen. Die ältere Kriegerin hatte Rhapsodys Hand gehalten und Rhapsodys Gebete für sie gesungen, als ihr die Stimme versagt hatte. In der Nacht vor ihrer Abreise hatte Rhapsody die Tür zu ihren Gemächern in Newydd Dda geöffnet und davor die alte Frau angetroffen, wie sie ein Bündel im Arm gehalten hatte. Sie hatte es eilends in Rhapsodys Hände gedrückt und die Einladung, doch bitte hereinzukommen, abgelehnt.

»Ich will, dass du das bekommst, meine Liebe«, hatte sie als Antwort auf Rhapsodys fragenden Blick gesagt. »Es war ein Geschenk von Pendaris an mich, und es steckt mehr Liebe darin, als du dir vorstellen kannst. Ich hoffe, es wird dir genauso viel Trost bringen, wie es mir gebracht hat. Wir werden uns auf dem Konzil wieder sehen.« Rhapsody hatte den Mund aufgemacht, weil sie etwas hatte entgegnen wollen, doch bevor die Worte zwischen ihren Lippen hervorgedrungen waren, war Oelendra schon gegangen.

Rhapsody war zum Balkon ihres Zimmers getreten und hatte der Kriegerin nachgesehen, deren breite Schultern sich wie unter einem großen Gewicht gebeugt hatten. Dann hatte sie das Paket zum Bett getragen und es geöffnet. Darin hatte sich die rote Seidenrobe mit dem Aufgestickten Bild eines Drachens befunden, die Oelendra ihr in der ersten Nacht im Hause der Kriegerin überlassen hatte. Der Magen hatte sich ihr umgedreht; das Bild hatte sie an Ashe erinnert. Eilig hatte sie die Robe wieder zusammengepackt und sie vorsichtig außer Sichtweite in ihre Satteltasche gesteckt. Anborn hatte sie besucht, ihr nützliche Informationen über die verschiedenen cymrischen Häuser und ihre Anführer zuteil werden lassen und ihr erfrischende und grausam ehrliche Einblicke in die zu erwartenden Feindseligkeiten und Rivalitäten zwischen ihnen gewährt. Rhapsody hatte es wie immer angenehm gefunden, mit ihm zu reden. Als er gegangen war, hatte er sie tröstend in den Arm genommen und ihr einen herzlichen Lebewohlkuss gegeben. Dann war er einen Schritt zurückgetreten und hatte sie belustigt angesehen.

»Ich vermute, ich muss erst die Hochzeit abwarten, bevor ich mit dir ins Bett gehen kann.«

»Natürlich«, hatte sie kess geantwortet. »Das ist der einzige ehrenhafte Weg für mich. Ansonsten könntest du befürchten, dass ich dich nur benutze und dich als gebrochenen und verzweifelten Mann dann vor dem Altar verlasse. Ich weiß, dass dich der Schmerz verzehren würde.« Sein Gelächter hatte ihr noch lange, nachdem er sich von ihr in jener Nacht verabschiedet hatte, in den Ohren geklungen.

Als sie nun über die Felder Avonderres und des westlichen Navarne ritt, vertrieb sie die Gedanken an die Menschen, die sie liebte, aus ihrem Kopf. Der F’dor war tot, aber sie hatte mehr Angst denn je.

Nach einer Woche harten Reitens erreichte sie schließlich bei Sonnenuntergang jenen Ort, den sie gesucht hatte. Es war eine abgelegene Lichtung am Fuß der Hügel, die sie vor einem Jahr auf einer Wanderung um einen stillen See entdeckt hatte. Als sie die Höhle fand, spürte sie, wie der Wind auffrischte und angenehm durch ihre Haare blies.

»Willst du mich sehen?«, flüsterte sie.

»Ich will meine Freundin immer sehen«, ertönte die vielgestaltige Stimme warum und luftig.

»Komm herein, Schöne.«

»Ich komme möglicherweise mit einem Kind, und wenn es so ist, dann ist es von einem Dämon gezeugt«, flüsterte sie mit so leiser Stimme, dass niemand außer der Drachin sie hören konnte. Es war etwas, dem sie nun erst zum zweiten Mal Ausdruck verlieh. Sie würgte an den Worten, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Weine nicht, Schöne«, antwortete die harmonische Stimme. »Ich liebe dich.«

Oelendra zuckte beim Anblick von Ashes Gesicht zusammen. Er war offenbar im Palast gewesen und abgewiesen worden. »Es tut mir Leid, mein Lieber«, sagte sie sanft und öffnete die Tür ihres Hauses, um ihm Eintritt zu gewähren. »Sie ist fort. Komm herein und ruh dich eine Weile aus.«

Ashe wich zunächst ihrem Blick aus. »Nein, vielen Dank, Oelendra. Ich muss sie finden. Bitte sag mir, wo sie hingegangen ist, damit ich mich sofort wieder auf den Weg machen kann.«

»Komm herein«, sagte Oelendra befehlend in derselben Stimme, der sie sich bedient hatte, um Rhapsodys Geheimnis aus ihr herauszupressen. »Ich habe dol mwl auf dem Feuer; das ist ein Getränk, das Rhapsody seit ihrer Kindheit liebt. Vielleicht macht es dir das Herz ein wenig leichter.«

Ashe seufzte widerstrebend und zog seinen Kapuzenumhang aus; dann folgte er ihr in das Innere des Hauses. Er setzte sich in den Schaukelstuhl aus Weidengeflecht vor dem Feuer, während Oelendra ihm einen Becher mit dem dampfenden Getränk füllte.

»Du musst zur Küste gehen, Gwydion«, sagte sie, während sie ihm den dol mwl hinhielt. »Die Zweite Flotte wird bald als Antwort auf das Konzilhorn eintreffen. Als Oberhaupt des Hauses von Neuland ist es deine Pflicht, sie zu begrüßen und zum Großen Gerichtshof zu führen.«

Ashes verwirrende blaue Augen öffneten sich weit über dem heißen Dampf, der aus dem Becher strömte. »Sie beruft das Konzil ein?«

»Ja.« Oelendra betrachtete sein Gesicht. »Beunruhigt dich das?«

Er nahm einen tiefen Schluck und füllte den Mund mit dem müden Getränk. Als es ihm die Kehle hinunterrann, wärmte es wunderbar. »Nur ein bisschen.«

»Warum?«

Ashe schaute ins Feuer. Es brannte ruhig, ohne eigenen Willen, so anders als in Rhapsodys Nähe. »Weil ich erwarte, dass das Konzil viele Dinge in ihrem und unser aller Leben ändern wird. Mehr als alles andere auf der Welt will sie nur ein Zuhause im Wald finden und ihre Tage in Ruhe verbringen. Wenn ich ihr etwas schenken könnte, wäre es genau das. Aber es wird niemals so sein. Sobald die Cymrer sie sehen, werden sie Rhapsody zum Idol machen. Man wird sie andauernd belästigen und stören. Ich will sie mit niemandem teilen, Oelendra; sie verdienen Rhapsody nicht mehr als ich. Wenn es um Aufmerksamkeit und Liebe geht, werde ich ganz am Ende stehen.«

Oelendra nickte wissend. »Es ist bestimmt jetzt sehr schwierig für dich.«

»Schwierig?« Sein Lachen war beinahe ein Bellen. »Ich fürchte, das beschreibt es nicht einmal annähernd. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, mir jemandem wie ihr verheiratet zu sein, und sie weiß es nicht einmal? Sie hasst mich, Oelendra.« Er klang eher verängstigt als verbittert.

»Nein, Gwydion, das tut sie nicht. Sie liebt dich. Sie steht unter großem Druck und kennt die Wahrheit nicht.«

Ashe nickte und nahm noch einen Schluck, von dem er hoffte, er werde den würgenden Knoten in seinem Hals lösen. »Es ist wahrscheinlich nicht gerade hilfreich für sie, dass jeder Dummkopf auf der Welt sie gnadenlos verfolgt, bedrängt und wie ein Hirsch in der Brunftzeit gegen alle anderen kämpft.«

»Zweifellos«, sagte Oelendra bedeutsam. »Bist du einer von ihnen?«

Ashe setzte den Becher mit einer heftigen Bewegung ab. »Natürlich. Ich habe nie verleugnet, dass ich ein Dummkopf bin. Sie ist nach Ylorc zurückgegangen. Verdammt, ich komme gerade von dort. Wenigstens habe ich alle Abkürzungen gefunden, sodass der Rückweg schneller sein wird.«

»Hör mir zu, Gwydion«, sagte Oelendra streng. »Geh nicht nach Ylorc; geh zur Küste. Sie will dich jetzt nicht sehen. Warte, bis das Konzil vorbei ist. Dann wird sich alles geklärt haben, und du weißt, woran du bist.«

Ashe stand auf. »Du verlangst von mir, dass ich Monate warten soll, bis ich meine eigene Frau sehe? Oelendra, ich fürchte, du verstehst mich nicht. Ich habe mich zwanzig Jahre lang vor der Welt verborgen und immer befürchten müssen, dass mir der nächste Augenblick Tod und Verdammnis bringt. Es war eine unbeschreibliche Folter. Aber ich würde mich lieber sofort wieder in diesem Zustand befinden, als die gegenwärtigen Qualen noch länger auszuhalten. Wenn sie endlich einverstanden sein wird, mich zu sehen, wird sie bereits Anborn oder Achmed geheiratet haben oder was die Götter verhüten mögen gegen ihren Willen von einem ihrer Freier entführt worden sein.«

»Das bezweifle ich«, warf Oelendra ein.

Er stand bereits neben dem Kleiderständer und nahm seinen Mantel vom Haken. »Vielleicht nicht; es ist mir egal. Ich kann nicht mehr. Ich könnte dieses Geheimnis für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen, wenn ich der Meinung wäre, dass es besser so ist, aber das stimmt nicht. Eines Tages wird sie herausfinden, was wir uns versprochen haben. Wenn sie dann schon einen anderen geheiratet hat, wird es sie umbringen. Es wird wie bei Llauron sein, nur noch viel schlimmer.«

Die alte Krieger in seufzte. »Jetzt weißt du, warum sie Lügen so hasst, Gwydion. Ich biete dir meinen Rat noch einmal an, und es liegt an dir, ob du ihn annimmst. Lass es. Warte noch ein wenig. Was sind ein paar Monate für einen Mann, der praktisch unsterblich ist?«

»Es ist ganz einfach unerträglich«, erwiderte Ashe, während er die Tür öffnete. »Vielen Dank, Oelendra. Ich werde sie von dir grüßen.« Er verbeugte sich höflich vor ihr und zog die Tür leise hinter sich zu.

Oelendra sah die geschlossene Tür an und seufzte traurig»Ich fürchte, dazu wirst du nicht einmal kommen.«

In der Stille eines Traumes trafen sie sich an einem nebligen, unwirklichen Ort: Rhapsody und die große Drachin Elynsynos. Alle Geräusche, alle Schwingungen, alles Weben der Welt war zu Stille verstummt, erstickt von der Macht des Wyrm über die Elemente. Rhapsody konnte vor lauter weißen Wolken fast nichts erkennen, konnte kaum die großen, leuchtenden Augen sehen, kaum das prismatische Glitzern auffangen, das durch die dunstige Magie zu ihr drang. Sie erkannte undeutlich, dass sie durch ihre geschlossenen, durchscheinenden Augenlider hindurch auf den sicheren Ort hinter ihren quälenden Nachtmahren blickte, den die Drachin für sie zwischen der Welt des Traumes und der Wirklichkeit erschaffen hatte. Und an diesem Ort erzählte sie der Drachin von ihren größten Sorgen.

Was ist, wenn ich versage?

Die warmen, schillernden Augen des Wyrm verschwanden, als Elynsynos zwinkerte.

Das ist möglich.

Trotz dieser Antwort verspürte Rhapsody keine Angst und keine Panik im Herzen. Es war, als hätte die Drachin auch alle Gefühle von diesem ätherischen Ort verbannt und nur solche Worte zurückgelassen, die zwar auf einer geschriebenen Seite stehen mochten, aber im Herzen keinen Widerhall fanden.

Ich habe den Tod einer Welt überlebt. So etwas will ich nicht noch einmal mitmachen.

Ich weiß. Durch den Dunst bewegte sich das Gesicht der Drachin fort, wurde ferner. Rhapsody versuchte, an den wogenden Wolken vorbeizuschauen, doch es verblieb nur ein schwacher Umriss der Drachin.

Ein Versagen könnte das Ende der Zeit nach sich ziehen, flüsterte sie wortlos. Ich darf nicht einmal daran denken.

Die Wärme in den fernen Augen strahlte durch den Nebel. Du befindest dich an dem Ort, wo der Beginn der Zeit sein Ende hat. Und das Ende der Zeit wird auch seinen Anfang hier nehmen. Du kannst es nicht ändern, auch wenn du in der Lage bist, es zu verzögern.

Warum? Warum ich? Warum wurde mir diese erdrückende Verantwortung übertragen?

Die verschwommenen Umrisse der Drachin lösten sich auf. Von ihrer Stimme verblieb nur ein Wispern im Nebel.

Weil du nicht allein bist.

In jener Nacht schlief Rhapsody tief und traumlos in Elynsynos’ Armbeuge. Sie erwachte viele Stunden später erfrischt, aber noch immer gequält. Der große Wyrm betrachtete sie mit Mitgefühl und Besorgnis.

»Etwas Böses wächst in dir, meine Schöne«, sagte die Drachin ernst und richtete den vielfarbigen Blick auf Rhapsodys verweintes Gesicht. »Genau da.« Die Klaue fuhr ihr sanft über den Bauch. »Es fühlt sich falsch und unnatürlich an, aber mehr kann ich dir darüber nicht sagen.«

Rhapsody nickte. »Ich weiß.« Sie kämpfte sich auf die Beine. »Ich gehe jetzt.«

Die Drachin schüttelte den Kopf. Dabei flogen Sandwolken durch die Höhle und stachen in Rhapsodys wunde Augen. »Nein. Bleib bei mir. Leiste mir Gesellschaft. Was in dir wächst, ist gleichgültig. Ich will dir helfen, was auch immer geschehen wird.«

Die Sängerin lächelte. »Ich weiß. Ich weiß, dass du das tun wirst. Du hast es schon getan. So viel Schlaf wie in der letzten Nacht habe ich seit vielen Wochen nicht mehr gehabt.«

»Es ist seltsam, etwas Wachsendes in sich zu tragen, das nicht von der eigenen Art ist«, sagte Elynsynos und zog Rhapsody wieder in ihre Armbeuge. »Als ich Merithyns Kinder getragen habe, war das eine traurige Zeit für mich. Der Leib, in dem ich gefangen war, war so klein wie deiner, und die Kinder bewegten sich wie Maulwürfe in der Erde. Sie haben mich getreten und gestoßen und wollten herauskommen. Es war schrecklich. Ich war so einsam und habe jeden Tag gewartet, Ausschau gehalten und mir gewünscht, er wäre bei mir. Er ist nie zurückgekommen, meine Schöne. Er wusste nicht einmal, dass er mich geschwängert hatte.«

Rhapsody streichelte den schuppigen Unterarm. »Es muss schrecklich gewesen sein. Es tut mir so Leid für dich, Elynsynos. Ich wünschte, ich hätte bei dir sein können. Die Lirin haben ein Lied, das sie den Frauen in den Geburtswehen vorsingen, um ihnen die Schmerzen zu nehmen.« Ihre Augen umwölkten sich bei der Erinnerung an Arias Geburt. Sie schüttelte den Kopf und vertrieb das grässliche Bild aus ihren Gedanken. Die Vorstellung, dass ihr eigenes Schicksal nun mit jener Erfahrung untrennbar verbunden sein könnte, empfand sie als unerträglich.

»Aber wer wird für dich singen, meine Schöne?«

Sie zwang die Tränen zurück. »Niemand«, sagte sie leise. »Niemand wird es tun.«

»Aus diesem Grund ist es besser, sich mit einem Drachen zu paaren«, meinte Elynsynos klug.

»Dann kannst du vielleicht Eier legen wie normale Tiere. Es tut etwas weher, wenn sie herauskommen, aber es ist schneller vorbei.« Rhapsody lachte.

»Ich werde es mir merken«, sagte sie und blinzelte rasch. »Das werde ich auf alle Fälle beim nächsten Mal tun, falls ich überlebe. Schließlich habe ich mir einen Drachen als Gemahl ausgesucht, und er ist mit mir einverstanden.« Anborns Gesicht tauchte vor ihren rasch trocknenden Augen auf.

Die schillernden Drachenaugen zwinkerten. »Gut. Dann werde ich vielleicht bald Kinder meiner eigenen Abstammungslinie hier haben, mit denen ich spielen kann.«

»Vielleicht.« Rhapsody schaute fort. Sie sagte der Drachin nichts über ihre Vereinbarung mit Achmed.

Rhapsody blieb einige Tage bei Elynsynos. Sie schlief friedlich und gewann in dem magischen Nest ihre Stärke zurück. Sie sang der Drachin die Meereslieder vor, welche die Lirin ihr beigebracht hatten, und ertrank beinahe in Elynsynos’ wehmütigen Tränen. Sie zeigte ihr auch die Krone. Elynsynos war von dem Diadem begeistert und versuchte, die wirbelnden Sterne zu fangen, die Rhapsodys Kopf umkreisten. Sie war bezaubert wie ein kleines Kind von einem neuen Spielzeug.

Die Drachin war erfreut, dass Rhapsody das cymrische Konzil einberufen wollte, und verbrachte viele Stunden damit, ihr Geschichten über die frühen Tage der Ersten Flotte zu erzählen. In jener Zeit hatte sie großen Gefallen an den Fertigkeiten der Cymrer gefunden, auch wenn sie sehr um Merithyn getrauert hatte, von dem sie oft sprach.

Rhapsody lächelte jedes Mal, wenn Elynsynos dieselbe Geschichte wiederholte. Merithyns und Elynsynos’ Zeit als Liebende war kurz gewesen und die Lebensspanne eines Drachen lang. Daher gab es nur eine begrenzte Anzahl an Geschichten, von denen jede ein gut gehüteter Schatz war. Immer wenn die prismatischen Augen bei der Erinnerung einen sanften Glanz bekamen, dachte Rhapsody an Anborns zynische Bemerkungen über seine Großeltern. Offenbar hatte er Elynsynos nicht gut gekannt. Wie auch immer ihre Gefühlswelt beschaffen sein mochte, war es doch unmöglich, die tiefe Liebe zu übersehen, die diese Drachin für ihren verschwundenen Seemann empfunden hatte. Ihre Heftigkeit bereitete Rhapsody Herzschmerzen.

Die Schwefelhitze des Drachenatems stachelte ihre Erinnerungen an, und in ihrem Kopf erhob sich das Bild einer anderen Nacht vor langer Zeit, die sie im Schatten eines knisternden Lagerfeuers verbracht hatte.

Deshalb habe ich gesagt, du könntest ein Problem haben, hatte Ashe gemeint. Er war in den Nebelfalten seines Umhangs verborgen gewesen und hatte sie eindringlich über das Feuer hinweg angesehen. Wenn du eine Cymrerin einer späteren Generation bist, dann wirst du sehr lange zu leben haben und dich zweifellos dem. gegenüber sehen, was auch die anderen verkraften müssen: der Aussicht zuzusehen, wie deine Liebe alt wird und stirbt, in einem Zeitraum, der dir vorkommt wie ein Augenblick. Und wenn du eine Cymrerin der Ersten Generation bist, dann ist es noch viel schlimmer, denn wenn du nicht getötet wirst, lebst du ewig. Stell dir vor, wie es ist, immer wieder jemanden zu verlieren, der dir nahe ist: deine Geliebten, deinen Mann, deine Kinder...

Hör auf.

Als ihr Ashes Worte über die Unsterblichkeit in den Ohren klangen, fragte sich Rhapsody, ob es ihr wohl auch bestimmt war, dieselben glücklichen Momente mit ihm immer wieder durchleben zu dürfen. Doch dann erinnerte sie sich an die Worte des Dämons.

Du wirst eine wunderbare Mutter abgeben, Rhapsody, wenigstens während sich das Kind in deinem Leib befindet. Es ist eine Schande, dass du die Geburt nicht überleben wirst.

Vielleicht war die Einsamkeit der Unsterblichen doch keine so schreckliche Sache.

Ich bezweifle, dass ich lange genug lebe, um das Ende der Ereignisse mitzubekommen, und unsterblich bin ich erst gar nicht.

Achmeds Stimme sprach zu ihr durch die Dunkelheit ihrer Erinnerungen.

Er ist verdammt, genau wie die verseuchte Erde. Sie taumelt durch den Äther auf ein Ziel zu, das nicht einmal die Götter kennen, und trägt tief in ihrem Herzen das erste und letzte Schlafende Kind die Last, deren Geburt das Ende ihrer Mutter sein kann.

Genau wie ich, dachte sie mürrisch.

Als Rhapsody schließlich das Nest im verlorenen Meer verließ, um auf ihre letzte Mission zu gehen und die Menschen dieses neuen Landes zu vereinigen, weinte Elynsynos.

Nach einigen Wochen wilder, gedankenloser Reise traf die Sonne Rhapsody an, wie sie auf dem Kamm des cwm saß. Der Große Gerichtshof des cymrischen Konzils war früher ein Gletschersee gewesen, gebildet von gefrierendem Wasser und tauendem Eis an den Hängen der Zahnfelsen, als diese noch jung waren. Der Gletscher hatte die Senke des Gerichtshofes als Gefäß für die schmelzenden Tränen der großen Mauer aus kriechendem Eis ausgehöhlt. Als sich das Land erwärmte, war der See entweder in die Erde gesunken oder hatte sein Wasser in den warmen Himmel geschickt und das Amphitheater in den Bergen zurückgelassen. Es war ein Ort tiefer Kraft. Rhapsody spürte sie, als sie auf dem Kamm saß, in die Senke schaute und zusah, wie die Morgendämmerung den Gerichtshof mit rosigem Licht erfüllte.

Während sie sich im Nest der Drachin aufgehalten hatte, war der Frühling ins Land gezogen. Als sie in die Welt zurückgekehrt war, war der Schnee geschmolzen, und die Bäume erwarteten das Aufbrechen der Knospen. Die Staubwüstenei, die im Sommer den Grund der Senke beherrschte, war jetzt üppig begrünt. Frisches Frühlingsgras bildete einen grünen Teppich auf dem Grund, der sich bis zu den terrassenförmigen Wänden hochzog. Der seit Jahrhunderten verlassene Ort wartete wie in Vorfreude.

Als das hellgoldene Licht des oberen Sonnenbogens den Horizont berührte, schaute Rhapsody hinter sich, denn sie spürte, wie ein Schatten auf ihre Schulter fiel. Es waren die anderen beiden Drittel der Drei. Sie hatten nicht vergessen herzukommen.

Schweigend standen sie hinter ihr und sahen sich um. Rhapsody blieb sitzen und beobachtete, wie das Morgenlicht auf die seltsamen Felsvorsprünge fiel, welche das natürliche Rund des Gerichtshofes bildeten. In Gwylliams Manuskripten waren die beiden bedeutendsten Merkmale dieses Ortes beschrieben. Das erste wurde die Rednerkanzel genannt; dabei handelte es sich um eine hohe Kanzel aus Kalkstein, die vor Jahrmillionen von einem Gletscher geformt worden sein musste. Die unregelmäßige Erosion hatte einen gewundenen Weg geschaffen, der sich spiralförmig bis zur Spitze zog, auf der ein Redner aufrecht stehen und von der ganzen Versammlung gesehen werden konnte. Außerdem war der Redner überall im Gerichtshof deutlich zu hören, was der außergewöhnlichen Akustik des Ortes zu verdanken war.

Die zweite Besonderheit war als Rufersims bekannt. Es war eine lange und breite Steinplatte, die völlig flach war, aber einen einzelnen Vorsprung in Form einer Kanzel aufwies und auf dem höchsten Hügel der Umgebung über zwei großen Felsen lag. Von diesem Aussichtspunkt aus überblickte man die ganze orlandische Ebene sowie den gesamten Gerichtshof und hatte die Schatten der Zahnfelsen im Rücken. Es war die beste Stelle, von der aus man einen Ruf entsenden konnte, der weit über das Land hallen und sogar in der Erde selbst weiter schwingen sollte. Alle, deren Vergangenheit und Zukunft mit dem Hörn verbunden war, wären in der Lage, diesen Ruf zu hören. Rhapsody erschauerte. Es war ein langer, gefährlicher Weg bis zu diesem unsicher wirkenden Ort, und ein noch längerer Weg nach unten, wenn man dort das Gleichgewicht verlor.

Die Senke selbst war gewaltig; sie war größer als die Arena in Sorbold. Was die Natur hier nicht vollbracht hatte, hatten die Cymrer vollendet. So viele Jahrhunderte waren vergangen, seit sie zum letzten Mal als Versammlungsort gedient hatte, dass es inzwischen kaum mehr möglich war herauszufinden, was den Naturkräften und was Menschenhand zuzuschreiben war. Eine Reihe aufsteigender Simse war rund um die Senke in den Fels geschlagen und folgte den Gletscherlinien. Hier konnten Tausende Platz finden. Aus einigen Bereichen an den Seiten der Senke waren Keile herausgeschlagen, durch die man den Gerichtshof betreten und verlassen konnte. Obwohl dieser Ort überwuchert und von allem außer der Zeit selbst vergessen war, handelte es sich doch um den idealen Platz für eine Zusammenkunft. Die Luft hier war schwer vor Feuchtigkeit und bösen Vorahnungen.

»Fertig, Herzogin?« Das tiefe Brummen von Grunthors Stimme zerschnitt die Luft und zerschlug die tiefe Stille.

»Ich glaube ja«, sagte sie und schaute nach Osten, wo sich der untere Rand der Sonne gerade über den Berg erhob.

»Das ist ermutigend«, meinte Achmed mit einem schiefen Grinsen. »Du bist die Ruferin und weißt nicht einmal, ob du es sein willst? Warum machen wir es dann überhaupt?«

»Weil es an der Zeit ist«, erwiderte Rhapsody mit einem tiefen Seufzer, während sie aufstand.

»Roland wie auch Sorbold stehen kurz vor einem Krieg. Die Lirin sind wiedervereinigt, aber es gibt keinen einzelnen Anführer, der im Namen der Menschenreiche einen Vertrag mit ihnen garantieren kann. Der einzige Ort, der nicht kurz vor einem Blutvergießen steht, ist Ylorc.«

»Ironie des Schicksals.«

»Ich finde, das is traurig«, sagte Grunthor mit einem melancholischen Unterton. »Da hab ich nun ein Heer, auf das ich stolz sein kann, und keiner will mit mir spielen.«

Rhapsody klopfte ihm auf die Schulter. »Sieh es einmal so, Grunthor: Wenn die Cymrer einen Herrscher und eine Herrscherin wählen und das genauso gut machen wie bisher, wird es jede Menge Gelegenheiten für bewaffnete Auseinandersetzungen geben, und zwar mit einem größeren, mächtigeren Gegner. Dann hast du ganz Roland, Sorbold, Tyrian und vermutlich auch die Neutrale Zone zum Spiel.«

»Oje.«

»Wir sollten allmählich mit der Vorstellung beginnen«, sagte Achmed und reichte Rhapsody die schmale Kiste, in der sich das cymrische Hörn befand.

Rhapsodys Augen glitzerten im klaren Morgenlicht. »Wenn ich mich nicht irre, ist das Doktor Achmeds reisende Schlangenschau.« Sie warf einen Blick auf Grunthor; das war eine Anspielung auf eine Bemerkung, die er vor langer Zeit in der Wurzel gemacht hatte. Der Bolg-Riese grinste.

Sie öffnete die Kiste und nahm das Hörn vorsichtig heraus; dann kletterte sie langsam und vorsichtig auf die Spitze des Rufersimses. Die steinerne Kanzel warf im Morgenlicht einen langen Schatten.

Achmed und Grunthor folgten ihr hinauf. Einen Moment lang standen die Drei ehrfürchtig da. Der Ausblick vom Sims nahm sie gefangen. Vom Observatorium im höchsten Gipfel der Zahnfelsen aus hatte die ganze Welt unter ihnen gelegen. Auch hier, vom Rand der Senke aus, erstreckte sich eine ungeheure Weite vor ihnen. So weit das Auge reichte, gab es fruchtbares Land, braune bis schwarze Erde. Es war ein verblüffender Anblick. Rhapsody kam sich sehr klein vor. Ein starker Wind fegte über die Ebene unter ihnen und das Gesims. Es war ein klärender Wind, der den Geruch von Hoffnung und Schicksal in sich trug. Rhapsody schloss die Augen, hob das Hörn an die Lippen und blies hinein.

Загрузка...