Gerald Owen, der Kammerherr von Haguefort, war auf dem Weg zu seinem Schlafgemach und wollte sich für den Abend zurückziehen. Dabei kam er an der Tür zur Bibliothek vorbei. Obwohl die Doppeltür geschlossen war, blies ein eisiger Windstoß unter ihr hervor. Gerald blieb erstaunt stehen und legte die Hand gegen die Mahagonitäfelung. Sie war eiskalt.
Vielleicht ist der Herzog noch auf, dachte er, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Herzog Stephen hatte sich bereits vor einigen Stunden zurückgezogen, da er Ruhe brauchte, um früh am nächsten Morgen zusammen mit dem Befehlshaber seines Regiments die neu wieder aufgebauten Kasernen und die Mauer zu besichtigen.
Gerald öffnete die Tür.
Die kalte Luft stach ihm in Gesicht und Haut. Gerald war zwar kein alter Mann, hatte aber die Jugendjahre schon lange hinter sich gelassen und war schon anfällig für die Schmerzen geworden, die seinen Vater in dessen späteren Jahren geplagt hatten. Wie sein Vater beschwerte sich auch Gerald nie und sah jedes Zucken und jeden Stich als etwas an, das er still und in Würde zu erdulden hatte, damit er nicht die Aufmerksamkeit des Herzogs oder des ihm anbefohlenen Hauspersonals auf sich zog. Dieselbe Verhaltensweise verlangte er allerdings auch von seinem Personal.
Der riesige, dunkle Raum war mit Schatten und Balken aus weißem Licht erfüllt, die durch die hohen Fenster hereinfielen und Widerspiegelungen des Schnees waren. Diese sich auftürmenden Schatten tanzten zur Musik des Windes über die Möbel. Ein unharmonisches Jammern stieg und fiel, als der Wind um die Festung fegte und wild mit den Vorhängen der offenen Balkontür spielte. Der Kamin war kalt und dunkel, die Asche tot.
Gerald betrat leise die Bibliothek und schloss die Tür. Das Heulen des Windes verringerte sich ein wenig, und die Vorhänge beruhigten sich; anstatt zu flattern, raschelten sie nur noch. Seine Schritte wurden von dem heulenden Wind verschluckt, während er quer durch den großen Raum zur Balkontür ging. Dabei wanderte er abwechselnd über dichte Seidenteppiche und breite Felder aus Schneeschatten, die auf dem polierten Marmor schimmerten. Als er die Tür erreicht hatte, schaute er hinaus auf den Balkon. Die Steinbänke waren hoch mit reinem Schnee bedeckt, genau wie das Steingeländer, das mit reichen Verzierungen geschmückt war und den halbrunden Balkon umschloss. Der Schneeteppich auf dem Boden des Balkons jedoch war von zahlreichen Tritten aufgewühlt, die kaum größer als die eines Kindes waren. Die Abdrücke der Zehen erinnerten ihn an die eines verzweifelten Kätzchens; sie führten mehrfach zum Rand und wieder zurück. Niemand befand sich auf dem Balkon. Gerald eilte hinaus in die bitterkalte Nacht, bedeckte die Ohren mit den Händen und sah hinunter auf den Boden. Der Schnee auf den Tannen und im Hof war unversehrt; es hatte sich eine glatte und klare Eisschicht gebildet, die von Kristallen aus den beharrlichen Windstößen bestäubt wurde. Der Kammerherr stellte beruhigt fest, dass niemand hinuntergefallen war, und eilte zurück in die Bibliothek, schloss die Balkontüren und verriegelte sie. Die Schreie des Windes verklangen zu einem fernen Gejammer.
Gerald Owen nahm sein Taschentuch heraus. Er bückte sich langsam und wischte die Schneekristalle auf, die sich auf dem Boden der Bibliothek angesammelt hatten, während die Tür offen stand.
Dann rieb er sich die Hände und war schon wieder auf halben Weg zurück zum Ausgang, als ein weißer Schatten, der etwas fester und stetiger als die anderen war, seine Aufmerksamkeit erregte. Dieser Schatten kauerte zwischen der tanzenden Schwärze auf dem Boden neben dem Schrank und zitterte.
Gerald ging langsam hinüber zu der Gestalt. In der Dunkelheit wirkten ihre riesigen Augen noch größer, und das hellbraune Haar hing ihr in losen Wellen über die dünnen Schultern. Ihre Hände umfassten einen kleinen Leinensack; die Karaffe des Herzogs mit dem Dessert-Branntwein stand auf dem Boden neben ihr, und das Glas lag in ihrem Schoß.
»Rosella?«
Als die Frau in dem weißen Kleid ihren Namen hörte, sah sie erschrocken auf. Ihre Augen spähten wild durch den Raum, ruhten kurz auf Geralds Gesicht, wandten sich dann wieder ab, als ob sie fliegende Gegenstände verfolgten, die nur sie sehen konnte. Gerald verlangsamte seine Schritte noch mehr.
Als er eine Armeslänge vor ihr stand, begann das Kindermädchen wild zu flüstern.
»Ja, ich liebe die Kinder, Herr, ich liebe sie, und den Herzog, natürlich, auch der Herzog hat meine ewige Ergebenheit. Die hat er. Ja, ich liebe sie alle, würde für jeden von ihnen sterben, Ihr müsst mir glauben, Herr, das würde ich, für jeden von ihnen. Ich liebe sie.«
Gerald hockte sich neben sie und streckte ihr die Hand entgegen, doch das Mädchen zuckte vor ihm zurück. Er nahm die Hand fort und redete mit ihr so sanft wie möglich.
»Natürlich tust du das, Rosella, wie wir alle. Niemand würde jemals deine Treue gegenüber Herzog Stephen und den Kindern anzweifeln.«
Nun ruhte Rosellas Blick auf seinem Gesicht und verharrte dort. Gerald sah den Wahnsinn in ihren Augen brennen.
»Das tue ich, Herr, ich liebe sie alle.«
»Ja, ja, natürlich tust du das.«
»Ich liebe sie.«
»Ich weiß.«
Vor den Fenstern frischte der Wind wieder auf und heulte wütend. Rosellas dunkle Augen wandten sich pfeilschnell wieder ab, und sie wimmerte wie ein verängstigtes Kind.
Gerald streckte noch einmal die Hand nach ihr aus, doch wieder schreckte sie davor zurück.
»Es ist alles in Ordnung, Rosella«, sagte der Kammerherr besänftigend. »Alles ist in Ordnung.« Das Kindermädchen murmelte unzusammenhängende Dinge. Als Gerald erneut ihren Blick einfing, war er umwölkt und spiegelte das Licht des Schnees wider.
»Der Herzog«, flüsterte sie immer wieder. »Der Herzog.«
Gerald Owen blieb eine lange Zeit neben ihr hocken, achtete nicht auf die Proteste von Knien und Rücken, und regte sich nicht, bis ihr Gemurmel schließlich abbrach. Er hatte Angst vor dem, was sie tun könnte, wenn er sie erschreckte, doch schließlich stand er auf und wich vor ihr zurück. Er streckte abermals die Hand aus.
»Rosella?«
»Der Herzog«, flüsterte sie. Das Grauen auf ihrem Gesicht bohrte sich bis in Geralds Seele.
»Ich hole ihn«, sagte er. »Rühr dich nicht von der Stelle, Rosella.«
Als sich die Tür hinter dem Kammerherrn schloss, wurde die Stimme im Wind lauter.
Jetzt, Rosella.
Die Stimme heulte ihr schon seit Stunden zu, lenkte Rosella nach ihrem Willen, schalt sie wegen ihrer Unfähigkeit und ihrer Dummheit. Sie drohte nicht länger, knurrte nicht länger, sondern flüsterte nur leise in der Dunkelheit hinter den geschlossenen Fenstern.
Jetzt, Rosella.
Das Gesicht des Kindermädchens verhärtete sich, und das Zittern hörte auf. Die Schmerzen in ihren frierenden Füßen ebbten ab und verschwanden; sie hatte lange am Rand des Balkons im Schnee gestanden.
Langsam rappelte sie sich auf und ging zum Schrank. Der schwere Stöpsel der Karaffe fiel aus dem Schoß ihres Kleides und auf den Boden, wo er in weiten Kreisen unter den Tisch rollte. Ein kleiner Glassplitter, der sich durch den Sturz gelöst hatte, glitzerte im Licht. Sie nahm das Kristallglas und hob es gegen das tanzende Licht des Schnees. Das geschwungene Glas fing das Licht ein und hielt es wie flüssiges Mondlicht fest.
Jetzt, Rosella.
Rosella setzte das Glas auf dem Schrank ab und zog dann die kleine Schnur des Leinensäckchens auf, das feucht und zerknittert vom Griff ihrer Hände war. Sie schüttete den Inhalt des Säckchens in das Glas, nahm dann die Karaffe vom Boden und goss ein wenig von der Flüssigkeit ein. Sie schwenkte sie sanft und sah zu, wie das feine Pulver durch den Branntwein wirbelte und sich in ihm auflöste; dann hielt sie das Glas wieder gegen das schneeige Licht.
Jetzt, Rosella.
Sie setzte das Glas an die Lippen.
»Wenn du mich oder meine Kinder liebst, wirst du das nicht trinken.«
Rosella wirbelte herum. Herzog Stephen stand im Schlafanzug vor ihr. Im Licht, das aus dem Korridor hereindrang, sah sie auch Gerald Owen bei der Tür stehen.
»Gib mir das Glas.«
»Mein Herzog...«
»Jetzt, Rosella.«
Die Worte ihres geliebten Herrn zerschmetterten den Griff der Stimme aus dem Wind, die sich um ihren Verstand gewunden hatte. Sie streckte die Hand mit dem Glas aus und zitterte heftig.
Stephen löste sanft ihre Finger vom Glas und nahm es an sich. Er ging zu dem kalten Kamin und warf es zwischen die dunklen Steine ganz hinten; dann kehrte er zum Schrank zurück.
»Wer hat dir den Natterblumenextrakt gegeben?«
Rosellas Lippen zitterten, doch ihr Blick war klar.
»Ich weiß es nicht, mein Herr.«
»Du weißt es nicht?«
»Vergebt mir, mein Herr«, flüsterte sie. »Ich kann mich nicht erinnern.«
Stephen fühlte, wie sein Herz einen Satz machte. Es waren dieselben Worte; er hatte sie schon einmal gehört. Sie waren von den Lippen eines lirinschen Soldaten gekommen, kurz bevor ihm der Henker den Strick um den Hals gelegt hatte. Der Mann war zusammen mit dem Rest seiner Bande gefasst worden, als er gerade Stephens Frau die Kehle durchgeschnitten hatte. Er hatte weiter gesägt und sie enthauptet, selbst als Stephens Soldaten ihn bereits fortgezerrt hatten. Es war ihm wichtiger gewesen, seine schreckliche Aufgabe zu vollenden, als zu kämpfen oder zu fliehen.
Warum?, hatte Stephen wissen wollen. Ihm war die Stimme wie auch das Herz gebrochen, als er Auge in Auge mit dem Mann vor dem Galgen gestanden hatte. Sag mir wenigstens, warum.
Ich weiß es nicht, Herr.
Wer hat dir den Befehl dazu gegeben?
Ich... ich kann mich nicht erinnern.
Bei jedem der Soldaten, die an jenem Tag hingerichtet worden waren, war es dasselbe gewesen, selbst bei dem letzten, dessen Urteil er im Gegenzug für eine Information aufzuheben angeboten hatte.
Ich kann mich nicht erinnern. Es tut mir Leid, Herr.
Die Soldaten der sorboldischen Einheit, die den Winterkarneval angegriffen hatten, hatten mit leerem Gesicht in den Ruinen des Festes gestanden.
Warum?
Ich... ich weiß es nicht, Herr.
Wer hat euch den Befehl dazu gegeben?
Ich kann mich nicht erinnern.
Die Frau vor ihm zitterte heftig. Stephen sah ihr in die Augen, die voller dunkler Angst und Unsicherheit waren, und er hatte einen Moment lang den Eindruck, als könnte er bis in ihr Herz blicken. Er nahm sie in den Arm.
»In Ordnung, Rosella«, sagte er schließlich. »Alles in Ordnung.« Er gab Gerald Owen ein Zeichen. Der Kammerherr öffnete die Tür ganz und befahl den beiden Wachen, die auf Stephens Wunsch draußen gewartet hatten, die Bibliothek zu betreten.
»Bring sie in den Turm«, sagte er ruhig zu dem Kammerherrn, als die Wachen sie wegführten. »Mach es ihr bequem; behandle sie nicht wie eine Gefangene. Sie ist krank.«
»Soll ich eine Nachricht zu Llauron schicken, Herr? Vielleicht könnte Khaddyr etwas für sie tun.«
Stephen schüttelte den Kopf. »Nein. Ich werde darüber nachdenken, Owen. Bis ich mich entschieden habe, was zu tun ist, möchte ich niemanden hineinziehen, nicht einmal Llauron.«
»Ich verstehe, Herr.« Gerald Owen nahm die Flasche und den kleinen leeren Sack an sich, verneigte sich und verließ die Bibliothek.
Stephen seufzte, als sich die Tür schloss.
»Ich wünschte, ich würde es verstehen.«