Die Nacht schien sich um das kleine Feuer zu verdichten. Dorndrehers Augen glitzerten heller; es war, als hätte er das Licht aus der Luft in sich hineingesogen. Nun saß er vor den Flammen und hatte sich in seinen eigenen Gedanken verloren.
Ashe wartete schweigend und beobachtete ihn eingehend. Obwohl neues Leben in die verletzten Augen des alten Mannes gekommen war, wurde seine Haut immer fahler.
Der Drache in Ashes Blut spürte, wie Dorndrehers Körper allmählich schwächer wurde, wie sein Leben langsam verebbte, auch wenn seine Seele im Schein des hellen Feuers erstarkte. Als der Wind schließlich erstorben und die Nacht so still geworden war, dass man hören konnte, wie der Schnee in sanftem Gewisper auf den Boden fiel, sprach Dorndreher.
»Mein Schwert«, sagte er ruhig. »Ist es noch hier?«
Ashe stand auf und ging zu dem Wallach, der etwa zwanzig Schritte in einem Wäldchen stand und vom treibenden Schnee halb verborgen war. Er band das Krummschwert von der Satteltasche los und gab es Dorndreher zurück, indem er es ihm vorsichtig in die Hände legte. Als der alte Mann es berührte, schlug sein Herz schneller.
»Den Göttern sei Dank«, murmelte er. Mit großer Anstrengung zog er die Waffe aus der Scheide und hielt sie vor seine Augen. Es war eine alte Klinge von bescheidener Handwerkskunst und ohne Verzierungen, alt und beschädigt wie ihr Träger. Ashe erkannte die Krümmung; es war der Säbel eines Seemanns, in derselben Weise gekürzt wie die Schwerter auf den cymrischen Schiffen, die in den staubigen Schaukästen in Stephens Museum lagen. Dorndreher betrachtete noch eine Weile die Widerspiegelung des Feuers in dem dunklen Stahl und wandte sich dann wieder Ashe zu.
»Hör gut zu, Sohn Llaurons, und ich werde dir deine Freundlichkeit vergelten.
Ich habe deinen Großvater, König Gwylliam, an dem... Tag... getroffen, als das letzte Schiff der Dritten Flotte die Segel setzte. Ich war Bootsmann auf der Serelinda, dem Schiff, das den ... König für alle Zeiten von der Insel fortbrachte.« Dorndreher lehnte sich gegen den verfaulten Baumstamm und schloss die Augen. Die Anstrengungen des Redens hatten ihn erschöpft.
»Ruhe dich aus, Großvater«, sagte Ashe sanft. »Ich bin sicher, dass wir noch Zeit zum Reden haben werden, bevor wir eine Unterkunft erreichen und dich ein wenig pflegen. Sicherlich wird Anborn mich nicht sofort hinauswerfen. Du kannst mir deine Geschichte erzählen, wenn es dir besser geht.«
Dorndreher riss die Augen auf; in ihnen loderte Feuer. »Du bist ein größerer Narr, als ich dachte, Gwydion ap Llauron«, murmelte er. »Was weißt du schon von Zeit?« Er kämpfte sich in eine aufrechtere Lage und blitzte ihn an. »Ich bin der Herr der letzten Augenblicke, der Wächter dessen, was niemand wieder sehen soll. Diesen Namen hat mir dein eigener Großvater verliehen. Willst du behaupten, dass es nichts solches in deiner eigenen Vergangenheit gibt? Würdest du nichts dafür geben, deine eigene ... Seele wieder zu sehen, und sei es nur ein einziges Mal?«
Ashes seltsame blaue Augen blinzelten unter dem Schock über diese harsche Antwort.
»Nein«, sagte er nach einer kurzen Pause, »das würde ich nicht so sagen. Es gibt vieles, was ich sehr gern ändern würde, wenn ich es könnte.« Er wandte den Blick vom Feuer ab und schaute hinaus in die Finsternis, die nur von den Wellen des Kristallschnees durchbrochen wurde.
Dorndreher schnaubte verächtlich. »Ich habe nichts von ändern gesagt«, murmelte er und atmete noch heftiger. »Ich kann die Zeit für dich nicht ändern, Gwydion genauso wenig, wie ich es für deinen Großvater konnte.« Er stützte sich auf einen Ellbogen und wischte sich den Schnee vom Kopf. »Willst du jetzt meine Geschichte hören oder nicht?«
»Vergib mir meine Grobheit. Ich höre zu.«
Der alte Mann atmete tief aus und sog dann heftig die Luft ein. Er drehte das Schwert, damit es den Feuerschein widerspiegelte, und sah dann in den Himmel über ihm. Seine Augen schauten hinter den fallenden Schnee in eine andere Nacht, in einen anderen Himmel.
»Dein Großvater war ein Mann von großen Stimmungsschwankungen, Gwydion«, sagte er schließlich. »Noch bevor er seine Vision von der Vernichtung Serendairs hatte, erzählten sich die Seeleute Geschichten über seine berühmten Launen, sein fröhliches Lachen, das in der Spanne eines Herzschlages in Wut oder Verzweiflung umschlagen konnte und einen Augenblick später wieder ganz das alte war. Wenn man bedenkt, dass er dabei war, seine Geburtsrechte und alles andere zu verlieren, was ihn mit den gewöhnlichen Menschen verband, war es nicht überraschend, dass er sich am Tag der Abreise in einer düsteren Stimmung befand, denn er verließ die Insel für immer.« Dorndreher verstummte. Ashe reichte ihm den Wasserschlauch, aus dem er einen tiefen Schluck nahm. Dorndreher verkorkte ihn und gab ihn zurück; dann sah er seinen Zuhörer wieder an.
»Die See kochte, das Feuer unter ihr wütete; die Hitze ging von dem Schlafenden Kind aus«, sagte er, und seine Augen verdunkelten sich angesichts der Erinnerung. »Wir hatten große Angst, dass wir nicht mehr rechtzeitig fortkommen könnten wir alle außer Seiner Majestät, der verzagt an der Achterreling stand und gramvoll zusah, als wir zum letzten Mal aus dem Hafen liefen. Die Serelinda schwankte vor und zurück wie ein Korken auf dem Meer. Es war ein Wunder, dass die Gegenströmungen uns nicht zerrissen.« Ashe, selbst Seemann, nickte.
»Niemand wagte es, den König von der Reling fortzuholen, auch wenn es in der Mannschaft hieß, sein Gefolge befürchte, er könne über Bord gehen. Hague, sein bester Freund, blieb immer an seiner Seite, redete mit ihm, hielt ihn ruhig. Nie gab es einen Mann mit einem größeren Geschick, deinen Großvater zu beruhigen.«
Ashe lächelte und nickte stumm. Hague war ein direkter Ahne von Stephen Navarne, Ashes bestem Freund, als sein Leben noch ihm selbst gehört hatte. Vielleicht zog sich mehr als nur das Merkmal der blauen Augen durch die königlichen Familien der Cymrer.
Er atmete so leise ein wie möglich, denn er wollte den alten Cymrer nicht von seiner Geschichte ablenken. Dorndrehers Atmen war stärker geworden; die Pausen zwischen den Wörtern kamen seltener; anscheinend hielten ihn die Geschichte und die Erinnerungen, die sie mitteilte, aufrecht. In seiner Stimme lag nun eine Kraft, die Ashe mit Ehrfurcht erfüllte. Es war, als ob er die Geschichte sich selbst erzählen hörte.
»Als wir uns dem Rand des Horizonts näherten, wurde der König noch besorgter, schritt das Deck ab und rang die Hände. Er hielt den Blick gen Süden gerichtet, sah zu, wie die Insel mit dem Schlingern des Schiffes unterging und wieder auftauchte, und hatte jedes Mal Angst, sie könne für immer aus seinem Blickfeld verschwunden sein. Es tat weh, ihm zuzusehen. Als er sie schließlich nicht mehr sah, als kein Wellenkamm sie mehr zurückbrachte, wurde er hysterisch. Wahnsinn lag in seinem Blick, Gwydion. Ein Dutzend Seeleute und Adlige standen in der Nähe und erwarteten seinen Zusammenbruch. Hague legte die Hand auf die Schulter des Königs, und Gwylliam brach verzweifelt zusammen.
Damals war ich auf dem Ausguck. Meine Augen waren so scharf, dass ich eine Seeschwalbe in einer Entfernung von hundert Meilen gegen die Sonne erkennen konnte. Sie sind immer noch besser als die der meisten Menschen, das kann ich dir versichern. Ich hielt Wacht im Krähennest und beobachtete von dort aus die Vorgänge.
Gwylliam jammerte wie ein Mann auf dem Totenbett und tobte gegen Hague. ›Ich habe den letzten Blick gehabt, Hague. Sie ist fort. Für immer fort. Was würde ich darum geben, sie noch einmal zu sehen, Hague, nur noch ein einziges Mal!‹ Es ist traurig mitzuerleben, wie ein Mann den Tod all dessen erleidet, was er gewesen ist und hätte werden können. Ich konnte es nicht ertragen, musste wegsehen, und als ich das tat, erhaschte ich einen Blick auf den höchsten Gipfel von Balatron an der Nordseite dieses purpurfarbenen Gebirgszuges, der in den Strahlen der untergehenden Sonne badete.
Ich rief hinunter zu deinem Großvater, Gwydion, und teilte ihm die Lage mit, sodass er es selbst sehen konnte. Der Erste Maat gab ihm ein Fernglas, und anscheinend konnte der König es jetzt auch erkennen, denn er wurde sehr erregt und freudig und stieg aus der Grube der Hoffnungslosigkeit auf wie eine Möwe in den Aufwinden.
Lange starrte er in die Ferne und wurde wieder schweigsam. Als er schließlich das Fernglas absetzte, sah er hoch zum Krähennest. Er schaute mich mit seinen hellblauen Augen an und rief vom Deck aus: ›Ho, mein Bester, komm herunter, damit ich dir danken kann!‹ Und wenn einen der König so ruft, dann eilt man sofort zu ihm.« Dorndreher kicherte angesichts der Erinnerungen, und Ashe lächelte. Er spürte beinahe die salzige Gischt, roch den Duft der Wellen, hörte das Knirschen des Decks und war Zeuge der Erregung in den Augen des alten Mannes.
»Als ich das Deck erreicht hatte, lächelte der König wieder. Das hatte ich bei ihm nicht erlebt, seit er an Bord gegangen war; ich hatte es sogar noch nie erlebt, da ich vorher nicht die Gelegenheit gehabt hatte, mit ihm zusammenzutreffen oder ihn gar von fern zu sehen. Ich gestehe, dass mir seine ersten Worte zu denken gaben: ›Hast du ein Schwert, guter Mann?‹
In Anbetracht seiner wilden Stimmungsschwankungen befürchtete ich einen Moment lag, mein Leben könne in Gefahr sein und er sei irgendwie wütend auf mich. Dennoch übergab ich ihm meinen Säbel und leistete somit dem Befehl des Königs Folge.
Er fragte nach meinem Namen, und ich nannte ihn. ›Knie nieder, Dorndrehen, sagte er, und ich wartete auf meine Enthauptung. Stell dir meine Überraschung vor, als er mir leicht auf beide Schultern schlug, mir dankte und mich ›Herr des Letzten Augenblicks und Wächter dessen, was niemand wieder sehen soll‹ nannte. Das hätte mich beinahe umgehauen, mein Knabe.«
»Das kann ich mir vorstellen«, meinte Ashe lächelnd und schüttelte sich den angehäuften Schnee vom Mantel.
Dorndrehers Gesicht wurde ernst. »Ich glaube, er hat einen Scherz gemacht, als er das sagte, Gwydion. Aber es war ein seltsamer Augenblick, nicht wegen seiner eigenen unvorhersehbaren Stimmung, sondern wegen des Zeitpunkts. Wir befanden uns am Ende eines Zeitalters, des letzten Zeitalters an jenem ersten Ort, wo die Zeit begann, und wurden auf einer kochenden See hin und her geworfen, in der sich ein Stern erhob. Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, so ist doch das Wort eines Königs ein seltsames und mächtiges Ding. Damals war es ein Scherz, doch später habe ich erkannt, dass in einem Eid, wie auch immer er gegeben sein mag, die Fähigkeit wohnt, das Schicksal zu bestimmen.«
Das Lächeln schwand aus Ashes Gesicht. Er dachte an die vielen Male zurück, als Rhapsody ihm geduldig erklärt hatte, wie wichtig es für einen Benenner war, immer nur die Wahrheit zu sagen und sich aller Worte bewusst zu sein, auch wenn sie im Scherz ausgesprochen wurden, weil die Worte zur Wirklichkeit werden konnten.
Dorndreher keuchte wieder. »Der langen Rede kurzer Sinn ist, dass ich nun tatsächlich der Herr des Letzten Augenblicks bin, Gwydion, und der Wächter ... dessen, was niemand je wieder sehen wird. Über die Jahre fand ich heraus, dass ich deinem Großvater Augenblicke aus seinem Heimatland zurückholen konnte, weil er mir die Macht dazu gegeben hatte. Das spendete ihm Trost in seinen dunkelsten Zeiten.« Er zog die Decke bis zum Hals, seine Hände zitterten. »Also, deiner Großmutter gefiel das gar nicht. Sie meinte, nur sie dürfe in die Vergangenheit schauen; das war ihr ureigener Bereich.«
»Das überrascht mich nicht«, meinte Ashe trocken. »Anwyn ist eine Drachin; sie glaubt, dass alles auf der Erde ausschließlich ihr gehört.«
»Sie musste das Gegenteil lernen.«
»Zu einem ungeheuren Preis«, murmelte Ashe und hielt dann inne, als er die Schmerzen in Dorndrehers Gesicht sah. »Vergib mir, Großvater. Ich bin sicher, deine Bemühungen haben Gwylliam großen Trost gespendet, und es freut mich, dass du ihm Blicke in seine verlorene Zeit gewähren konntest.«
Dorndreher wurde von einem Hustenanfall durchgeschüttelt; dann richtete er die verletzten Augen wieder auf Ashe. »Mit dir kann ich dasselbe tun. Willst du immer noch warten, bis du mich zu Anborn gebracht hast?«
»Wenn du mir den letzten Anblick Serendairs zeigen kannst, wäre das für mich das Schönste«, sagte Ashe. »Aber ich will deine Gesundheit nicht für eine solche Vision aufs Spiel setzen.«
»Dein letzter Augenblick, du Dummkopf«, brummte Dorndreher. »Etwas, das du verloren hast, das du gesehen hast und niemand je wieder sehen wird. Gibt es einen solchen Augenblick in deiner Erinnerung?«
Ashe richtete sich im Feuerschein auf. Für einige Zeit herrschte Schweigen in dem verborgenen Waldlager, das nur ab und zu von Dorndrehers schwerem Atmen und Husten unterbrochen wurde. Als Ashe wieder sprach, klang seine Stimme sehr sanft.
»Ja«, sagte er langsam. »Ich glaube, da gibt es etwas.«
Dorndreher nickte und deutete dann schwach auf das niedergebrannte Feuer. »Bring mich näher heran, mein Knabe.«
Ashe stand auf und setzte den Wasserschlauch auf dem gefrorenen Boden ab. Er griff mit den Armen sanft unter Dorndrehers Schultern und zog ihn vorsichtig näher an die brennenden Kohlen heran. Dorndreher brummte zustimmend, als er nahe genug war. Ashe ging zurück zu dem Holzstück, auf dem er gesessen hatte, und beobachtete von dort aus den alten Mann eingehend.
Unter großer Anstrengung hob der alte Cymrer sein zerbeultes Schwert und hielt es so, dass sich der Feuerschein in der Klinge widerspiegelte.
»Sieh in das Feuer, Gwydion ap Llauron ap Gwylliam tuatha d’ Anwynan o Manosse.«
Rasch streckte Ashe die Hand aus. »Warte, Großvater. Wenn du mir etwas im Feuer zeigen willst, lass es sein. Ich verzichte auf die Vision.«
»Warum?«
Ashe lachte verbittert auf. »Es sollte reichen, wenn ich dir sage, dass ich diesem Element nicht traue. Ich will nicht, dass meine Erinnerungen für seine Bewohner sichtbar werden.«
Dorndreher hustete heftig und erschauerte. »Ich kann dir die Vergangenheit nicht zeigen, ohne sie in einer der Fünf Gaben zu spiegeln in den uranfänglichen Elementen. In ihrer Kraft allein kann etwas so Flüchtiges wie ... alte Erinnerung einen Moment lang festgehalten werden. Wir sind nicht in der Nähe des Meeres; der Schnee verbirgt die Sterne, und die Erde ... schläft jetzt. Das Feuer ist das einzige Element, das uns nun zur Verfügung steht.«
»Wie wäre es mit einem Teich? Könntest du es mir in seinem Wasserspiegel zeigen?«
Dorndreher schüttelte den Kopf. »Ja, aber jetzt ist Winter. Alle Teiche sind zugefroren; es würde ein verschwommenes Bild nur noch stärker verzerren.«
Ashe stand auf und zog sein Schwert. Kirsdarke glitt aus der Scheide; das Elementarwasser seiner Klinge kräuselte sich wie die Wellen des Meeres. In dem blauen Licht, das die kleine Lichtung nun durchströmte, wurden Dorndrehers Augen groß.
»Kirsdarke«, flüsterte er. »Kein Wunder, dass du allein überleben und allem entgehen konntest, was dich die ganze Zeit über gejagt hat.«
»In der Tat.« Mit einem sanften Strich beschrieb Ashe einen Kreis in das verbrannte, gefrorene Gras des Feuerrings. Die Flammen erloschen sofort, während Wolken wogenden Rauchs aufstiegen und sich in der feuchten, schweren Luft verteilten, bis sie mit dem weiten, dünnen Nebel verschmolzen, der dicht über dem Boden hing. Wo das Feuer gewesen war, lag nun ein kleiner Teich aus klarem Wasser, tief und vollkommen glatt.
»Genügt das?«
Dorndreher nickte und sah weiterhin dem Dunst nach, der vom Wind ergriffen und mit dem fallenden Schnee vermischt wurde. Er drehte sich um und schaute den frisch erschaffenen Teich an.
»Sehr gut, also wollen wir es noch einmal versuchen. Sieh in das Wasser, Gwydion ap Llauron ap Gwylliam tuatha d’ Anwynan o Manosse.«
Ashe steckte das Wasserschwert sanft zurück in die Scheide und löschte damit das Licht auf der Lichtung. Er beugte sich über den Teich und starrte in dessen Dunkelheit. Schneeflocken fielen federleicht auf die Oberfläche.
Lange erkannte er nichts außer der alles umgreifenden Schwärze des Wassers, das den dunklen Himmel widerspiegelte. Er schüttelte den Kopf und wollte gerade zu Dorndreher zurückschauen, als eine flackernde Bewegung im Teich seine Aufmerksamkeit erregte. Er sah, dass das, was zuvor noch der weiße Mantel aus fallendem Schnee gewesen war, nun das Spiegelbild des Mondlichtes war, verschwommen und undeutlich in der Hitze eines lange vergangenen Sommers. Sein Strahlen vereinigte sich in dem flachsfarbenen Haar einer jungen Frau, beinahe noch ein Kind, die auf einem sommerlichen Hügel in der süßen Düsternis einer Sommernacht neben ihm gesessen hatte. Die flackernde Bewegung war das Zwinkern ihres Auges gewesen, weit geöffnet vor Verwunderung, erstrahlend in einem Licht, das heller als der Mond war. Sie lächelte ihn in der Dunkelheit an, und Ashe fühlte nun, wie seine Knie schwach wurden, wie sie es auch damals, vor so langer Zeit, geworden waren.
Sam?
Ja?, murmelte er nun, genau wie damals. Sein heller Bariton klang in seinen Ohren viel jünger, erfüllt von ängstlicher Erregung, am Rande des Brechens.
Glaubst du, dass wir das Meer sehen werden? Irgendwann einmal?
Er erinnerte sich daran, wie er gefühlt hatte, dass er ihr alles versprechen wollte, worum sie ihn bat. Natürlich. Wir könnten, wenn es dir gefällt, auch am Meer leben. Hast du es noch nie gesehen?
Ich bin noch nie hier herausgekommen, Sam, kein einziges Mal. Aber ich habe mich schon immer nach dem Meer gesehnt. Mein Großvater ist Seefahrer, und er hat mir versprochen, dass er mich irgendwann einmal auf eine große Fahrt mitnimmt. Bis vor kurzem habe ich mir auch Hoffnung darauf gemacht. Ich habe schon einmal sein Schiff gesehen.
Wie ist das möglich, wenn du noch nie am Meer warst?
Sie hatte so weise ausgesehen, so empfindsam, als sie ihn bei dieser Frage angelächelt hatte. Es war der Abend ihres vierzehnten Geburtstages gewesen. Nun, es ist in Wahrheit sehr klein ungefähr so groß wie meine Hand , jedenfalls da, wo es jetzt liegt: in einer Flasche auf dem Kaminsims.
Ashe würgte an dem Knoten, der sich in seinem Hals gebildet hatte, und kämpfte das Stechen an den Augenrändern nieder. Damals war Rhapsody so wunderschön gewesen. Ihr Gesicht hatte noch nicht die Ehrfurcht einflößende Großartigkeit gezeigt, die sie nun mit einer Kapuze bedeckte, sondern nur die einfache, frische Unschuld des lebhaften jungen Mädchens, das sie zu jener Zeit gewesen war eines Mädchens, das ihre Familie Emily genannt hatte. Er hatte nie die Gelegenheit gehabt, sie bei Tageslicht zu sehen. Wann immer das Schicksal ihn in der Zeit zurückgeworfen hatte, war ihm nur eine Nacht mit ihr vergönnt gewesen, eine gesegnete Nacht im hügeligen Bauernland von Serendair, wo sie geboren worden war mehr als dreizehn Jahrhunderte vor seiner eigenen Geburt.
Der Augenblick, den Dorndreher ihm gezeigt hatte, war der Augenblick gewesen, in dem er erkannt hatte, wer sie wirklich war und warum die Zeit sie so verändert hatte. Sie war die andere Hälfte seiner Seele, geboren vor vielen Lebensspannen und in einer entfernten Welt, aber begabt mit einer Magie, die so stark war, dass sie Zeit und Ferne trotzte und sie dennoch zusammenbrachte.
Ashes Magen drehte sich heftig um, als er die Ironie spürte. Sie hatten diese wenigen Augenblicke miteinander verbracht, nur um dann durch Ereignisse und Abläufe von scheußlichen Ausmaßen getrennt zu werden. Das Schicksal, das eher grausam als freundlich war, hatte sie ein zweites Mal zusammengeführt, und sie hatten sich wieder ineinander verliebt, nur um erneut getrennt zu werden.
Diesmal aber war derjenige, der ihnen die Möglichkeit des Beisammenseins geraubt hatte, Ashe selbst gewesen.
Die Schmerzen wurden unerträglich. Ashe atmete schwer. Das Bild in dem neu geschaffenen Teich verblasste. Er flüsterte noch einmal das, was er zu ihr gesagt hatte, als die Vision in dem reflektierten Mondlicht verschwamm und schließlich verschwand.
»Du bist die wunderbarste Frau der Welt.«
Die einzige Antwort war das Heulen des Winterwindes. Ashe sah auf, die Augen rot vor ungeweinten Tränen.
Dorndreher lag unter der Lagerdecke in der Dunkelheit und atmete flach. Ashes Drachensinne warnten ihn sofort, dass es mit dem alten Mann eine schlechte Wendung genommen hatte und er um sein Leben kämpfte. Ashe stand rasch auf und zog das Laken enger um Dorndreher, dann hob er ihn vom Boden auf und trug ihn zum Pferd.
»Keine Angst, Großvater, wir sind schon fast bei Anborn«, sagte er, während er hinter Dorndrehers zusammengesacktem Körper aufsaß. »Lehne dich gegen mich und ruh dich aus. Wir sind bald da, und dann wirst du deinen Trost finden.«
Dorndreher konnte nur noch nicken und brach dann unter einem heftigen Hustenanfall zusammen. Ashe trieb den Wallach voran und folgte den Schwingungen, die er aus der Ferne von Anborn empfangen hatte.
»Vielen Dank, dass du mir das gezeigt hast«, sagte er leise.
Dorndreher hörte ihn nicht mehr.