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Ylorc

Soeben wurden die Fackeln in den dunkelnden Gängen des Kessels angezündet, als Greevus an die Tür des Versammlungsraumes hinter der Großen Halle klopfte. Achmed sah nicht von seiner Landkarte auf, die er schon seit einiger Zeit betrachtete; aber Grunthor winkte ihn herein und wandte sich dann ebenfalls wieder der Karte zu.

Greevus wartete schweigend, während sich der Sergeant-Major weiter mit dem König unterhielt. Schließlich rollte Achmed die Landkarte zusammen; Verärgerung lag in seinen schroffen Bewegungen.

»Ja?«

Greevus räusperte sich. »Mein Herr, ein Vogel ist im Grivven-Posten mit einer Botschaft für Euch angekommen. Scheint etwas Seltsames zu sein.«

Zum ersten Mal, seit der General den Raum betreten hatte, sah der König auf. Er richtete kurz seinen verwirrten Blick auf Greevus und streckte dann eine behandschuhte Hand aus. Der Soldat legte den Fetzen Ölpapier in die Hand des Königs und zog sich in die tanzenden Schatten des großen Kamins zurück.

Achmed und Grunthor wechselten einen raschen Blick; dann schritt der Sergeant-Major zum Kamin hinüber, nahm einen Holzscheit vom Stapel und entzündete ihn mit einem Funken aus der Feuerstelle. Er kehrte zum Tisch zurück und brachte damit eine Lampe zum Brennen, während der König das kleine Stück Ölpapier entrollte, sich darüber beugte und es betrachtete. Einen Augenblick später las er es laut vor.

An König Achmed von Ylorc

Eure Majestät!

In großer Sorge habe ich Rs Geschichte über die schreckliche Krankheit gehört, die Euer Volk befallen und Euch auf tragische Weise Eures Heeres beraubt hat. Ich spreche Euch meine Anteilnahme aus und biete jegliche Hilfe an, die Ihr in medizinischer Hinsicht oder bei den Begräbnissen benötigt.

Llauron, Fürbitter Gwynwald

Der König und der Sergeant sahen sich erneut an; dann entließ Grunthor Greevus mit einem Nicken. Der General verneigte sich und schloss die Tür hinter sich.

Kurz darauf nahm Grunthor seinen Helm ab, kratzte sich am Kopf und fuhr sich mit den sauber manikürten Händen durch die dichten Haare.

»Was hältst du denn davon? Was denkst du?«

Achmed hielt das Ölpapier vor das Feuer und las die Worte noch einmal. Dabei beobachtete er, wie die Flammen hinter dem Papier zitterten; ihre Farbe und Stärke war gedämpft. Schließlich sprach er.

»Dass ich mich in Llauron geirrt habe.« Er warf das Ölpapier ins Feuer, wo es hell aufloderte und in einer Wolke beißenden Rauchs verschwand.

Grunthor wartete geduldig, als sich Achmed in einen Sessel vor dem Kamin fallen ließ und die Fingerspitzen an die Lippen legte. Der König starrte in das Feuer, als wollte er ihm seine Geheimnisse entreißen.

»Llauron ist nicht der F’dor«, sagte er.

»Woher weißt du das?«

»Rhapsody hätte so etwas nie zu Llauron gesagt. Ich bezweifle, dass sie überhaupt etwas von dieser Nachricht weiß. Die Geschichte über diese Krankheit und die Schwächung des Heeres ist natürlich eine Lüge, und Rhapsody lügt nie. Diese Botschaft ist sowohl an sie wie an mich gerichtet; es liegt eine verschlüsselte Mitteilung darin.«

Der Sergeant nickte. »Weißt du, was es ist?«

Achmeds Stirn legte sich über dem Schleier in Falten. »Ich glaube ja. Llauron hat diese Lüge aus einem guten Grund verbreitet; er glaubt selbst nicht an sie. Das ist seine Art, mir mitzuteilen, was er getan hat. Wenn er der F’dor wäre, hätte er mir niemals diese Botschaft geschickt.« Grunthor nickte, als Achmed sich nach vorn beugte und noch tiefer in das Feuer starrte. »Vielleicht versucht er, den F’dor aus seinem Versteck zu locken, indem er die Nachricht verbreitet, die Bolg seien verwundbar. Das würde den Teil mit der Schwächung des Heeres erklären.«

Grunthors Gesicht nahm in den flackernden Schatten einen ernsten Ausdruck an.

»Und du weißt, was das heißt.«

Dunkle Wut brannte in den Augen des Königs. »Ja. Er glaubt, der Wirt des F’dor sei in der Lage, einen Vorteil aus dieser Information zu ziehen. Ich muss mir etwas einfallen lassen, wie ich ihm dafür danken kann, dass er mein Königreich als Dämonenköder benutzt falls wir den Angriff überleben, der zweifellos in diesem Augenblick geplant wird.«

Herrscherpalast, Bethania

»Komm herein, Evans. Es ist unschicklich, in Eingängen zu lauern.«

Evans, Tristan Stewards ältlicher Ratgeber und Botschafter, hatte schon seit einiger Zeit in der Tür zum Speisezimmer des Herrscherpalastes gestanden. Er seufzte auf und durchquerte den großen Raum. Seine Schritte hallten von dem polierten Marmorboden laut gegen die hohen Scheiben der vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster, die ein architektonisches Wahrzeichen des Palastes in Bethanias Hauptstadt waren. Das Licht aus dem Kamin warf lange Schatten, durch die er schnell und nachdenklich schritt.

Beim Klang der Stimme des Herzogs von Roland hatte er seinen Zorn heruntergeschluckt. Sie klang vom Wein berauscht und troff vor Selbstmitleid. Es war eine Klangfarbe, die er in den letzten Wochen nur allzu oft gehört hatte. Evans war sich nicht sicher, ob der Herrscher die tragische Wendung der Ereignisse auf dem Winterfest betrauerte, unter dem extremen Druck des kürzlich übernommenen Oberbefehls über die orlandischen Truppen litt oder nur in Panik angesichts seiner bald bevorstehenden Hochzeit geraten war, doch all diese Umstände stellten eine ausreichende Entschuldigung dar.

Dieser Mann war schließlich mit Madeleine verlobt, dem Biest von Canderre. In Botschafterkreisen lief der Witz um, Cedric Canderre brenne seine guten, starken Tropfen nur deshalb, weil er sicherstellen wolle, dass eines Tages jemand betrunken genug war, um seine Tochter zu heiraten. Tristan muss ein ganzes Fass getrunken haben, hatte Bois de Berne, der anvonderrische Botschafter, scherzhaft gesagt, als die Verlobung bekannt gegeben worden war. Evans erinnerte sich, wie er darüber gelacht hatte, doch jetzt war ihm beim Klang von Tristans Stimme und angesichts all der Ereignisse seit jenen Tagen nur noch zum Weinen zumute.

»Ich dachte, Ihr wollt das hier sehen, mein Herzog«, sagte er, während er sich dem Tisch des Herrschers näherte und bemerkte, dass Tristan sein Abendessen kaum angerührt hatte, obgleich die Branntweinkaraffe neben seinem Glas leer war. »Es wurde bei Sonnenuntergang von einem der Bogenschützen auf dem westlichen inneren Turm in der Fußkapsel eines Botenvogels entdeckt, der sehr wahrscheinlich in einen der letzten Stürme geraten ist und sich verflogen hat.«

Tristan starrte in das Glas, schwenkte den letzten Rest Branntwein und beobachtete, wie das Licht des Feuers den reich geschnitzten Esstisch umtanzte. Er seufzte, als Evans ihm das Ölpapier entgegen hielt, hob das Glas und spülte den Branntwein hinunter, bevor er die Hand nach dem Papier ausstreckte.

Evans sah zu, wie die Miene des Herrschers von Roland sich veränderte, als die Schatten während des Lesens über sein Gesicht glitten. Erst war es Verwirrung, dann Entsetzen, das sich zu Verwunderung wandelte, und schließlich eine beinahe manische Freude. Evans rieb sich die Arme, um die plötzliche Kälte zu vertreiben, die ihn überkam, als der Prinz das Ölpapier niederlegte, den Kopf zurückwarf und brüllend lachte. In der Dunkelheit seiner Studierstube hörte der heilige Mann den Herzog von Roland lachen. Er wusste nicht, ob dieser Laut durch den Wind, das Herdfeuer oder nur durch die Tiefen seines Geistes, in denen er und Tristan miteinander verbunden waren, zu ihm getragen wurde, doch er hörte ihn so klar und deutlich wie das Knistern der Flammen.

Er wusste nicht, warum der Prinz lachte, doch die Blutlust unter der fröhlichen Oberfläche erfreute ihn gewaltig.

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