16

Die Bibliothek von Haguefort war gewaltig; ihre hohen Decken warfen das geringste Geräusch zurück. Schritte hallten auf dem Marmorfußboden wider und wurden bisweilen von den Seidenteppichen geschluckt. Sogar ein leises Räuspern hätte man aus allen Ecken des Raumes vernommen.

Trotz dieser Hellhörigkeit war außer dem Knistern des Feuers und dem Ticken der Uhr kein Laut zu vernehmen.

Cedric Canderre ließ sich schwer auf eines der Ledersofas neben dem Kamin sinken und starrte mit leerem Blick in die Flammen. Sein Gesicht wirkte um Jahrzehnte älter als noch am Morgen. Neben ihm saß Quentin Baldasarre, der Herzog von Bethe Corbair, Dunstins Bruder. Sein Schweigen war ganz anders; seine Augen glühten in einem Feuer, das kaum den Zorn im Zaum zu halten vermochte, und selbst sein leiser Atem war mit Wut geschwängert. Lanacan Orlando, der Seligpreiser seiner Provinz, saß neben ihm im Schaukelstuhl und drückte ihm die Hand in dem Versuch, ihn zu trösten. Dabei wurde Orlando immer nervöser. Er schien beinahe erleichtert zu sein, als Quentin ihn mit einer wütenden Handbewegung fortschickte. Ihrman Karsrick, der Herzog von Yarim, goss sich ein weiteres Glas Branntwein ein und stellte dabei fest, dass Stephens Karaffe dringend nachgefüllt werden musste. Von allen Herzögen Rolands hatte er allein keinen Verlust eines Verwandten oder engen Bekannten zu beklagen, obgleich es sich bei dem Oberhaupt der siegreichen Schlittenmannschaft, das bei dem Angriff ums Leben gekommen war, um ein beliebtes Gildenmitglied in seiner Provinz sowie seinen persönlichen Schmied gehandelt hatte.

Den heiligen Männern war es Karsricks Meinung nach nicht gelungen, Trost zu spenden. Colin Abernathy hatte das Weinen für kaum länger als ein paar Augenblicke eingestellt. Lanacan Orlando, der gemeinhin als großer Heiler und Quelle des Trostes galt, verärgerte offensichtlich seinen Herzog weitaus mehr, als er ihm beistand. Philabet Griswold, der aufgeblasene Segner von Avonderre-Navarne, hatte zunächst über Sorbold und die Notwendigkeit einer sofortigen Vergeltung schwadroniert, war aber von Stephen Navarne, einem Mitglied seines eigenen Sprengeis, mit einem Blick zum Schweigen gebracht worden. Stephen war inzwischen nicht mehr anwesend; er besuchte seine Kinder und die behelfsmäßigen Krankenzimmer, die in seinen Gemächern eingerichtet worden waren, um die Verwundeten zu versorgen. Nielash Mousa, der Segner von Sorbold, saß allein in einer Ecke; seine sonst so dunkle Haut war fahl und feucht. Nur Ian Steward schien die Ruhe zu bewahren.

Die Tür zur Bibliothek wurde geöffnet, und Tristan Steward trat ein. Leise schloss er sie wieder. Er hatte sich damit entschuldigt, nach Madeleine und den Verwundeten aus seiner Provinz sehen zu wollen, und hatte sich danach im Hof mit den Hauptmännern seines Regiments getroffen. Sein Gesicht war eine Maske der Ruhe, als er eintrat, aber Karsrick erkannte am Ausdruck der Augen, dass er etwas plante und den rechten Moment für seine Enthüllungen abwartete.

Martin Ivenstrand, der Herzog von Avonderre, stand auf, als Tristan an ihm vorbeiging.

»Die Verluste, Tristan wie schlimm sind sie?«

»Über vierhundert Tote, zweimal so viele verwundet«, sagte Tristan, als er vor einem hölzernen Pult stehen blieb, auf dem Stephens kostbarer Atlas von Serendair lag. Das uralte Manuskript befand sich unter einer Glaskuppel, welche die brüchigen Seiten, auf denen die seit langem untergegangene Insel dargestellt war, vor den Verheerungen der Zeit schützte.

Wie ironisch, dachte Tristan geistesabwesend. Eine sorgfältig geschützte Karte einer Welt, die schon vor tausend Jahren gestorben ist. Wegweiser ins Nichts.

»Heiliger All-Gott«, murmelte Nielash Mousa, der Segner von Sorbold.

»Ist das ein Segen oder eine Bitte um Vergebung?«, giftete Philabot Griswold, der Segner von Avonderre-Navarne.

Karsricks Augen richteten sich zusammen mit allen anderen im Raum auf die beiden heiligen Männer, die hinter der Bühne erbitterte Feinde und Rivalen um das einzige Recht waren, den Weisheitsring des Patriarchen, seine weiße Robe und den sternförmigen Talisman zu tragen. Als die Nachricht aus Sepulvarta drang, dass die letzten Tage des Patriarchen gekommen waren, hatte sich die Feindschaft der beiden Männer bis zur Weißglut erhitzt. Während der ganzen Festlichkeiten hatten sie einander angegiftet und verhöhnt und sich mit verschiedenen Adligen gezeigt, sich heimlich getroffen und verstohlen miteinander geredet.

In Karsricks Augen war all dieses Gehabe reine Zeitverschwendung gewesen. Der Patriarch konnte seinen Nachfolger selbst bestimmen und seinen Ring an einen Seligpreiser seiner Wahl weitergeben, auch wenn eine solche Erklärung wohl nicht bevorstand. Wenn er das nicht tat, würde die große Waage von Jierna Tal, dem Ort der Gewichtung, entscheiden, wo der alte Ring der Weisheit auf die eine Waagschale gelegt wurde, während der zu richtende Mann auf der anderen Schale saß. Wie dem auch sei, die Anstrengungen der beiden heiligen Männer, an die Macht zu gelangen, waren völlig sinnlos.

Auf dem Fest hatte Griswold scheinbar die Oberhand gewonnen. Er war bei weitem der mächtigste Seligpreiser in Roland, was noch dadurch unterstrichen wurde, dass der Karneval in seinem eigenen geistlichen Herrschaftsgebiet stattfand. Eingeweihte aus dem Hof des Patriarchen verbreiteten jedoch das Gerücht, dass Mousa, der einzige nichtcymrische Seligpreiser und Segner eines ganzen Landes, die bevorzugte Wahl des Patriarchen war. Falls sich die Nachfolge tatsächlich an der Waage entscheiden sollte, würde es sicherlich nicht gegen Mousa sprechen, dass Jierna Tal in Sorbold lag.

In welcher Gunst Mousa vor dem Fest gestanden haben und welches Vergnügen er aus diesem Gerücht gezogen haben sollte, nun war alles verloren. Obwohl niemand das Schweigen in der Bibliothek aus Rücksicht auf den Kummer von Cedric Canderre und Quentin Baldasarre gebrochen hatte, war es aufgrund des schon beinahe sichtbaren Frostes in der Luft nur allzu deutlich, wem die Geistlichen und Adligen Rolands die Schuld an dem Angriff gaben. Der Segner von Sorbold, ein sonst unerschütterlicher Mann mit dunkler Haut und sanften Zügen, war grau geworden. Das Gesicht war von Sorgenfalten durchzogen und mit Schweißperlen bedeckt.

Als Griswold auf ihn zukam, stand er langsam auf.

»Das ... das war eine unerklärliche Tat«, sagte er und stützte sich mit der Hand auf dem Tisch vor ihm ab, um das Gleichgewicht zu wahren. »Sorbold das heißt, die Krone weiß nichts davon, dessen bin ich mir sicher.« Er betastete nervös das heilige Amulett an seinem Hals, das wie die Welt geformt war.

Griswold verschränkte die Arme über der Brust, wobei das Amulett, das er trug und das die Gestalt eines Wassertropfens hatte, deutlich klirrte. »Man sollte doch wohl davon ausgehen können, dass eine Kriegshandlung, an der eine gesamte Kolonne königlicher Soldaten beteiligt ist, wenigstens unter stillschweigender Erlaubnis des Prinzen oder der Königin durchgeführt wird«, sagte er überheblich. »Was insbesondere für eine Handlung gilt, die Friedensverträge verletzt und Scheußlichkeiten an den Einwohnern eines benachbarten Landes begeht einer früher einmal verbündeten Nation.« Er blieb vor seinem Widersacher stehen. Der Segner von Sorbold richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und wandte sich an die anderen.

»Ich kann euch versichern, dass dieser schändliche Angriff nicht von der Regierung Sorbolds gebilligt war«, erklärte Mousa mit einer Stimme, die nichts von der Angst verriet, die auf seinen Zügen lag. »Ich will ausdrücklich hervorheben, dass Sorbold keinerlei Feindschaften mit Roland oder einem anderen seiner Nachbarn wünscht. Selbst wenn es so wäre: Der Kronprinz hält am Krankenbett seiner Mutter, Ihrer Durchlaucht, der Königinwitwe, Wache und hätte niemals diesen Zeitpunkt für einen Angriff gewählt.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, höhnte Griswold.

»Ich bin hier, bei aller Liebe des All-Gottes!«, brummte Mousa. »Glaubst du, sie würden das Leben ihres einzigen Seligpreisers auf diese Weise gefährden?«

»Vielleicht will dir der Kronprinz damit etwas sagen«, meinte Griswold.

Mousas dunkles Gesicht wurde rot vor Zorn. »Möge die Ceere dich schlucken, Griswold! Wenn du nicht an meinen Wert in meinem Lande glaubst, will ich dir wenigstens versichern, dass wir in Roland mit einer hundertfach größeren Streitmacht einmarschiert wären, wenn wir es hätten angreifen wollen! Du Narr! Unser eigenes Volk befand sich hier auf dem Fest! Du hast sämtliche Anschläge auf die Einwohner von Tyrian und andere orlandische Provinzen durch dein eigenes Volk stets als ›zufällig‹ oder ›unerklärlich‹ abgetan. Du hast nie Verantwortung für all diese Gewalttaten übernommen! Kannst du nicht begreifen, dass das hier genau dieselbe Situation ist?«

»Das ist sie nicht«, sagte Stephen Navarne ruhig. Die anderen drehten sich um und sahen, dass der Herr von Haguefort in der offenen Tür stand. Er war so leise eingetreten, dass niemand ihn kommen gehört hatte.

Der Herzog von Navarne durchquerte de» weitläufigen Raum und blieb unmittelbar vor Nielash Mousa stehen, der bei diesen Worten wieder blass geworden war. Stephen legte die Hand unbeholfen auf den Oberarm des Seligpreisers und stellte fest, dass dieser zitterte.

»Es ist nicht dasselbe, weil es bisher noch keine Raubzüge von Sorbold aus gegeben hat. Das ist der erste, von dem ich weiß. Die Tatsache, dass der Wahnsinn, der die anderen Angriffe verursacht hat, jetzt auch auf Sorbold übergegriffen hat, ist höchst beunruhigend, aber nicht gänzlich unerwartet. Bisher hatten sich die Überfälle auf Tyrian und Roland beschränkt.«

»Und auf Ylorc«, sagte Tristan Steward mit fester Stimme.

»Ich habe dir letzten Sommer gesagt, dass die Bolg meine Untertanen angegriffen haben, aber du hast dich nicht darum gekümmert.«

»König Achmed hat es verneint«, meinte Quentin Baldasarre.

In Tristans Augen glühte es. Er griff in seinen Stiefel, zog ein kleines Wurfmesser mit drei Klingen hervor und warf es Baldasarre vor die Füße. Es schlug laut klappernd auf dem Steinboden auf.

»Er hat auch verneint, Waffen an Sorbold zu verkaufen. Hier kannst du sehen, wie viel sein Wort wert ist.« Der Herr von Roland sah Baldasarre kalt an. »Für dieses wertlose Wort musste dein Bruder sein Leben lassen.«

Baldasarre sprang von dem Ledersofa auf und hatte den Raum schon halb durchquert, als die letzten Worte aus Tristans Mund kamen. Seine Muskeln zuckten vor Wut. Lanacan Orlando war es gelungen, den Arm des Herzogs zu packen. Der Seligpreiser wurde von ihm mitgeschleift und stellte sich nun zwischen Tristan und Quentin.

»Bitte«, flüsterte der Seligpreiser. »Nicht noch mehr Gewalt, bitte. Entehre in deiner Wut nicht das Andenken deines Bruders, mein Sohn.«

»Er ist in der Wärme des Nachlebens und hat uns alle gerettet«, sagte Ian Steward.

»Dunstin Baldasarre ist einen Heldentod gestorben«, psalmodierte Philafoet Griswold.

»Wie Andrew Canderre«, fügte Ian Steward rasch hinzu.

Cedric Canderre wollte gerade etwas dazu sagen, doch seine Worte wurden von dem Knarren der Doppeltüren erstickt, die sich nun öffneten und Llauron, dem Fürbitter der Filiden, Einlass gewährten. Die Generäle des Fürbitters hatten Stephens Heer unterstützt, und Khaddyr hatte sich zusammen mit den Heilern von Navarne um die Verwundeten gekümmert, während Gavin den Spähtrupp anführte, der den sorboldischen Angriff untersuchte. Llauron nickte Stephen zu, ging dann still zum Schrank neben Ihrman Karsrick und goss sich einen Finger breit vom Branntwein ein. Nun war die Karaffe leer.

Als Cedric Canderre seine Stimme wiedergefunden hatte, war sie fest und widersprach dem Schmerz in seinen Augen.

»Ich will nicht mehr darüber reden«, sagte er nur. »Madeleine und ich müssen in mein Land zurückkehren, um Andrews Beerdigung vorzubereiten und Jecelyn zu trösten.« Er räusperte sich und warf einen scharfen Blick auf die anderen Herzöge; dann sah er Ian Steward an, den Seligpreiser von Canderre-Yarim. »Sie braucht jetzt viel Unterstützung und Trost, Euer Gnaden. Sie erwartet im Herbst Andrews Kind.«

Eine schwere Stille setzte ein und legte sich über die Bibliothek, als die heiligen Männer und Regenten einander ansahen. Schließlich sagte Tristan Steward: »Hab keine Angst, Cedric. Madeleine und ich werden uns um das Kind und seine Erziehung kümmern, als wäre es Andrews richtiger Erbe.«

Canderres Kopf schnellte zurück, als wäre er geschlagen worden. Stephen Navarne spürte, wie er in Wut über Tristans Worte unbewusst die Fäuste geballt hatte. Der Herr von Roland hatte Andrews Kind soeben als Bastard bezeichnet. Diese Andeutung war niemandem der Anwesenden entgangen. Nach dem Recht der Thronfolge wäre Madeleine und bis zu ihrer Hochzeit Tristan der Erbe von Canderre, nicht aber Andrews ungeborenes Kind.

Quentin Baldasarre, Andrews Vetter, war bereits wütend auf Tristan. Er trat vor, doch Lanacan Orlando, sein Seligpreiser, ergriff seinen Arm.

»Das Kind ist Andrews rechtmäßiger Erbe, mein Sohn«, sagte Orlando ruhig zu Tristan. Nun schwankte seine Stimme nicht mehr. Er wandte sich an die Geistlichen und die Provinzführer.

»Ich habe die geheime Hochzeit von Andrew und Jecelyn im letzten Sommer durchgeführt. Ihre Vereinigung wurde gesegnet; das Ritual der Einswerdung ist vollzogen. Daher ist jedes Kind aus ihrer Verbindung legitim und Erbe von Canderre.« Der Feuerschein glitzerte auf seiner Halskette, die den Wind symbolisierte und daher keinen Talisman trug.

Stephen warf Llauron einen raschen Blick zu, doch der Fürbitter zeigte keine Anzeichen von Überraschung oder auch nur Neugier. Er sog den Duft des Branntweins ein und nahm einen kleinen Schluck. Zu Stephen hatte Andrew nichts von seiner Hochzeit gesagt. Tristan schien entsetzt zu sein, während sein Bruder Ian, der für gewöhnlich sehr gelassen war, rot anlief. Die Spirale aus roten Juwelen im sonnenförmigen Talisman um seinen Hals blitzte ebenso wütend im Feuerschein auf.

»Warum ist er zu Euch gekommen, Euer Gnaden?«, wollte Ian Steward wissen. »Er ist ein Mitglied meines Sprengeis, nicht des Euren.«

Der Seligsprecher von Bethe Corbair öffnete milde die Hände in einer Geste der Versöhnung.

»Aber Jecelyn ist es. Es war zweifellos ein romantischer Impuls. Sie wollten nicht so lange aufeinander warten, doch beide haben sich auf die wichtige, formelle Zeremonie gefreut, der Ihr im nächsten Monat vorgestanden hättet, Euer Gnaden. Ich nehme an, sie wollten Euch nicht zweimal in Anspruch nehmen.«

Die Herzöge tauschten rasche Blicke aus. Sie begriffen, dass Lanacan Orlando eine Ehrenrettung für Andrew Canderre unternahm, obwohl sich der Seligsprecher nichts anmerken ließ. Tristan Steward stieß heftig die Luft aus, zeigte aber keine Anzeichen dafür, dass er sich über den Fehlschlag seines Versuches ärgerte, in die Thronfolge Canderres zu gelangen.

Schließlich sagte Cedric: »Ich danke Euch, Euer Gnaden, für alle Wohltaten, die Ihr meinem Sohn erwiesen habt.« Er wandte sich an seine Mitregenten. »Ich werde euch jetzt verlassen. Ich habe Tote zu begraben, wie ihr alle.«

»Du wirst noch mehr zu tun haben, wenn du nicht noch einen Moment zuhörst«, sagte Tristan Steward.

Der harsche Ton erregte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden im Raum. Die blauen Augen des Herrn von Roland brannten in einem Feuer, das er nur mühsam unter Kontrolle halten konnte. Er schaute die anderen ernst, beinahe verächtlich an und heftete den Blick kurz auf Nielash Mousa.

»Geht nun, Euer Gnaden«, sagte er in kaum mehr höflichem Ton. »Kehrt zu Seiner Hoheit, dem Kronprinzen, zurück und sagt ihm, was geschehen ist. Teilt ihm mit, dass ich bald mit ihm reden will. Mein Gefolge wird Euch zur Grenze bringen.«

Der Segner von Sorbold starrte ihn eine Weile an, dann nickte er widerstrebend. Er wandte sich an die Herzöge.

»Ich entschuldige mich zutiefst im Namen meiner Landsleute für das, was Euren Untertanen zugestoßen ist«, sagte er und sah dann die anderen Seligpreiser an. »Ich hoffe, meine Brüder in der Gnade, ihr erinnert euch daran, dass wir alle Kinder des All-Gottes und Söhne des Schöpfers sind. Welches Böse auch immer diese tragische Gewalt unter den orlandischen Einwohnern und den Lirin von Tyrian angerichtet hat, greift nun auch nach Sorbold über, aber es wird in keiner Weise von der Krone entschuldigt. Bitte erinnert euch immer daran und behaltet einen kühlen Kopf. Ich versichere euch, dass der Prinz eine Wiedergutmachung leisten und alles in seiner Macht Stehende tun wird, damit so etwas nie wieder geschieht.«

Er wartete auf eine Reaktion, doch die Herzöge und Seligpreiser Rolands schwiegen auf seine Worte. Nach einigen peinlichen Augenblicken verneigte er sich und verließ die Bibliothek. Tristan Steward wartete, bis sich die Tür hinter Mousa geschlossen hatte, dann drehte er sich mit kaum verhohlenem Zorn um und stellte sich gegen die Regenten und Geistlichen.

»Ich habe euch alle seit einiger Zeit gewarnt, dass so etwas geschehen wird und wir dagegen etwas unternehmen müssen, aber ihr habt meine Warnungen nicht beachtet jeder Einzelne von euch.« Er sah Stephen scharf an. »Nun ist die Wintersonnenwende verflucht und mit dem Blut der Einwohner aus all unseren Provinzen und sogar aus Sorbold befleckt. Ich werde diesen schändlichen Mangel an Vorbereitung nicht länger hinnehmen. Wenn ihr blind gegen das bleiben wollt, was um euch herum vorgeht, soll es mir Recht sein. Aber ich werde nicht mehr danebenstehen, wenn orlandische Untertanen abgeschlachtet werden.

Daher berufe ich mich auf meine Rechte als Hochregent und Prinz der Hauptprovinz. Ich erkläre hiermit meine Oberherrschaft über alle Heere von Roland und übernehme ihr Kommando. Es ist höchste Zeit, diesen Wahnsinn zu beenden und unsere Streitkräfte unter eine gemeinsame Führung zu stellen unter meine Führung. Jede Provinz, die sich meinem Willen widersetzt, wird aus dem orlandischen Bündnis ausgeschlossen und nicht länger unter dem Schutz Bethanias stehen.«

»Also erklärst du dich zum König?«, wollte Ihrman Karsrick wissen.

»Noch nicht, obwohl das die natürliche Folge sein könnte.« Tristans Blick wanderte von Gesicht zu Gesicht und schätzte die Reaktionen der einzelnen Herzöge und Seligpreiser ab.

»Mein Titel ist nicht wichtig, das Überleben Rolands dagegen sehr. Der cymrische Krieg hat dieses Land in eine lächerliche Ansammlung von Einzelstaaten und Streitereien aufgeteilt und uns an den Rand der Katastrophe gebracht. Nie wieder! Zu lange haben wir uns voreinander verneigt und angebiedert und sind dieser Frage ausgewichen, um unsere lächerliche eigene Wichtigkeit zu bewahren. Nun schützt mein Heer eure Regionen. Es sind Bethanias Soldaten und Bethanias Versorgungstruppen gewesen, die schon seit Jahren den Frieden in Roland aufrechterhalten haben...«

»... mithilfe einer großen Summe von Steuergeldern«, beendete Martin Ivenstrand, der Herzog von Avonderre, den Satz. »Jeder Einzelne von uns hätte eine so große Streitmacht wie deine aufbauen können, wenn wir die Steuern zur Verfügung gehabt hätten, die an dich geflossen sind.«

»Sei dem, wie es ist, keiner von euch hat den Schneid, so etwas zu tun«, gab Tristan wütend zurück. »Es ist mein Recht als Hochregent, das Oberkommando zu beanspruchen, und das tue ich hiermit. Alle, die gegen mich sind, stehen nicht länger unter meinem Schutz. Ich werde sämtliche Handelsabkommen mit abtrünnigen Provinzen aufkündigen und auch alle diplomatischen Bande kappen.«

»Das kannst du nicht ernst meinen«, platzte Quentin Baldasarre heraus.

»Ich meine es völlig ernst. Ich werde eure Provinzen von der Hauptroute der Karawanen abschneiden, die Weizenlieferungen aufhalten und euch so vollkommen ächten, dass ihr in jeder Hinsicht ein fremdes Land sein werdet. Ich habe genug von diesem Albtraum mehr als genug. Er hat mich schon weitaus mehr gekostet, als ich zu zahlen bereit bin.« Seine Stimme schwankte, als er an Prudence dachte, an ihren zerstückelten Leichnam, der im Gras von Gwylliams großem Versammlungsplatz in Ylorc gelegen hatte. »Entscheidet euch. Seid ihr für mich? Oder seid ihr draußen?«

Die anderen Herzöge sahen sich entsetzt an. Tristans Stimme war tief vor Kraft; seine Schultern zitterten im Zorn. Die Luft im Raum war so trocken wie in einem Yarim-Sommer geworden. Stephen glaubte, Blut an seinem Gaumen zu schmecken.

Die Stille lastete schwer auf der Bibliothek und wurde nur unterbrochen vom Knistern des Feuers und dem anklagenden Ticken der Uhr.

Schließlich wandte sich Colin Abernathy, der Segner der Neutralen Zone, an Tristan.

»Ich werde jetzt gehen, mein Sohn«, sagte er freundlich. »Es ist nicht richtig, dass ich an diesem Gespräch beteiligt bin, denn mein Sprengel befindet sich nicht innerhalb des Reichs von Roland. Ich möchte jedoch sagen, dass mir dein Plan richtig erscheint. Meiner Meinung nach sollte Roland seine Thronfolgeregelungen abschaffen und sich unter einem einzigen Königshaus vereinigen. Als Ausländer kann ich euch versichern, dass die Klarheit, die sich daraus ergeben wird, sowohl Roland als auch seinen Verbündeten zugute kommen wird.«

Zum ersten Mal, seit er den Raum betreten hatte, lächelte Tristan schwach.

»Vielen Dank, Euer Ehren.«

Abernathy verneigte sich schwankend vor Stephen Navarne. »Ich werde zusammen mit deinem Kammerherrn Vorkehrungen treffen, um die sterblichen Überreste unseres Volkes zu versammeln, das an diesem Tag auf deinem Grund und Boden sein Leben gelassen hat, mein Sohn.«

»Vielen Dank, Euer Gnaden«, erwiderte Stephen. »Er hält sich bereit.«

»Sehr gut. Dann lebt wohl, meine Brüder in der Gnade und meine Regenten. Ich wünsche euch Weisheit bei euren Gesprächen und Entscheidungen.«

Abernathy richtete sich auf, verneigte sich vor den Geistlichen und Adligen, durchquerte die Bibliothek und schloss die Tür vernehmlich hinter sich.

Tristan wandte sich wieder an die übrigen Regenten Rolands.

»Manchmal ist es einfacher, die Weisheit eines Vorhabens von außen zu beurteilen«, sagte er. Er drehte sich zu Stephen Navarne um und brachte die anderen Herzöge mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Kommen wir zur Sache. Du, Stephen du, mein eigener Vetter hast dich mir in den Weg gestellt, als ich schon einmal die Einheit herstellen wollte. Siehst du jetzt, wohin deine Narrheit geführt hat? Zu vierhundert Toten, vielleicht sogar zu doppelt so vielen, weil etliche der Verletzten noch sterben werden. Ihr Blut klebt an deinen Händen, Stephen, weil du nicht auf meine Warnungen gehört hast. Du hast geglaubt, deine klägliche Mauer könne dich schützen. Sie konnte deine Festung nicht einmal vor dem Bauernaufstand im letzten Frühling schützen, vor dem ich dich retten musste. Was ist noch alles nötig, um dich zu überzeugen? Hat die Enthauptung deiner Frau etwa nicht gereicht?«

Ein allgemeines Aufstöhnen hallte durch den Raum.

»Tristan!«, entfuhr es Griswold.

»Deine Zunge ist gefährlich locker, Tristan«, sagte Quentin Baldasarre beißend, befreite sich aus Lanacan Orlandos nervösem Griff und stellte sich zwischen Stephen und den Herrn von Roland. »Klebe sie fest, bevor du sie zufällig herunterschluckst.«

»Wenn du ihn herausfordern willst, Stephen, werde ich gern dein Sekundant sein«, fügte Martin Ivenstrand wütend hinzu.

»Nein«, sagte Stephen, drückte Quentin zur Seite und richtete den Blick auf Tristan. Schweigen senkte sich wieder über den Raum.

»Nein«, wiederholte Stephen. »Er hat Recht.«

Tristan blähte die Nasenflügel und stieß die Luft tief aus. Er öffnete die Fäuste. »Wirst du mir ab jetzt endlich zur Seite stehen?«, verlangte er zu wissen.

Stephen spürte, wie die Blicke der anderen auf ihm ruhten. Er wusste, dass Tristan ihn absichtlich als Ersten herausgefordert hatte, weil sich die anderen Herzöge hinter Stephen stellen würden, egal wie er sich entschied. Schließlich nickte er, wobei er Tristans Blick standhielt.

»Ja«, sagte er.

Ein allgemeines Luftholen sog die Luft aus dem Raum und machte das Atmen für Stephen schwierig.

»Du würdest ihn als König unterstützen?«, fragte Ivenstrand Stephen ungläubig.

»Nein«, antwortete Stephen und beobachtete Tristans Gesicht. »Aber es ist nicht die Krone, die er für sich beansprucht. Wenigstens noch nicht.« Er wandte sich an die anderen, deren Gesichter in verschiedenen Ausdrücken erstarrt waren, die von Abscheu bis Entsetzen reichten. »Wie kann ich die Wahrheit dessen verleugnen, was er sagt? Vor zwanzig Jahren wurde Gwydion von Manosse, der Beste unter uns, mein bester Freund und die größte Hoffnung auf ein neues Zeitalter, beim Haus der Erinnerung ermordet auf meinem eigenen Land. Meine Frau ...« Seine Stimme schwankte, und er senkte den Blick zum Boden. »Meine Frau, die Kinder meiner Provinz und jetzt die geladenen Gäste zu meinem Fest, Dunstin, Andrew, zahllose andere wie könnte ich leugnen, dass Tristan Recht hat? Wie könnte einer von uns dem widersprechen?«

»Du würdest uns wieder in die Hand eines Herrn, eines Königs geben?«, fragte Ihrman Karsrick zweifelnd. »Hast du, der cymrische Historiker, vergessen, wohin das beim letzten Mal geführt hat? Zum Völkermord, der von den vorigen machtgierigen Verrückten angezettelt wurde, die unbedingt auf einer einzigen Führerschaft bestanden.« Sein Blick fing den von Llauron ein, der neben ihm stand, und Karsrick verstummte, als er erkannte, dass er soeben die Eltern des Fürbitters beleidigt hatte. Llauron lächelte nur, prostete ihm mit dem letzten Rest Branntwein in seinem Glas zu und nahm einen Schluck.

»Ich möchte, dass wir Frieden haben«, sagte Stephen mit schwerer Stimme. »Ich will, dass dieser Wahnsinn ein Ende hat. Das, was diese blutigen Übergriffe verursacht, ist offensichtlich zu stark und zu allgegenwärtig geworden. Und es wird immer stärker. Ich bin nicht einmal mehr in der Lage, meine eigenen Untertanen zu schützen. Und wir wissen immer noch nicht, was es ist. Es ist höchste Zeit, dass wir es herausfinden.« Er drehte sich um und sah seinen Vetter an. »Tristan glaubt, es werde ihm gelingen, wenn wir ihn gemeinsam unterstützen. Ich bin der Meinung, dass er es versuchen soll.«

Die anderen Regenten von Roland Cedric Canderre, Quentin Baldasarre, Martin Ivenstrand und Ihrman Karsrick tauschten ernste Blicke aus, während Stephen und Tristan sich weiterhin anstarrten. Schließlich senkte Cedric den Blick und schüttelte den Kopf.

»Also gut, Tristan. Ich werde meinen Marschall sofort nach meiner Rückkehr in den Hohen Turm zu dir schicken. Du kannst mit ihm alles Weitere ausarbeiten.« Tristan nickte dankbar und wandte den Blick erstmals wieder von Stephen ab. Cedric sagte zu Quentin Baldasarre:

»Ich hoffe, du wirst dich meinem Beispiel anschließen, Neffe, und zur Beendigung dieser bitteren Angelegenheit beitragen. Es ist ein tragischer Tag für unsere Familie gewesen; jetzt will ich nur noch meinen Sohn beerdigen und trauern. Ich schlage vor, du unterstellst deine Truppen Tristans Kommando und kümmerst dich dann um deinen Bruder.«

Baldasarre schaute Tristan einen Moment lang an und nickte dann zögernd. Er sah plötzlich alt aus und war aschfahl geworden.

»Ich werde es tun, Tristan, aber ich muss dich warnen: Missbrauche mein Heer nicht. Wenn du diese neue Truppe zu einem so närrischen Unternehmen wie dem Frühjahrsputz einsetzt, in dem du zweitausend deiner eigenen Soldaten den Bolg zum Fraß vorgeworfen hast, verurteilst du damit Roland zum sicheren Tod. Das solltest du wissen.«

»Das weiß ich«, erwiderte Tristan unwirsch. »Aber ich will nicht, dass du meine Befehlsgewalt infrage stellst, Quentin. Entweder erkennst du meine Autorität an, oder Bethe Corbair wird gezwungen sein, das Königreich zu verlassen und sich selbst zu verteidigen. Ist das klar?«

»Ja«, spuckte Baldasarre aus.

»Gut. Und was sagst du, Ihrman? Und du, Martin? Seid ihr mit mir, oder seid ihr draußen?«

Martin Ivenstrand sah zuerst Philabet Griswold an, der widerstrebend nickte, und dann Stephen Navarne. Er stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Avonderre ist mit dir, Tristan. Ich übergebe dir das Kommando über mein Heer, aber nicht über die Seestreitkräfte. Mir gehört die einzige Provinz mit einer Küste, die ich schützen muss.«

»Das wird erst einmal reichen«, erwiderte Tristan, ging zum Schrank und ergriff die Karaffe mit dem Branntwein, die jedoch leer war. Er stellte sie wieder ab. »Und du, Ihrman? Willst du Yarims Los mit Roland teilen?«

»Ja«, sagte Karsrick eisig.

»Gut. Dann geht nach Hause, ihr alle, und schickt nach den Staatsbegräbnissen eure Kommandanten zu mir. Bitte plant diese Zeremonien so, dass ich an beiden teilnehmen kann, denn sowohl Andrew als auch Dunstin waren Madeleines Verwandte.« Cedric Canderre und Quentin Baldasarre, die wie benommen ihre Sachen packten, nickten bloß.

Tristan deutete mit der Hand auf die Segner.

»Ich wäre Euch dankbar, Eure Gnaden, wenn Ihr so freundlich wäret, in meinem Namen ein paar Gebete für den Patriarchen zu sprechen, damit ich meine Führerrolle mithilfe der Weisheit des All-Gottes ausfüllen kann.«

»Und natürlich auch für die Seelen der Verstorbenen«, sagte Llauron.

Der Herr von Roland fing den Blick des Fürbitters der Filiden auf und räusperte sich.

»Natürlich«, sagte er hastig. Er schaute in die blauen Augen des Fürbitters und entdeckte Milde darin. »Vielen Dank für Eure Hilfe heute, Euer Gnaden. Welch ein Glück, dass der Hauptpriester der Natur unter uns weilte.« Llauron nickte nachlässig und leerte dann sein Glas mit einem letzten Schluck. »Ich glaube, das ist ein ergreifender Augenblick für Euch«, sagte Tristan. Llauron lächelte schwach. »Es ist für mich ein mehr als ergreifender Tag gewesen, mein Sohn«, sagte er höflich.

»Zweifellos. Es gab eine Zeit, in der wir alle glaubten, Gwydion könne derjenige sein, der Roland wieder zu einem einzigen Reich zusammenfasst. Ich bin sicher, dies bringt schmerzhafte Erinnerungen zurück.«

Llauron drehte sich um, sodass Tristan sein Gesicht nicht sehen konnte, als er das Glas auf dem Schrank abstellte und antwortete:

»In der Tat.«

Stunden später, in den Tiefen seines Wagens, der heimwärts über die gefrorene Straße fuhr, lächelte der heilige Mann.

Insgesamt gesehen, hatten sich die Dinge recht gut entwickelt.

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