Die elysianischen Gärten standen in voller Blüte. Sie waren wild gewuchert und voller Reife und Süße. Rhapsody hatte den letzten Monat vor dem Konzil mit Achmed und Grunthor in Ylorc verbracht und nachts allein in ihrem einsamen, fensterlosen Quartier innerhalb des Kessels gegenüber der Halle geschlafen, hinter der sich Jos Zimmer befunden hatte. Sie hatte es gehasst, aber sich dort sicher gefühlt. Vor einiger Zeit war sie nur einmal von der Senke aus nach Elysian zurückgekehrt und hatte dort eine Liebesnachricht und einen Strauß aus Winterblumen auf dem Esstisch vorgefunden. Anscheinend konnte Ashe noch über die Ebene wandern, nicht aber die Sicherheitsmaßnahmen der Zahnfelsen und des Kessels durchbrechen. Also war Rhapsody dort geblieben, denn sie hatte gewusst, dass er nicht herkommen konnte.
Sie öffnete die Tür des dunklen Hauses und roch den Duft der würzigen Kräuter und getrockneten Blumen, der sie begrüßte. Trotz ihrer Verletzlichkeit und der schlimmen Erinnerungen flößte ihr Elysian ein beruhigendes Gefühl ein. Es war für sie die Heimat, die sie nie gehabt hatte.
Rhapsody hing den Satinmantel auf und zog die dazu passenden Schuhe aus. Die Sohlen waren von dem stundenlangen Stehen auf dem Sims abgeschabt und gerissen. Mit müder Hand rieb sie sich die Füße. Dann ging sie durch die Dunkelheit nach oben in ihr Schlafzimmer. Sie öffnete die Tür und fand alles so vor, wie sie es verlassen hatte. Das Bett war gemacht.
Sie hockte sich vor den Kamin im Schlafzimmer. Er war sauber, und es lag Holz für ein Feuer darin, aber er brannte nicht. Heute war sie dankbar dafür, denn sie hatte nicht mehr die Kraft, Brennholz aufzuschichten. Vielleicht war es Achmed gewesen, vielleicht auch Ashe, der ihr diesen Dienst bereits erwiesen hatte. Sie sprach ein einziges Wort, und das Feuer entzündete sich. Die kleinen Zweige knisterten und zischten, als sie für kurze Zeit zu feurigem Leben erwachten, sich dann in Rauch auflösten und zu Asche zusammenfielen.
Rhapsody sah sich im Zimmer um, als das Licht beständiger wurde. Die Feuerschatten huschten über die geliebten Möbel und in die vertrauten Ecken und erweckten Erinnerungen in ihrer Seele, deren Schönheit sie schmerzte. Zwar liebte sie Elysian und vermisste es, wenn sie in Tyrian war, doch sie wusste, dass sie nicht lange hier bleiben konnte. Es war einfach zu qualvoll.
Als die Dunkelheit wich und es hell im Zimmer wurde, fing etwas Helles ihren Blick ein. Über dem zusammengefalteten Paravent in einer Zimmerecke hing ein weißes Hemd das Hemd, um das sie Ashe in jener Nacht hatte bitten wollen, als er ihr die Erinnerungen genommen hatte. Offenbar hatte sie sich daran noch erinnert, und er hatte ihrem Wunsch entsprochen. Rhapsody ging zu dem bemalten Paravent und nahm das Hemd herunter. Sie untersuchte es kurz und fuhr sich damit über die Wange. Es trug noch seinen Geruch, sauber und stürmisch, mit einer Spur der salzigen Ozeangischt. Dieser Duft trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie verfluchte sich, weil sie so verwundbar war. Selbst die Schuldgefühle, die den Tränen folgten, konnten sie nicht veranlassen, das Hemd wegzulegen.
Rhapsody stand lange Zeit da und liebkoste ihr Gesicht mit dem Kleidungsstück. Als es im Raum wärmer wurde, spürte sie, wie Erschöpfung und Traurigkeit sie überkamen. Sie warf sich das Hemd über die Schulter und ging ins Badezimmer. Sie pumpte eisiges Wasser in die Wanne, berührte es und steigerte die Temperatur, bis sie angenehm war. Dann wusch sie sich hektisch das Gesicht, als wollte sie die unsichtbaren Tränenflecken und die gelassene Miene abreiben, die sie den ganzen Tag als Maske getragen hatte.
Sie starrte ihr Spiegelbild im Glas an. Es war ein menschliches Gesicht, für ihre Augen unbedeutend, aber von einer Müdigkeit durchdrungen, die aus allen Poren der erschöpfungsblassen Haut atmete. Es war kein schönes Gesicht. Sie begriff die Reaktionen nicht, die es hervorrief. Es muss die Krone sein, dachte sie. Ich vermute, eine blendende Gloriole aus kreisenden Sternen zwingt jeden zur Ehrfurcht.
Mit einer Gleichgültigkeit, die von ihrer immer stärker werdenden Müdigkeit hervorgerufen wurde, zog sie die Kämme aus dem Haar und bürstete es langsam. Dabei versuchte sie, über die Ereignisse des Tages nachzudenken. Sie putzte die Zähne und spülte den Mund mit einer Flüssigkeit aus, der Anis und Pfefferminze zugegeben waren. Damit hoffte sie, den bitteren Geschmack zu vertreiben, doch es gelang ihr nicht. Die Säure, die ihn verursachte, steckte tief in ihr. Sie schüttelte noch einmal den Kopf, damit sich die langen Haarsträhnen legten, und kehrte ins Schlafzimmer zurück.
Das Feuer brannte nun gleichmäßig und sprang vor Freude auf, als sie den Raum betrat. Rhapsody warf das Hemd auf das Bett, ging zu ihrem Wandschrank und suchte nach einem Knopföffner. Am Morgen hatte ihr Oelendra beim Anziehen geholfen, doch jetzt musste sie allein mit den vielen kleinen Knöpfen am Rücken ihres Kleides kämpfen. Als Ashe da gewesen war, hatte sie nie einen Knopfhaken gebraucht. Die Hilfe beim An und Ausziehen war eines der Dinge, an deren Fehlen sie sich gewöhnen musste, auch wenn Ashes Unterstützung beim Ankleiden oft eher nachteilig gewesen war. Sie lachte über das Bild, das sie abgab. Die lirinische Königin und neue Herrin der Cymrer suchte nach Hilfsmitten, um ihren Körper von den Kleidern zu befreien.
Schließlich fand sie den Haken auf dem Boden hinter einigen Hutschachteln. Ashe hatte auch einen nachteiligen Einfluss auf ihre Ordnungsliebe gehabt. Sie fuhr sich mit dem Haken über den Rücken und löste die Knöpfe mit einer Geschicklichkeit, die von ihren einsamen Tagen herrührte. Es lag ein gewisser Trost darin, dass sie in ihr altes Leben zurückkehren konnte und es trotzdem weiterging. Das Kleid fiel ihr von den Schultern. Sie trat daraus hervor und schaute es einen Moment lang an. Zum ersten Mal in ihrem Leben ließ sie die Kleidung in einem Haufen auf dem Boden liegen.
Sie zog den Unterrock über den Kopf, warf ihn auf den Haufen und kehrte zum Bett zurück. Sie hob das Hemd auf und starrte es an. Die Ärmel waren etwas zerknittert, und ein einziger weißer Weinfleck zeugte noch davon, dass er in jener Nacht beim Essen das Glas umgekippt hatte. Er muss sehr nervös gewesen sein, dachte sie und erinnerte sich, wie sich ein Lachen über sein hübsches Gesicht gelegt hatte. Wie gern sie ihn lachen gesehen und gehört hatte! Das Gefühl des Verlustes quoll wieder in ihrer Kehle hoch. Sie drückte das Hemd gegen ihre nackte Brust und versuchte die Schmerzen zu vertreiben. Das Leinen auf der bloßen Haut erinnerte sie blass daran, wie sie ihn in den Armen gehalten hatte. Gekleidet in nichts als ihre Unterhose, zog sie das Hemd an, schlang die Arme um sich und versuchte dieses Gefühl zurückzuholen.
Es funktionierte nicht, doch sein Duft füllte ihre Lunge. Sie rollte die langen Ärmel hoch. Das Hemd hing ihr bis fast auf die Knie; es war ein wenig wie eine Umarmung. Das war alles, was Rhapsody von ihm geblieben war, und es würde ihr genügen müssen. Sie zog die geblümte Bettdecke zurück und kroch in ihrem seltsamen Nachtgewand zwischen die Laken. Dann überließ sie sich den Tränen der Verzweiflung und hoffte, sie würden ihr Herz auf immer von ihm rein waschen.
In diesem Zustand fand er sie: zusammengerollt im Bett unter der Decke, gekleidet in sein Hemd und schluchzend, als bräche ihr das Herz. Sie hatte ihn weder hereinkommen gehört noch seine Gegenwart gespürt. Er trug seinen Nebelumhang und war unbemerkt hereingeschlüpft. In ihrem Elend erkannte sie ihn erst, als er schon beinahe über ihr stand.
»Aria? Ist mit dir alles in Ordnung?«
Wie ein abgeschossener Pfeil sprang Rhapsody aus dem Bett. In ihrem Gesicht spiegelten sich Entsetzen und Panik wider. Sie schoss hinter den Paravent. Die Überraschung hatte ihre Tränen gestillt.
»Ashe! Was, um alles in der Welt, tust du hier? Gute Götter, geh! Bitte.«
Ein Durcheinander von Empfindungen durchfuhr Gwydion, als sie an ihm vorbeistürmte:
Schmerz angesichts ihres Leids, Belustigung über ihre Reaktion, der Wunsch, sie in den Arm zu nehmen, Verlangen nach ihrem Anblick, besonders in diesem Aufzug. Er kämpfte darum, das Lächeln aus seinem Gesicht zu verbannen, und bemühte sich um einen ernsten Tonfall.
»Es tut mir Leid, ich hätte anklopfen sollen.«
»Nein, du hättest erst gar nicht herkommen sollen. Was hast du dir dabei bloß gedacht? Es ist mir egal, ob du der Herr der Cymrer bist. Verlasse dieses Haus sofort!«
Ashe zog den Nebelmantel aus und hing ihn an den Haken neben der Tür. Dann nahm er eine große, schimmernde Perle aus der obersten Schublade des Schrankes und legte sie auf den Schrank. Als Nächstes setzte er sich in einen der Armlehnsessel vor dem Feuer, wo er den Paravent besser im Blick hatte. Er legte die Füße hoch, schaute auf den Haufen zerknüllter Kleider am Boden und lachte laut auf.
»Ich bin erstaunt, Rhapsody. Du wirst nachlässig.«
»Hinaus mit dir!«, befahl sie eindringlicher. »Was bildest du dir ein, einfach herzukommen?«
»Ich wollte dich meiner Frau vorstellen«, erwiderte er mit steigender Belustigung. »Vielleicht erinnerst du dich, dass ich das nach dem cymrischen Konzil tun wollte.«
Rhapsody keuchte entsetzt auf. »Wie bitte? Du hast sie hergebracht? Gute Götter, was ist denn mit dir los? Das Konzil ist noch gar nicht vorüber. Ich dachte, ein paar Tage oder Wochen später...«
»Oder Monate, oder Jahre ... Mir war klar, dass du so denkst. Du wärest nicht lange genug hier geblieben, damit ich sie dir vorstellen kann. Du vergisst, dass ich dich sehr gut kenne, Rhapsody.« Seine Augen leuchteten im Feuerschein. Er genoss diesen kleinen häuslichen Streit.
»Wie kannst du es wagen«, flüsterte sie. In ihren Augen bildeten sich Tränen der Wut. »Du hast kein Recht, mir zu sagen, was ich tun und lassen soll. Das ist mein Haus, falls du es vergessen hast. Und jetzt geh!«
Gwydion sprang auf. »Sag das nicht«, meinte er ernst. Er kannte ihre nächsten Worte schon:
Du bist hier nicht willkommen. Er wollte auf keinen Fall, dass ihre Fähigkeit des Benennens dies zur Wahrheit machte. »Es tut mir Leid. Komm heraus, damit wir reden können.«
Allmählich geriet Rhapsody in Panik. »Wo ist sie? Ich spüre ihre Anwesenheit in meinem Haus nicht einmal. 0 nein! O nein! Bitte. Ashe, geh jetzt. Wir können morgen auf dem Konzil miteinander reden, das verspreche ich dir. Aber jetzt geht beide!«
»Ich gehe nirgendwohin, solange du nicht hervorkommst und mit mir sprichst. Und es ist niemand sonst hier; wir beide sind allein. Komm schon. Stell dich dieser Sache, wie du dich allem stellst, Rhapsody. Es sieht dir nicht ähnlich, dich zu verstecken.«
Ihre Wut wurde immer stärker. »Es geht dich nichts an, wie ich mich verhalte oder was ich von nun an außerhalb der Politik tue, Ashe.«
»Falsch. Komm heraus, ich gehe sowieso nicht.«
»Und ich bin nicht angezogen.«
»Das habe ich bemerkt. Umso besser. Komm heraus. Bitte.«
Sie lugte hinter dem Paravent hervor. Ihr Gesicht war ein Kaleidoskop aus Wut, Entsetzen und Raserei, und Gwydion lachte schallend über die Verwandlungen ihres wunderschönen Antlitzes. Rhapsody nahm ein Buch aus dem Regal, das neben dem Kamin in die Wand eingelassen war, und warf es ihm entgegen. Es traf ihn mitten auf die Stirn.
»Was ist bloß los mit eurer Familie?«, fragte sie in rasender Wut. »Kaum ernennt man euch zu den Herren der Cymrer, und schon verwandelt ihr euch in Narren.«
»Hallo!«, rief Gwydion in gespielter Verärgerung. »Spricht man so mit seinem Herrn und Mitregenten?« Das Wutgekreisch hinter dem Paravent erinnerte ihn an einen pfeifenden Teekessel, und er krümmte sich vor Vergnügen.
»Hau ab!«
»In Ordnung, in Ordnung, Rhapsody«, sagte er und brachte sein Vergnügen mühsam unter Kontrolle. »Ich schlage dir einen Handel vor. Du kommst heraus und hörst dir an, was ich zu sagen habe. Wenn du dann immer noch willst, dass ich gehe, werde ich das sofort tun, ohne jedes weitere Wort. Ist das gerecht?«
»Nein. Ich bin nicht angezogen.«
»Du siehst wunderbar aus. Und nun komm endlich hervor.«
»Himmel, du bist ein verheirateter Mann. Hast du keine Scham?«
»Nicht die geringste. Komm jetzt heraus, oder ich verlange von dir, dass du mir sofort mein Hemd wiedergibst.« Er stellte sich zwischen sie und den Schrank.
Für kurze Zeit kam kein Geräusch mehr hinter dem Paravent hervor. Dann hörte er ein tiefes, trauriges Seufzen, und schließlich kam sie mit einem Ausdruck schwerer Demütigung hervor. Gwydions Herz machte einen Satz. »O Rhapsody, es tut mir so Leid«, sagte er, trat auf sie zu und nahm ihre Hand. Er führte sie zu dem Sessel, in dem er gesessen hatte, und reichte ihr eine ihrer Decken. Er seufzte, als ihre schönen Beine darunter verschwanden.
Sie starrte ins Feuer und sagte nichts. Gwydion sah, wie sehr die Monate der Bedrängnis an ihr gezerrt hatten, und verfluchte sich dafür, so mit ihren Gefühlen gespielt zu haben. Er setzte sich auf den Boden zu ihren Füßen, wie am ersten Tag, als sie ihn hergerufen hatte. Aus seiner Tasche zog er ein kleines Kästchen und öffnete es. Kurz schaute er in das Innere. Dann hielt er es ihr hin.
»Erinnerst du dich noch daran, Aria?«, fragte er mit sanfter Stimme.
Rhapsody schaute ihn kurz an und richtete den Blick wieder auf das Feuer. »Nein.«
»Sieh genauer hin«, bedrängte er sie und versuchte, ihre Aufmerksamkeit Zurückzugewinnen.
»Ist es dir nicht vertraut?«
Sie sah noch einmal in das Kästchen. Darin befand sich ein kleiner Ring, zusammengesetzt aus winzigen Fragmenten des lirinischen Diadems, mit einem wundervollen Smaragd im Mittelpunkt. Sie ergriff das Kästchen und schaute sich den Inhalt genauer an. Bei ihrer Berührung loderte das Feuer der Diamanten auf, wie es bei der Krone der Fall gewesen war. Der Smaragd fing das Licht ein und leuchtete wie eine Sternbeglühte See.
»Es ist wunderschön«, sagte sie und gab ihm das Kästchen zurück. »Aber ich erinnere mich nicht daran.«
Gwydion seufzte. »Na gut. Streif ihn über den Finger.«
Rhapsody kniff die Augenbrauen zu einem Runzeln zusammen. »Mach dich nicht lächerlich.«
»Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie ernster gewesen. Bitte, streife ihn über.«
»Ich auch nicht. Nein.«
Damit hatte er nicht gerechnet. »Rhapsody, um ...«
Sie stand auf und hielt sich das Laken vor den Leib. »In Ordnung. Ich habe gehört, was du zu sagen hattest. Jetzt will ich, dass du gehst. Sofort und ohne ein weiteres Wort. Das hast du mir versprochen.«
»Aber...«
»Nein, nein«, unterbrach sie ihn und hob die Hand. »Sei still. Du hast vorhin die Herrschaft über das vereinigte cymrische Volk angetreten. Es wäre nicht gut, wenn du schon an diesem Tag dein Wort brächest. Du hast es mir versprochen und musst jetzt gehen. Ich werde morgen früh mit dir reden oder zumindest irgendwann während des Konzils, falls es keinen neuen Aufstand gibt.«
Er starrte sie ungläubig an. Sein Humor war seine Verteidigung gegen den überwältigenden Drang gewesen, sie zu packen und nie wieder loszulassen. Drei endlose Monate lang hatte er, der Mann und Drache, Schmerzen gelitten, ihre Magie vermisst, ihre Liebe vermisst, sie vermisst. Er hatte ungeduldig jeden Tag gezählt, war durch die Randgebiete der Zahnfelsen gepirscht und hatte gehofft, einen Blick auf sie erhaschen zu können. Schließlich hatte er eine so große Entfernung wie möglich zwischen sie beide gelegt und sich mit dem Wissen getröstet, dass seine Zeit kommen würde.
Und nun war sie da, doch Rhapsody hatte Angst vor ihm und fühlte sich in seiner Gegenwart verlegen. Er hatte Närrischerweise geglaubt, er brauche ihr nur den Ring an den Finger zu stecken. Er hatte versucht, es so langsam anzugehen, wie er es ertragen konnte, damit all das, was er ihr zu sagen hatte, sie nicht überwältigte. Und wegen seiner Skrupel hatte er sich soeben für wenigstens einen weiteren Tag aus ihrer Gesellschaft ausgeschlossen. Sicherlich würde sie morgen die Gelegenheit finden, niemals mit ihm allein zu sprechen nur um des Anstandes willen.
Tränen traten ihm in die Augen und rollten an den Wangen herab. Er versuchte, gefasst zu bleiben, aber es gelang ihm nicht. Schnell wandte er sich von ihr ab und ging zum Kleiderhaken, nahm seinen Nebelumhang und rannte die Treppe hinunter. Er verfluchte sich wieder dafür, über ihre Tränen gelacht zu haben. Nun war sie von seinen sicherlich unbeeindruckt.
Als Gwydion die Schwelle der Vordertür erreicht hatte, hörte er Rhapsody von oben rufen.
»Ashe?«
Er drehte sich um, ging zurück zum Fuß der Treppe und schaute hoch zu ihr. Ihre Augen waren vor Angst geweitet, und die unordentlichen, schimmernden Haare umwallten ihre Schultern. Sie trug immer noch nichts als sein Hemd und sah wie die perfekte Männerphantasie in Bedrängnis aus.
Langsam kam sie die Treppe herunter. Als sie nur noch wenige Stufen über ihm stand, bewegte sich ihre Hand, die vom viel zu langen Ärmel verborgen wurde, zum Kragen des Hemdes und enthüllte ihren schönen Hals mit der goldenen Kette. Ihre Bewegungen waren zögernd, doch ihre Augen blickten voller Mitgefühl.
»Ich entbinde dich von deinem Versprechen«, sagte sie. »Was wolltest du mir mitteilen?«
»Ich liebe dich«, sagte er. Die Worte kamen ungebeten aus dem einsamsten Ort seines Herzens. Obwohl es nicht das war, was er hatte sagen wollen, war es doch die ehrlichste Antwort auf ihre Frage und das Einzige, zu dem er fähig war. In den 885
Worten schwangen Verlangen, Tiefe und so viel Schmerz mit, wie ihn alle Ozeane zusammen nicht aufnehmen konnten. Diese Worte verbanden zwei Welten, zwei Leben, und ihre Heftigkeit erfüllte Rhapsodys Herz mit Trauer und ihre Augen mit Tränen.
»Du solltest gehen«, sagte sie sanft.
Durch seine eigenen Tränen sah er kaum die ihren. »Willst du mir damit sagen, dass du mich nicht mehr liebst, Aria?«
Sie sah zu Boden. »Nein«, sagte sie, den Blick auf die Füße gerichtet. »Ich habe dir gesagt, ich werde dich immer lieben. Das wird sich nie ändern. Aber es ist nicht mehr von Bedeutung.«
»Das siehst du falsch, Rhapsody. Es ist das Einzige, was von Bedeutung ist. Das Einzige.« Er seufzte und spürte, wie die Pein ein wenig nachließ und allmählich Wärme in seine Seele zurückkehrte. »Ich weiß, dass ich kein Recht habe, das noch einmal von dir zu erbitten, aber willst du mir ein letztes Mal vertrauen? Willst du einfach nur hören, was ich dir zu sagen habe? Diesmal bis zum Ende?«
Rhapsody erkannte die Dringlichkeit in seinen Augen. »In Ordnung«, sagte sie zögernd.
»Aber dann gehst du.«
»Ja. Wenn du es dann noch verlangst, werde ich gehen. Das verspreche ich.«
Ein unwilliges Lächeln spielte um ihre Lippen. »Du solltest aufhören, etwas zu versprechen, was du nicht halten willst.«
»Ich will mein Versprechen unter allen Umständen halten«, sagte er. »Können wir wieder nach oben gehen? Ich glaube nicht, dass die Treppe der beste Ort für dieses Gespräch ist.«
Rhapsody errötete. »Vermutlich hast du Recht«, meinte sie und sah verlegen drein. »Kann ich mir wenigstens einen Morgenmantel umlegen?« Sie sah auf ihre bloßen Beine, und auch der Rest ihres Körpers wurde rot. Sie drehte sich um und ging die Treppe hoch.
»Warum so viele Umstände?«, fragte er. Eine Spur seines alten Humors kehrte zurück.
»Vielleicht gehe ich ja gleich wieder; das ist kaum der Mühe wert.«
Rhapsody kehrte in den Sessel zurück und zog die Decke über sich. Gwydion setzte sich wieder auf den Boden und zog noch einmal das Kästchen mit dem Ring hervor.
»Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, ich hatte dich gebeten, das hier anzuziehen. Weißt du, Rhapsody, wenn du das tust, wirst du alles verstehen. Es wird uns viele Stunden des Erklärens ersparen. Obwohl ich unseren kleinen Streit genossen habe, kann ich auch gut ohne den Zusammenstoß mit einem Buch leben. Bitte erweise mir den Gefallen, meine Mitregentin. Wenn du das tust, wird meine Frau dadurch in keiner Weise bloßgestellt, das schwöre ich.«
Rhapsody musste lächeln. »In Ordnung«, sagte sie und nahm den Ring aus dem Kästchen. In ihrer Hand glitzerte das Schmuckstück mit einer Helligkeit, die sich in ihren Augen widerspiegelte. Sie dachte an andere Augen und einen Nachthimmel in einem anderen Leben. Sie drückte den Ring kurz und spürte die Musik, die von ihm ausging. Ganz Elysian schien in sie einzuschwingen und sanft zu summen, als spielte es die Ouvertüre zu einer bevorstehenden Sinfonie.
»An die linke Hand«, erklärte Gwydion leise. Sie sah ihn misstrauisch an. »Bitte. Vertrau mir.«
Rhapsody steckte sich den Ring an den Finger. Einen Moment lang schaute sie ihn an und wartete auf die große Enthüllung, doch es kam keine. Ihr gegenüber begann die große Perle zu summen. Das Strahlen der Diamanten und des Smaragds im Ring wurde so heftig, dass sie wegschauen musste. Dabei erhob sich Gwydion auf ein Knie, beugte sich vor und küsste sie liebevoll im grellen Leuchten des Rings.
Die Musik wurde lauter, und jeder Ton wurde von einer neuen Harmonie abgelöst. Sie schwoll an, erfüllte zuerst den Raum, dann das Haus, die Insel, die Grotte und schließlich das gesamte unterirdische Herzogtum von Elysian mit dem schönsten Lied, das sie je gehört hatte. Es baute sich zu einem donnernden Crescendo auf und verflüchtigte sich wieder zu den leisesten Tönen, wobei es seine Harmonie beibehielt. Wie eine Flagge, die der Wind von ihrem Pfahl reißt, befreite sich das Lied plötzlich und schwang davon. Es tanzte durch die Luft und über den See und berührte jede Ecke der Höhle mit Freude.
Rhapsodys Blick kehrte zu Gwydion zurück, der sie eindringlich ansah. Als sie sein Gesicht betrachtete, sah sie es auch vor ihrem inneren Auge: undeutliche Bilder aus der vergessenen Nacht, die allmählich zurückkehrten. Sein Antlitz nahm verschiedene Ausdrücke an, alle zeugten von großer Freude. Rhapsody war auf den Ansturm der Erinnerungen schlecht vorbereitet und prallte zurück. Sie streckte die Arme nach Ashe aus. Er packte sie, als sie im Sessel schwankte. Ihre Augen bettelten um Hilfe, bevor sie nach oben rollten und die Welt im Brausen der Erinnerungsflut dunkel wurde.