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Palast des Fürbitters, der Kreis, Gwynwald

Llauron wartete, bis seine Hausdiener sich für den Abend zurückgezogen hatten, bevor er sich zu dem nördlichen Turm des Baumpalastes begab, in dem die Voliere untergebracht war. Llauron durchquerte die labyrinthischen, Holzgetäfelten Gänge des Palastes, hielt kurz an einem rautenförmigen Fenster an und schaute hinaus. Er beobachtete den dunkler werdenden Himmel, in dem der Sturm stärker wurde und durchscheinende Schleier aus Schnee in verzwickten Mustern über die schlafenden Gärten trieben.

Weiter draußen in der Dunkelheit schwankten die niedrig hängenden Äste des Großen Weißen Baumes im Wind; die kahlen Zweige zuckten in einem unheimlichen Tanz. Llauron seufzte. Wie immer lag Weisheit in dieser Warnung.

Leise öffnete er die Tür zur Treppe des Turms und stieg die alten Stufen hoch, die noch immer so glatt und glänzend waren wie damals zu seiner Kinderzeit. Es war eine glückliche Zeit gewesen. Angesichts der Ereignisse seit damals war es schwer zu glauben, dass es hier einmal Liebe oder etwas Ähnliches gegeben hatte.

Die Treppe wand sich über drei Stockwerke hoch zu der runden Voliere, die Gwylliam gebaut hatte, um seine Sperlingspapageien unterzubringen, wenn die Familie im Baumpalast Urlaub machte. Als ihre Kinder noch klein gewesen waren, hatte Anwyn darauf bestanden, die schönen, dunklen Berge von Canrif mindestens einmal im Jahr zu jeweils verschiedenen Jahreszeiten zu verlassen, sodass ihre Söhne einige Zeit am Fuß des Großen Weißen Baumes verbringen, ihn hegen und seine Geschichte lernen konnten, damit sie Achtung vor dem Land ihrer Großmutter, der Drachin Elynsynos, entwickelten, die so lange hier gelebt hatte. Llauron hatte den Baum seit dem ersten Blick geliebt. Es war eine bis in die Tiefen der Seele reichende Hingabe, die während der ganzen Jahre seines Lebens alle anderen Sehnsüchte bis auf eine verdrängt hatte. Er allein begriff die Bedeutung des Baumes und wusste, was es hieß, wenn er unterginge. Doch die Zeit würde kommen, in der Llauron ihn nicht mehr beschützen konnte.

Als er die Treppe hochstieg, sah er die Zweige durch die offene Decke der Voliere. Obwohl der Stamm in einer Entfernung von mehreren hundert Fuß auf einer Lichtung stand, war seine Krone so gewaltig, dass die äußersten Zweige bis zum Dach des Palastes reichten und sich mit den Ästen der Waldbäume vermischten, zwischen denen das Gebäude errichtet war. Auch in der Winterkahlheit hoben sich die weißen Zweige von den anderen ab und leuchteten silbrig in der Dunkelheit.

Ein winterlicher Luftstoß umwirbelte ihn. Llauron zog die Kapuze seiner grauen Robe enger um den Hals und trat hinaus auf den Boden der Voliere, der mit einem dünnen, frostigen Teppich aus Eiskristallen bedeckt war.

Die Käfige umgaben kreisförmig das Innere des Raumes, und die Brutplätze bildeten einen Ring hinter ihnen. Bei seiner Ankunft zwitscherten und trillerten einige der Vögel; sie waren nicht an seine Anwesenheit bei Nacht gewöhnt.

Llauron wischte sich den Schnee von den Schultern und antwortete mit einem Gurren. Beim Klang seiner Stimme beruhigten sich die Vögel wieder. Er ging an den offenen Käfigen vorbei, von denen jeder ein Wunder der Tischlerkunst war, das eines der großen cymrischen Bauwerke darstellte, und begab sich in den geschützten Bereich, wo sich sein Schreibtisch und Tintenfass befanden.

Dort setzte er sich auf den hölzernen Stuhl, öffnete die unterste Schublade, nahm einige kleine Papierbögen heraus und tastete nach seinen Streichhölzern.

Ein warmes Leuchten erschien, als er eines der Hölzer entflammte und die Öllampe unter dem gefrorenen Tintenfass anzündete. Seine Schreibfeder war verschwunden; möglicherweise hatte der Wind, der durch das offene Dach hereinblies, sie fortgeweht. Llauron stand gereizt wieder auf, ging zu den Brutkästen und suchte nach einem Ersatz.

»Mit Eurer Erlaubnis, Madame«, sagte er zu einem Raben auf dem Nest, der ihn argwöhnisch anschaute. Er zog eine lose Feder rasch aus dem Nest, weil er den Raben nicht stören wollte, und kehrte zum Schreibtisch zurück, wo er sein Federmesser herausnahm. Nach einigen Schnitten war das Schreibgerät fertig. Er tauchte das Ende in die tauende Tinte, schüttelte den Eisüberzug ab und schrieb in kleinen Buchstaben:

An König Achmed von Ylorc Eure Majestät!

In großer Sorge habe ich Rs Geschichte über die schreckliche Krankheit gehört, die Euer Volk befallen und Euch auf tragische Weise Eures Heeres beraubt hat. Ich spreche Euch meine Anteilnahme aus und biete jegliche Hilfe an, die Ihr in medizinischer Hinsicht oder bei den Begräbnissen benötigt.

Llauron, Fürbitter Gwynwald

Zufrieden schrieb er diese Botschaft siebenmal ab und löschte dann die Bögen.

Als die Tinte trocken war, blies er die Öllampe aus, rollte die Botschaften zusammen und steckte sie in die Tasche. Er kehrte zu dem Kreis der Käfige zurück und stand einen Moment nachdenklich davor.

Jeder Käfig enthielt sowohl Brüter als auch Botenvögel, die darauf abgerichtet waren, zu dem Gebäude zu fliegen, das ihren Käfig symbolisierte. Die Boten flogen heim zu besonderen Käfigen, wo sie gefüttert wurden, sich ausruhen konnten und oft mit einer Rückantwort versehen wurden, während die Brüter nur innerhalb des Bauwerks blieben und für Nachkommen zu sorgen hatten.

Der Gebrauch der Brüter hatte eine schändliche Geschichte. Anwyn hatte sie mit großem Erfolg im Krieg gegen Gwylliam eingesetzt, um Krankheiten zu verbreiten oder Giftfläschchen zu verschicken, und in einer scheußlichen Schlacht hatten sie glühende Kohlen getragen, die sie über den Strohdächern von Bethe Corbairs Dörfern abgeworfen und sie völlig niedergebrannt hatten.

Diese Waffe war doppelt erfolgreich gewesen, denn Gwylliam hatte die Vögel geliebt und gewusst, dass Anwyn sie nun benutzte, um seine Ländereien zu vernichten. Es war eine beschämende Episode in einer beschämenden Zeit gewesen, und Llauron war froh, dass die Tiere nicht mehr für solche Zwecke eingesetzt wurden, wenngleich das, was er vorhatte, einen ähnlichen Stempel trug.

Das Vogelsystem funktionierte gut, wenn es darum ging, wichtige Botschaften an andere Staatsoberhäupter oder religiöse Führer zu schicken, auch wenn es im Winter nicht so verlässlich wie in den wärmeren Jahreszeiten war. Mit der Einsetzung der königlichen Postkarawane, die Achmed vor einiger Zeit eingeführt hatte, war das Vogelsystem in Vergessenheit geraten.

Llauron schaute nachdenklich in die Käfige, die bis in die Einzelheiten jeweils einem der herzoglichen Paläste glichen: der Großen Halle von Avonderre; Haguefort, der Festung von Herzog Stephen; dem Hohen Turm, wo Cedric Canderre in der Provinz Hof hielt, die seinen Namen trug; dem Richtersitz von Yarim, der Heimat von Ihrman Karsric, ihrem Herzog;

Grünhall, dem Provinzsitz von Bethe Corbair, sowie dem Regentenpalast von Bethania, wo Tristan Steward lebte. Einer der Käfige war ein Modell von Sorbolds Jierna Tal, dem Ort des Gewichtes, wo die großen Gerichtswaagen standen und die verschrobene Königinwitwe mit ihrem Schwächling von Kronprinz lebte.

Er vermutete schon seit langem, dass der Wirt des F’dor einer dieser Männer oder jemand von hohem Rang war, doch trotz seiner jahrelangen Suche war es ihm nicht gelungen, ihn zu entdecken. Der Schreibkrampf, den er sich soeben zugezogen hatte, war den Schmerz und die Anstrengung wert, sobald die falsche Nachricht ihr Ziel gefunden hatte, auch wenn diese ersten sieben Vögel nicht die entscheidenden waren. Llauron nahm eine Hand voll Beinhülsen aus dem Regal unter den Käfigen.

Still griff er in jedes Haus, wählte brütende Vögel aus, die aus Protest über die Störung ihres Schlafes kreischten und zwitscherten. Llauron kraulte ihnen freundlich den Nacken mit dem Finger und machte sanfte Geräusche, damit sie sich beruhigten.

»Es tut mir sehr Leid, deinen Schlaf zu stören und dich aus der Wärme zu nehmen«, sagte er zum ersten Vogel, einer Schneetaube, während er ihr die kleine Büchse an das Bein band.

»Aber ich fürchte, es ist unvermeidbar.«

Er trug sie vorsichtig zum Fenster, das auf den Großen Weißen Baum hinausschaute, blieb dort einen Moment lang stehen und sah den Schneeflocken nach, die im dunklen Wind tanzten. Dann öffnete er das Fenster, schirmte sich gegen den kalten Luftzug ab, warf den Vogel hinaus in die Nacht und schloss das Fenster schnell wieder.

Er wiederholte diesen Vorgang, bis auf jedes der Staatsgebäude ein Brüter zuflog. Dann begab er sich zu dem gewaltigen Käfig, der wie das Gebirgsreich von Canrif aussah. Die Botenvögel in diesem Käfig waren schwarze Mauerschwalben, kleine und zähe Wintervögel mit einer beachtlichen Reichweite, von schlichtem Gefieder und völlig unauffällig. Sie waren sehr verlässlich und häufig für Botschaften an Rhapsody benutzt worden, als sie sich noch in Ylorc aufgehalten hatte.

Llauron wählte Oberlan aus, einen Hahn, seinen Favoriten in diesem Nest, und trug ihn zum Fenster. Er sah dem Vogel in die Augen.

»Du allein musst deinen Weg ohne Fehler finden, alter Knabe. Kann ich mich auf dich verlassen?«

Die Augen des Vogels glitzerten in der Dunkelheit. Llauron lächelte.

»Das habe ich mir gedacht. Fliege zu Rhapsodys Voliere.

Wer immer dich empfängt, wird dich zwar nicht so verzärteln wie Rhapsody, aber man wird dich willkommen heißen; daran habe ich keinen Zweifel. Firbolg-Gastfreundschaft! Oje! Du Glücklicher.« Er ließ den Boten los und sah zu, wie er eine warme Luftströmung erwischte, dann nach Osten in die Nacht abdrehte und aus dem Blickfeld verschwand. Er wartete so lange, bis er den Vogel nicht mehr im Bereich seines Landes spürte, dann ging er zurück zu dem hölzernen Stuhl und ließ sich erschöpft darauf niedersinken.

Der Fürbitter griff in die Falten seiner Robe und holte langsam den Schlüsselring mit Crynellas Kerze hervor. Die kleine Kugel aus Feuer und Wasser glimmerte sanft in der verschneiten Dunkelheit.

»Es tut mir so Leid, Rhapsody«, flüsterte er.

Sorbold

Es schien übermäßig lange zu dauern, Kleidung für den Gladiator zu finden; es war kaum etwas im Zimmer außer einem Seidenhemd und einigen langen Musselinschals, die zu Lendentüchern gebunden waren, wie Rhapsody schließlich herausfand.

Schließlich entdeckte sie unter dem Bett eine fortgeworfene Hose und ein schweres Wollhemd sowie ein sorgfältig zusammengelegtes Taschentuch unter einem Ende des geflochtenen Flickenteppichs. Sie hatte Angst, er könnte wieder zu sich kommen, während sie auf dem Boden lag und unter dem Bett nachschaute. Daher blickte sie immer wieder verstohlen auf die stille Gestalt in den zerwühlten Laken. Trotz ihrer Besorgnis blieb er jedoch selbst dann noch bewusstlos, als sie ihn anzog, ihm Hände und Füße fesselte und in das schwerste der Bettlaken einwickelte.

Rhapsody zog sein Seidenhemd an und brachte schließlich den Mut auf, ihm ins Gesicht zu sehen. Sie hoffte, ihn mit dem Kissen nicht verletzt zu haben. Ein Speichelfaden war ihm aus dem Mund getreten. In seiner Starre schien er weitaus weniger erschreckend zu sein als zuvor. Ihr Magen war noch in Aufruhr, und sie atmete flach, um möglichst ruhig zu bleiben. Jetzt war nicht die richtige Zeit, die Kontrolle über sich zu verlieren.

Trotz allem, was vorgefallen war, empfand sie Mitleid mit ihm. Mit der möglichen Ausnahme von Treilus hielt sich keiner der Leute aus freiem Willen an diesem Ort auf. Da sie wusste, woher er kam, wünschte sie, dass sie sich unter anderen Umständen getroffen hätten. Dennoch zweifelte sie nicht daran, dass er ihr das Mitleid, das sie für ihn empfand, nicht zurückgeben würde, wenn sie ihn nicht von hier fortbrachte und in die Obhut der Verstärkung gab, die hinter der Grenze auf sie wartete.

Mit dem Taschentuch, das sie unter dem Teppich gefunden hatte, wischte sie ihm den Speichel aus dem Gesicht und stand auf. Dabei fiel ein silberner Blitz aus dem Leinen. Sie bückte sich, um ihn aufzuheben. Es war das Halsband einer Frau, roh aus Silber gearbeitet, ohne Reiz. Vielleicht ein Liebeszeichen von einem Sklavenmädchen? Rhapsody erinnerte sich daran, wie die Frauen still geworden waren, als Treilus seinen Namen ausgerufen hatte, und entschied, dass das sehr unwahrscheinlich war. Was immer es war, es musste warten. Sie steckte das Halsband zusammen mit den Resten der Flüssigkeit in ihren Beutel und schlich wieder zur Tür.

Der Gang zu den Quartieren der Gladiatoren war leer und still mit Ausnahme der unterdrückten Schreie, die gelegentlich durch die schweren Türen drangen. Die Bewohner, die in diesem Gang lebten, waren eindeutig mit anderen Dingen beschäftigt und würden sie nicht gehen sehen. Ihre Partnerinnen für diesen Abend verdienten sich gerade ihren Unterhalt und erfüllten die Nacht bisweilen mit übertrieben ekstatischen Lauten, weil sie zweifellos vermeiden wollten, als unwillig zu gelten.

Rhapsody erschauerte. Sie eilte hinunter zu den Türen mit den eingelassenen Fenstern zu dem Hof, in dem Khaddyr und seine Soldaten warten sollten.

Als sie den Hof erreicht hatte, spähte sie hinaus in die verschneite Nacht.

Niemand war dort.

Das Fenster reichte vom Boden bis zur Decke und schaute auf einen leeren Hof hinaus, der offenbar den Kämpfern als Übungsplatz vorbehalten war. Der Schnee fiel leicht, als sie die Tür öffnete und auf den gefrorenen Boden trat. Die Pflastersteine stachen ihr in die nackten Füße. Sie krümmte sich und dachte an den langen Marsch zum Treffpunkt, falls die Verstärkung nicht bald eintraf.

Nach einigen Minuten wurden ihre Füße gefühllos. Rhapsody ging zurück durch die Tür, schloss sie vorsichtig und hastete wieder in die Quartiere der Gladiatoren.

Sie überprüfte erneut Constantins Atmung. Er war noch bewusstlos, lebte aber. Nach einem weiteren vorsichtigen Blick den Gang entlang packte sie das Laken und zog es aus dem Zimmer.

Als sie schließlich wieder vor der Tür zum Hof stand, gab es immer noch kein Zeichen von Khaddyr. Ein tiefes Seufzen erklang aus dem Laken, doch der Gladiator bewegte sich nicht. Rhapsody öffnete die Tür. Schnee fegte über ihren beinahe nackten Körper. Nun zitterte sie vor Kälte genauso stark wie vorhin vor Angst.

»Sei still«, murmelte sie. »Wenigstens bist du angezogen und hast ein Laken. Ich hätte dich auch in einen Lendenschurz stecken können; dann wüsstet du, wie ich mich jetzt fühle.«

Nur der heulende Nachtwind antwortete ihr.

Als Rhapsody den Treffpunkt erreicht hatte, waren ihre stechenden Füße von Blut gestreift. Sie verfluchte ihr fehlendes Schuhwerk und wünschte, es wäre ihr möglich gewesen, ihre Schuhe an einem Platz zu verstecken, wo sie sie hätte holen können, doch der Ausgang war mindestens eine halbe Meile von der Arena entfernt, und sie hatte keine Möglichkeit, nach ihnen zu suchen.

Khaddyr und die Verstärkung waren bisher nicht eingetroffen, doch Rhapsodys Stute stand noch im selben Dickicht, wo sie das Tier angebunden hatte. Keine Spuren außer denen von den Hufen des Pferdes unterbrachen die geschlossene Schneedecke, die sich seit Rhapsodys Abwesenheit gebildet hatte. Das Tier schien froh zu sein, sie zu sehen. Rhapsody durchsuchte die Satteltasche und holte eine Ration Weizenmehlkuchen hervor, die sie dem Pferd als Entschädigung für das lange Warten gab. Dann zog sie die wenigen Kleidungsstücke heraus, die sie mitgebracht hatte eine Hose und Handschuhe und streifte sie rasch über.

Inzwischen war der Schneefall heftiger geworden. Rhapsody beschirmte die Augen und schaute in den dunkler werdenden Himmel. Ein Sturm zog auf. In der Ferne, aus der sie gekommen war, sah sie, wie der Wind auffrischte und die Felder zwischen Sorbold und dem Wald niederdrückte. Die Lichter des Stadtstaates von Jakar blitzten am Rande ihres Blickfeldes auf und verschwanden allmählich, als der Schneefall heftiger wurde. Rhapsody rieb sich die Arme und versuchte, sich warm zu halten. Das Seidenhemd, das sie aus Constantins Zimmer mitgenommen hatte, hielt kaum den Wind und schon gar nicht die Kälte ab. Khaddyr und die Verstärkung sollten schon längst hier sein, dachte sie kläglich, als der Gladiator erneut unter seinem Laken ächzte. Er musste vom Boden verschwinden, ansonsten würde er erfrieren.

Sie entdeckte einen starken Baum in dem Wäldchen und führte ihr Pferd zu ihm. Sie wand ein Seil um ihn, schlang es um ihre Hüfte und die des Tieres und hievte Constantins schlaffe Gestalt mithilfe dieses Flaschenzuges auf den Rücken der Stute. Der Gladiator war mindestens dreimal so schwer wie sie.

Es gelang ihr gerade noch, ein Unglück zu verhindern, als ihr das Seil aus den tauben Fingern rutschte. Der schwere Körper hätte das Pferd verletzen können, wenn sie das Seil nicht rechtzeitig gepackt hätte. So aber wurde sie eine kurze Strecke auf dem Bauch durch den Schnee geschleift.

Schließlich hatte sie ihn sicher untergebracht und wickelte ihn noch fester in das Laken und einige Fetzen, die sie bei sich hatte. Sie gab ihm etwas vom Inhalt ihres Weinschlauches und ihrer Essensration ab, als er ein wenig zu sich kam. Nach dem Essen schickte sie ihn mit dem Rest des Schlafmittels zurück in die Bewusstlosigkeit. Die Dämmerung nahte, und der Schnee mischte sich mit Regen und Eis und brannte auf Rhapsodys nackter Haut. Sie suchte den Horizont ab, sah aber weit und breit niemanden herankommen. Der schreckliche Gedanke, den sie die ganze Nacht über verdrängt hatte, fand nun neue Nahrung in ihrem Herzen. Vielleicht würde Khaddyr überhaupt nicht kommen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Sie hatte keine nennenswerten Vorräte an Essen und Wasser, und sie waren den Elementen derart ausgesetzt, dass keiner von ihnen die Kälte lange überleben würde. Rhapsody benutzte ihre Feuermacht, um sich und ihren Gefangenen zu wärmen, doch nach Sonnenuntergang forderte der eisige Wind seinen Tribut, und ihre Kraft verebbte.

Als schließlich ein ganzer Tag vergangen war, kam sie zu dem Ergebnis, dass sie auf sich allein gestellt war und das auch bleiben würde. Sie hatte keine Ahnung, ob ihre Verstärkung überfallen oder getötet worden war oder sich nur verirrt hatte, doch nun konnte sie nicht länger warten. Sie wusste, dass Llauron sich um ihr pünktliches Eintreffen gekümmert hatte; also waren sie sicherlich nicht mehr in der Lage, ihr zu helfen.

Rhapsody überprüfte ihre winzigen Vorräte sowie die verbliebene Ausrüstung und zog die Riemen fest, mit denen sie den Gladiator auf das Pferd gebunden hatte. Sie dachte daran, wie ihre Mutter immer darauf bestanden hatte, dass sie einen Ersatzschal mitnahm, wohin sie auch ging. Dieser Rat stellte sich nun verspätet als richtig heraus. Der Wald war ihr unbekannt; sie hatte erwartet, sich für den Rückweg nach Tyrian auf Llaurons Männer verlassen zu können. Vielleicht waren sie und Ashe hier vor langer Zeit durchgereist. Falls das stimmte, würde sie möglicherweise auf dem Weg die Orientierung wieder finden. Jedenfalls konnte sie nicht länger an diesem Ort bleiben.

Sie gab der Stute einen geschnalzten Befehl und ritt in den dichter werdenden Schnee und den Wind hinein. Ihre Füße wurden taub, und ihr Herz sehnte sich nach Oelendras knisterndem Kamin und der Wärme, die sie dort finden würde.

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