Sie stand am Fenster und hörte dem Nordwind zu, wie er durch die blassen Felsspitzen heulte und sein Jagdlied jammerte. Das Feuer in dem gewaltigen Kamin brannte kalt und still in den Schatten ihres ansonsten dunklen Nestes. Das Licht spiegelte sich vor ihr in den großen Scheiben aus dickem Glas wider und glühte in ihrem kupferigen Haar. Wellen aus rotgoldenem Leuchten umhüllten die frostigen, kahlen Gipfel dahinter.
Eine weitere einsame Nachtwache, nicht anders als die anderen in den letzten Jahrhunderten hier innerhalb der toten Berge.
Die Seherin sah hinunter auf das trübe Fernglas in ihren Händen, das ebenfalls im Widerschein des Feuers matt glänzte. Sie schloss die Augen und spürte das beinahe erotisch intensive Zerren der Nacht, das in diesem Artefakt schlummerte.
Sie hob erneut das Instrument vors Auge und suchte die Zeitwellen nach einer tröstenden Erinnerung ab, die sie in einer froststarrenden, leeren Nacht warm zu halten vermochte, doch sie entdeckte nichts Beruhigendes, nur eine Geschichte schweigender Anklagen. Sie ließ das Glas sinken.
Meine Flamme.
Sie wirbelte entsetzt herum, als sie die volle und süße, leise und knisternde Stimme hörte. Ihre sprühenden blauen Augen blickten mit schlangenhafter Schnelligkeit in dem großen Zimmer umher; die vertikalen Pupillen vergrößerten sich im Takt mit dem Schlag ihres dreikammerigen Herzens.
Hier, Süße.
Langsam legte sie das Fernglas zurück auf den Altar und ging vorsichtig zum Feuer, das nun dunkler brannte. Die Flammen tanzten und wanden sich bei ihrer Annäherung.
»Zur Leere mit dir«, flüsterte sie. »Du wagst es, zu mir zu kommen? Nach all der Zeit?«
Aus dem kalten, dunklen Feuer hörte sie ein unmissverständliches Kichern.
Bitte, meine Liebe, sei nicht so verdrießlich. Ich komme, wenn ich kann. Das weißt du.
»Vierhundert Jahre?«, spuckte sie aus und zog ihren Brokatmantel enger um die Schultern.
»Du kommst nur, wenn es dir passt. Was willst du diesmal?«
Das Licht des Feuers zuckte beinahe fröhlich, doch mit einer düsteren Unterströmung.
Ich habe dich vermisst. In einem wirbelnden Rascheln von alter Seide wandte sie sich ab. Und bald ist die Zeit gekommen. Ich habe geglaubt, du willst vorbereitet sein.
»Verflucht seien deine Rätsel! Was willst du?«
Eine Kohle prasselte und explodierte dann mit einem scharfen Plopp, gefolgt von einem anhaltenden Zischen.
Dich, meine Liebe, flüsterte die seidene Stimme aus den Flammen.
Etwas in den Tiefen ihrer Einsamkeit stach sie schmerzhaft.
»Fort mit dir«, murmelte sie und blieb mit dem Rücken zum Feuer stehen. »Ich habe getan, was du wolltest. Sieh dir doch an, was daraus geworden ist.« Sie deutete wütend auf das gewaltige, zerfallene, leere Schloss. »Du hast mir die Alleinherrschaft versprochen, und du hast deinen Eid gehalten. Hier weile ich, die unangefochtene Königin der erfrorenen Welt, verbannt von allen, die mir lieb waren, vergessen von der Welt und den Menschen. Ein Wesen der Vergangenheit wie ironisch. Ich will deine leeren Versprechungen nicht mehr; ich will dich nicht mehr. Geh weg.«
Komm näher, Süße.
»Nein.«
Bitte. Verschwunden war der schmeichelnde Tonfall, ersetzt von etwas Dunklerem, Glühenderem. Es war die heisere Klangfarbe, die sie vor langer Zeit gehört hatte, und das Fleisch zwischen ihren Beinen brannte wieder. Widerstrebend drehte sie sich um; das Feuer sprang erregt auf, als sich ihre Blicke trafen.
Gwydion lebt.
Die Schlangenaugen öffneten sich weit und verengten sich dann sofort wieder.
»Unmöglich«, sagte sie trotzig. »Dieser pathetische Lirin-Verräter hat ihn zum Schleier des Hoen getragen, wo er gestorben ist. Er ist nie zurückgekehrt; das hätte ich gesehen.«
Setz dich neben mich, meine Süße. Das Feuer knisterte einladend. Bitte.
Sie starrte weiterhin in das kalte Inferno und sank langsam zu Boden. Ihr Mantel umwisperte sie, als er in seidenen Wogen von ihr abglitt.
Das Feuer schien noch heller, warf flackernde Schatten und schließlich auch Hitze in das kalte Zimmer. Schweißperlen befeuchteten ihren Haaransatz und Nacken.
»Unmöglich«, wiederholte sie.
Anscheinend gibt es Dinge auf dieser Welt, die deinen Augen verborgen bleiben, meine Flamme. Ein Aufbrausen neuer Hitze erfolgte, dann fiel das Feuer zurück und brannte warm weiter. Es ist gleichgültig. Ihn suche ich nicht mehr.
»Warum?« Überraschung ließ sie das Wort aussprechen. Sie schluckte hastig, als könnte sie es damit zurückholen.
Die Kohlen glimmerten. Er muss jetzt noch stärker sein als damals. Aber wie ich schon sagte:
Es ist gleichgültig. Ich habe einen anderen ausgewählt. Ein zweites pulsierendes Glimmern. Dann wieder die Stimme in tiefem Geflüster: Löse dein Haar für mich. Bitte.
Als ob ihre Hand einen eigenen Willen hätte, streckte sie sich zu der dichten Mähne aus ineinander verschlungenen Locken und berührte die Juwelenbesetzte Spange in ihrem Nacken. Ihre Hand zitterte, während die Finger den Verschluss lösten. Schließlich öffnete er sich, und die Masse aus glänzendem Kupferhaar fiel ihr schwer auf die Schultern. Sie hörte deutlich, wie in dem Feuer die Luft eingesogen wurde.
»Du wirst ihn also verschonen?« Sie hasste die zitternde Note, die sich in ihre Stimme geschlichen hatte.
Die Flammen brannten einen Moment lang dunkel und lösten sich dann wieder in helle Hitze auf.
Stell keine Fragen, auf die du nicht wirklich eine Antwort haben willst, meine Süße. Das trübt die Stimmung.
Die Seherin lachte scharf auf. »Aha, du willst nicht an deine eigenen Fehlschläge erinnert werden, nicht wahr? Ich habe den Tod des Patriarchen, den du schon so lange vorhersagst, noch nicht gesehen. Warum? Ist dein Plan genau wie meiner fehlgeschlagen? Oder ist der Patriarch jetzt dein Wirt?«
Bei ihren Worten wurden die Flammen unvermittelt schwarz, und das Feuer brüllte wütend.
Sachte, meine Süße. Das ist kein Gelände, auf das du dich wagen solltest. Das Feuer brannte heiß und fiel dann wieder zurück in glimmende Wärme. Die Drei sind schließlich gekommen.
Ich nehme an, du weißt das.
Sie lachte. »In der Tat. Und sie haben Canrif eingenommen, aber ihre Taten trotzen meiner Gabe. Ich kann nicht in den Berg sehen.« Ihr Ton wurde dunkler. »Als Gwylliam mich verbannt hat, hat er dieses Gebiet vor meinen Augen versiegelt; es ist für immer jenseits meiner Reichweite.«
Die Flammen knisterten erotisch. Zieh deinen Mantel aus.
Sie lachte erneut. »Möchtest du mir Lust schenken?«
In der Tat. Zieh deinen Mantel aus, meine Flamme, und ich werde dir sagen, was jenseits deines Blickfeldes liegt. Ich werde dir von der Zukunft berichten.
Die vertikalen Schlitze in ihren blauen Augen dehnten sich vor Neugier, obwohl sie darum kämpfte, ihre Miene ruhig zu halten. Die Finger flogen zu ihrem Leibchen und nestelten hastig daran herum.
Die Stimme in dem Feuer kicherte. Ah, dich verlangt immer noch danach, nicht wahr, meine Süße? Es muss schmerzhaft sein, die Gegenwart erst dann zu erfahren, wenn sie schon zur Vergangenheit geworden ist. Die Flammen tanzten, als ihre Finger die Bänder gelöst hatten.
Hör nicht auf, meine Süße. Meine Zeit wird knapp.
Langsam öffnete sie das Leibchen und streifte sich die hauchdünnen Ärmel ab. Das Feuerlicht leckte über ihre goldene Haut, die wie kleine Schuppen von winzigsten Linien durchzogen war, wodurch sie wie poliertes Metall glänzte. Sie senkte den Blick, als sie nackt bis zur Hüfte in dem widerspiegelnden Glanz saß.
Du bist auf ewig wunderschön, meine Süße. Die warmen Worte riefen bei ihr eine wilde Röte hervor, die ihren Ausgang im einsamen Herzen nahm und bis zu den Spitzen der langen Finger ausstrahlte. Die Zeit hat dich nicht einmal mit einem einzigen Tag gezeichnet, seit wir uns zum letzten Mal in großer Leidenschaft auf dem Boden der Großen Halle geliebt haben.
Erinnerst du dich daran, meine Flamme?
»Ja.«
Komm näher. Zieh den Mantel aus.
Langsam stand sie auf. Sie hielt das Leibchen und die Ärmel gegen die Hüfte gedrückt. Dann, mit einer fließenden Bewegung, ließ sie alles los, und der seidene Nachtmantel rollte wie eine Meereswelle zu Boden.
»Warum kommst du nicht im Fleisch zu mir?«, flüsterte sie. »Es ist so einsam hier in dem kalten Berg.«
Gewisse Verpflichtungen meines gegenwärtigen Wirtes verwehren mir im Augenblick diese Freude des Fleisches. Aber hob keine Angst, meine Süße. Bald werde ich diesen Körper aufgeben und in einen wandern, den du sicherlich mehr schätzen wirst. Das Feuer fiel in die Kohlen zurück. Komm in mich.
Sie lachte. Es war nicht das helle Lachen einer jungen Frau, sondern der durchdringende Laut von Siegesposaunen. »Worte, die ich einst zu dir gesagt habe.«
Ich erinnere mich. Die Flammen wurden noch schwächer. Komm in mich, meine Süße.
Langsam näherte sie sich dem Kamin und kniete vor dem Feuer nieder. Zitternd vor Vorfreude legte sie sich auf den Rücken und schob die langen Beine vorsichtig in den Rachen des gewaltigen Kamins.
Die Kohlen glänzten zuerst sanft, dann stärker. Kleine Flammen erschienen und leckten an ihren Beinen entlang, tanzten über ihren Körper und erhitzten ihr Blut. Sie keuchte und kroch noch näher heran. Die wachsende Hitze schmolz die bittere Schärfe zwischen ihren Beinen.
Süße.
Schweiß tropfte nun zwischen ihren Brüsten herab, während die Flammenzungen über ihre Schenkel leckten und sie noch eingehender zu erforschen suchten. Die harte Einsamkeit, die sich in ihr verwurzelt hatte, erwärmte sich und verdorrte zu Asche. Zurück blieben nur Wollen, Verlangen, schweigendes Rufen und ein Stimmenchor in ihrem Wyrm-Blut.
Die Flammen brandeten hoch, rollten über ihre Hüfte und erhellten die Brüste mit glänzendem Schein. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich auf die segensreichen Dienste des Feuers und redete erst wieder, als ihre Erregung stieg.
»Sag es mir«, flüsterte sie leise. »Berichte mir von der Zukunft.«
Eine Hitzewoge drückte ihr die Beine weiter auseinander, reichte tief in sie hinein, und sie keuchte vor Vergnügen.
Bald werde ich das Patriarchat übernehmen, flüsterte die Stimme aus den Flammen zurück.
Der Rückschlag in der Heiligen Nacht war nur vorübergehend. Wenn ich Patriarch bin, werde ich Tristan Steward zum König krönen und auch ihn einnehmen, und zwar kurz bevor die Krone seine Stirn berührt, während er noch der Schwächere von uns beiden ist, und ich werde den alten Körper wie Spreu wegwerfen. Das Feuer brandete wieder auf und drang völlig in sie ein. Sie schrie vor Lust auf. Schließlich wird das Heer mein sein; Roland wird sich mit Sorbold und Gwynwald vereinigen. Wir werden den Berg einnehmen. Dann werde ich das Kind haben. Und dann den Schlüssel. Und dann die Gruft. Und dann die ganze Erde.
»Von außen? Aber...«
Die Flammen knackten und durchfuhren sie heiß. Sie keuchte wieder auf.
Nein, meine Süße, darüber habe ich schon nachgedacht.
Selbst du könntest deinem verfluchten Gemahl den Berg nicht gewaltsam entreißen. Der Berg ist sowohl von innen als auch von außen bereits gefallen. Plötzlich pulsierte die Flamme und überflutete sie mit Funken. Die Mittel sind schon in Stellung gebracht.
Sie atmete nun flacher, streckte die Arme träge über den Kopf, spürte das Feuer, das sich in Flammenwogen um ihre Brüste ergoss und ihren Hals liebkoste. Ihr ekstatisches Wimmern erstickte die stilleren Worte.
Ich brauche deine Hilfe, meine Süße. Sag, dass du es tust.
»Wie...«
Nein. Das Wort war knapp und kalt. Unter ihm erstarb das Feuer und schwelte nur noch in den wütenden Kohlen. Sie erzitterte heftig unter dem Verlust. Nein, meine Flamme. Frage nicht zuerst nach dem »Wie.« Du hast mir einmal gelobt, zur Erreichung deiner Ziele alles zu tun, was ich von dir verlange, und ich habe die Abmachung eingehalten. Du stehst noch in meiner Schuld, meine Süße. Du wirst mir nichts verweigern. Sag, dass du alles tun wirst, was ich von dir verlange.
»Bitte«, flüsterte sie, verloren im Schmerz verwehrter Leidenschaft und im Griff der Ungewissheit.
Soges.
»Ich werde es tun«, knurrte sie. Die Luft im Raum wurde dünn und lud sich auf; es war ein Zeichen dafür, dass ihr Drachenblut außer Kontrolle geriet. »Aber dann sind alle Schulden beglichen, ja?«
Einverstanden.
Das Feuer brüllte wieder auf und verschluckte sie. Flammenzungen schössen schlangengleich an alle Stellen, die nach seiner Berührung lechzten. Sie legte sich wieder zurück, mit offenem Mund, keuchend, als die Flammen sie verzehrten und ihrem alten Blut und einsamem Fleisch Lust verschafften. Sie schrie vor Wut und Entzücken auf; Donner rollte durch die blassen Berge, erschütterte die Schneekappen und schickte Lawinen in die fernen Täler.
Später, als sie still in den Schatten des flackernden Kamins lag, lauschte sie geistesabwesend den Worten, die das Feuer flüsterte. Sie nickte leicht und bemühte sich, wieder gleichmäßig zu atmen.
Ich brauche deine Erinnerungen.
»Ich verstehe.«
Achmed stand verloren an der Kreuzung von fünf Tunneln.
Das war gewiss der Ort, zu dem das Schlafende Kind ihn durch die handförmige Karte in der Steinwand seiner Kammer geschickt hatte. Er hatte stundenlang vor dem Gerät in Gwylliams verborgener Bibliothek gestanden, das ihm die Bewegungen der Bolg im ganzen Berg zeigte, und diesen Ort beobachtet, aber nie kam jemand hierher. Er hatte mit unendlicher Geduld dem Apparat gelauscht, der mit den Sprachrohren von ganz Canrif verbunden war, um herauszufinden, was direkt vor seiner Nase geschah. Doch all seine Bemühungen brachten ihn nicht weiter.
Als er nun verborgen an diesem seltsamen, handartigen Kreuzweg wartete, fühlte er etwas, das er noch nie gefühlt hatte. Es war eine Art wachsender Verzweiflung darüber, dass das, dem er jetzt entgegentrat, seine Fähigkeiten und Mittel überstieg.
Die Kontrolle über diesen Berg zu erlangen war wie der Versuch, den ganzen Rauch eines Buschfeuers einzuatmen. Wie sehr man ihn auch einsog, es entwischten immer wieder Rauchschwaden und zogen zu verlorenen, unbekannten Orten, zu alten cymrischen Landen oder den Zufluchtsstätten der Toten. Und er konnte nicht für immer die Luft einsaugen. Nur ein einziges, durch den alten Tunnel geflüstertes Wort war in all den langen Stunden des Wartens an sein Ohr gedrungen. Es war ein einfaches und zugleich seltsames Wort ohne jede Erklärung, gewechselt zwischen einer Hebamme und einem einfachen, vorbeigehenden Soldaten.
Finder.
Dennoch war dieses einzelne Wort der Schlüssel. Er wusste es in seinem tiefsten Innern, das den Herzschlag des bolgischen Königreichs spürte und ihm Macht über das Land und seine Bewohner verlieh. Seit er der Herr in dieser verlassenen, von Ungeheuern seiner eigenen Art bevölkerten Ruine geworden war, begriff er das Konzept des Herrschens und der königlichen Autorität in seinem Blut besser. Doch es floss nicht nur in seinem Blut. Achmed spürte es auch in den Nerven, in den Zähnen, im Haupthaar und dem Hautgewebe. Es war sein Volk, und es verbarg ein Geheimnis vor ihm ein so wohl gehütetes Geheimnis, dass es sogar in Gwylliams grenzenloser Bibliothek keinen Hinweis darauf gab.
Als er nun an dem Ort wartete, den ihm das Erdenkind genannt hatte, spürte er sie wie Mäuse im Dunkel oder wie das erste Regen von Läusen. Nun begriff er, wie Gwylliam sich gefühlt haben musste, als er versucht hatte, vor dem drohenden Ende den Berg zu retten. Obwohl die Bolg eine veränderliche Rasse waren, gab es gewisse fest stehende Eigenschaften: Sie schätzten Stärke, achteten Kinder, verlangten nach Bewegung, lebten genügsam und reisten mit leichtem Gepäck. Sogar ihre Sprache war ganz Funktion und Tat und besaß nur wenige Objekte. Daher wusste er, dass in jenem Wort Finder eine große Macht lag, die tief und wahrhaftig zu diesem Ort gehörte. Er sollte alles über sie wissen, wusste aber nichts.
Außer der Cwellan und einem versteckten Häutungsmesser, das nur Grunthor kannte, trug er keine Waffen. Das Messer hatte eine dunkle, beinahe schwarze Stahlklinge und war ein Abschiedsgeschenk aus der alten Welt. In den meisten Fällen konnte er sich auf seine Fähigkeit des Pfadfindens verlassen, aber nun war er nicht sicher, was er überhaupt suchte. Langsam ging Achmed im Mittelteil der Tunnel auf und ab und lauschte in jeden der Finger hinein, doch er hörte nichts. Zweifellos befanden sich in einem oder mehreren von ihnen die Finder, nach denen er suchte. Sie versteckten sich am Rande seines Bewusstseins, verspotteten ihn, wenn auch vielleicht unbeabsichtigt, wie Kinder, die Blindekuh spielen. Es war nicht mehr wichtig, ob sie diejenigen waren, die seine Waffen an Sorbold verkauften. Wichtiger war, dass sie ein Geheimnis vor ihm verbargen und er sich damit nicht abfinden konnte.
Aber er würde sich noch eine Weile damit abfinden müssen.
Vielleicht würde er selbst zum Finder werden, wenn Rhapsody mit dem Blut des Dämons zurückkam. Er hatte oft über das Ritual nachgedacht, das er vollziehen würde, sobald sie ihm das Blut abgeliefert hatte. Es musste an einem besonderen Ort stattfinden, der vor Wind und den Augen der Welt geschützt war.
Als er die Öffnungen der Hand untersuchte, fragte er sich, ob dies der richtige Ort war. Der beste Ort wäre eigentlich jener unter dem großen Pendel der seit langem untergegangenen dhrakischen Kolonie, wo es keine Möglichkeit des Entkommens gab. Dort hatte er zusammen mit der Großmutter das Bannritual geübt und die Geheimnisse seiner dhrakischen Abstammung gelernt. Er hatte die uranfängliche Kraft erkannt, die ihnen erlaubte, beide Seiten des F’dor festzuhalten, den Mann und den Dämon. Es war eine Fähigkeit, die ihnen von den Gefangenen verliehen worden waren, welche ihr Leben dem Wind zurückgegeben hatten; sie waren aus jenem Wind geboren worden, um Wache über die große Gruft der Unterwelt zu stehen, in der die F’dor eingekerkert gewesen waren. Aber jener Ort war nun versiegelt; es gab keinen Weg, dorthin zurückzukehren, ohne die Sicherheit des Schlafenden Kindes zu gefährden. Bei dem bloßen Gedanken daran spuckte er auf den sandigen Boden.
Die fünf Eingänge der Hand zeigten eine gewisse Ähnlichkeit mit der hohen Kammer, in der das Pendel schwang. In gewisser Weise schwollen die hierher dringenden Signale genauso an und ab wie Wasser in unterirdischen Höhlen, das mit den Gezeiten aus der Tiefe abfließt, dann aber wieder zurückflutet, ohne Aussicht auf ein Entkommen.
Das hier war der richtige Ort.
Die letzte Botschaft, die Rhapsody mit einem Vogel geschickt hatte, hatte den Erfolg ihres Unternehmens angedeutet; sie würde bald nach Hause zurückkehren. Dieser Gedanke war schmerzhaft.
Achmed lauschte erneut und eilte dann durch den Korridor, der ihn hierher gebracht hatte. Aus der Ferne sahen ihm die Finder nach; ihre weit aufgerissenen Augen blinkten in der Dunkelheit.