Der Winterkarneval war eine alte Tradition in Navarne und wurde zu Ehren der Sonnenwende abgehalten. Er fiel mit heiligen Tagen sowohl der patriarchalischen Religion von Sepulvarta als auch des Ordens der Filiden zusammen, der Naturpriester des Kreises von Gwynwald. Stephen Navarne, der Herzog der Provinz, war ein Anhänger der Ersteren, doch ein wohlbekannter Freund der Letzteren. Die Bevölkerung der Provinz war seinem Beispiel gefolgt, hatte sich gleichmäßig auf die beiden Glaubensrichtungen verteilt, alle religiösen Streitigkeiten beigelegt und feierte nun gemeinsam das Nahen des Schnees.
In früheren Jahren hatten sich die Festlichkeiten über die weiten, welligen Hügel von Navarne ausgebreitet, so weit das Auge reichte. Haguefort, Stephens Festung und der Ort der Feierlichkeiten, lag auf einer sanften Erhöhung am westlichen Rande des Waldes und bot einen wunderbaren Blick auf die Gehöfte und Weiden, die sich in den drei übrigen Richtungen bis zum Horizont erstreckten.
Einige der anderen orlandischen Provinzen, vor allem Canderre, Bethania und Avonderre sowie das ferne Bethe Corbair hatten schon vor langer Zeit ihre eigenen Sonnenwendfestlichkeiten aufgegeben, um an Stephens Feier teilnehmen zu können; der Herrscher galt als unübertroffen im Ausrichten von Festen.
Schon seit zwei Jahrzehnten öffnete der junge Herzog, dessen entfernte cymrische Abstammung ihm die Kraft der Jugend verlieh, in deren Genuss alle Flüchtlinge aus Serendair kamen, seine Besitzungen beim ersten Anzeichen des Winters und bestimmte die Wettbewerbe und Preise für das jährliche Fest unter Trompetenfanfaren und mit einem Prunk, der für dieses Zeitalter Rolands unüblich war. Der cymrische Krieg hatte den Pomp des Ersten Zeitalters, das dem Aufbau und der Aufklärung gewidmet gewesen war, zu einem traurigen Ende gebracht und das augenblickliche Zweite Zeitalter farblos und langweilig zurückgelassen, so wie es sich meistens in den Zeiten des Wiederaufbaus und Überlebenskampfes verhält. Stephens Feste boten die einzige regelmäßige Ausnahme von dieser Regel.
Wie schon sein Vater vor ihm, so begriff auch Stephen, wie wichtig eine farbenfrohe weltliche Feier für das harte Leben der Bevölkerung in seinem Herzogtum war. Aus diesem Grunde kümmerte er sich zwar vornehmlich um die Sicherheit seiner Untertanen und ihres Eigentums, aber auch um ihre seelischen Bedürfnisse, denn er war der Meinung, dass vor allem der Mangel an Freude für die Schwierigkeiten verantwortlich war, die das Land heimgesucht hatten.
Jedes Jahr bot das Fest einen neuen Wettbewerb: eine Schatzsuche, einen Dichterwettstreit, ein Rennen mit ungewöhnlichen Hindernissen und daneben natürlich auch die üblichen Glücksspiele und Sportereignisse sowie Preise für die besten Lieder Stephen war ein glühender Verehrer guten Gesangs , Vorträge und Tänze, ferner Schlittenrennen, Wettstreite im Bauen von Schneeskulpturen und magische Darbietungen. Dies alles wurde von einem großen Feuer bekrönt, das die winterliche Nacht erhellte und Funken in den Himmel schickte, als wollte es die Sterne herausfordern.
So war es nicht verwunderlich, dass sogar Reisende aus den fernen, warmen Gefilden Yarims, Rolands östlichster Provinz, sowie aus Sorbold, dem unfruchtbaren Land der Berge und Wüsten im Süden, sich auf den Weg landeinwärts in die Provinz Navarne machten, um an Stephens Winterkarneval teilzunehmen. Sogar viele Lirin aus Tyrian taten es ihnen gleich, zumindest in guten Zeiten. In jüngster Zeit aber hatten blutige Angriffe und Gewalttaten die Zahl der Besucher verringert, da Überlandreisen immer gefährlicher wurden, und so sanken die Feierlichkeiten allmählich wieder zu einem Provinzfest herab.
Die in diesem Jahr erwartete Verringerung der Besucherzahlen war in Stephens Augen sowohl traurig als auch gut. Er hatte vor kurzem die Errichtung einer großen Mauer vollendet; es war ein mehr als zwei Mann hohes und gleichermaßen dickes Bollwerk, das die gesamten königlichen Lande Hagueforts sowie einen großen Teil des benachbarten Ortes und der angrenzenden Ländereien umschloss. Dieses Unternehmen hatte für mehr als zwei Jahre beinahe jede Minute beansprucht, doch es war ausnehmend wichtig für die Sicherheit seiner Untertanen und Kinder.
Als Stephen nun auf dem Balkon hinter den Fenstern seiner riesigen Bibliothek stand, betrachtete er die neue Steingrenze mit schweigendem Entsetzen. Früher war der Blick in die Landschaft ungehindert gewesen, doch nun wurden die ehemals unverdorbenen Wiesen und Weiden von diesem hässlichen Bollwerk mit seinen ernsten Wachtürmen und Zinnen verschandelt.
Statt des weiten, leuchtenden Horizonts aus Schnee zog sich nun eine scharfe, schlammige Trennlinie im Land um seine Festung. Von Anfang an hatte er um dieses Ergebnis gewusst. Aber es war eines, es zu ahnen, und ein anderes, es schließlich mit eigenen Augen zu sehen. Das Winterfest musste sich auf die neue Wirklichkeit Rolands und seiner Nachbarn einstellen: auf die grimmige Erkenntnis, dass unerklärliche und unvorhersehbare Gewalt allerorts überhand nahm. Der schiere Wahnsinn hatte mehr als nur Stephens Felder heimgesucht. Er hatte sein Leben zerrissen, ihm seine junge Frau und den besten Freund, Gwydion von Manosse, genommen und unter seinen Untertanen viele Leben gefordert.
Und er hatte Stephen das Gefühl der Glückseligkeit geraubt. Es war nun fünf Jahre her, dass Stephen eine ganze Nacht lang erholsam geschlafen hatte.
Am Tag war es einfach. Eine endlose Reihe von Aufgaben beanspruchte seine Aufmerksamkeit; außerdem kümmerte er sich um seinen Sohn und seine Tochter. Sie waren die größte Freude in seinem Dasein und für ihn so lebenswichtig wie Sonne oder Luft. Er kämpfte nicht mehr um seine Glückseligkeit wie kurz nach dem Tode Lydias.
Nur nachts fühlte er sich traurig und entmutigt, wenn er seine Kinder in Decken aus wärmsten Eiderdaunen gesteckt, neben Mellys Bett gewacht hatte, bis sie eingeschlafen war, und in der tröstenden Dunkelheit Gwydions Fragen über Leben und Mannsein beantwortet hatte. Jede Nacht fanden die Fragen schließlich ein Ende und wurden ersetzt durch leises, rhythmisches Atmen, und der süße Atem des Kindes wurde zu dem salzigeren eines jungen Mannes an der Schwelle des Erwachsenseins. Stephen genoss diesen Augenblick, wenn der Schlaf seinen Sohn zu den Abenteuern des Traumes fortgeleitete; dann stand er widerstrebend auf, bückte sich, küsste Gwydion auf die glatte Stirn und wusste, dass er dies bald nicht mehr tun konnte.
Unabwendbar durchfuhr ihn dann die Traurigkeit, während er zu seinen eigenen Gemächern zurückkehrte, zu dem Raum, in dem er und Lydia geschlafen, sich geliebt und in ihrem unvergleichlichen Glück vielerlei Pläne geschmiedet hatten. Gerald Owen, sein Kammerherr, hatte nach dem blutigen Anschlag der Lirin, der Lydia das Leben gekostet hatte, in freundlicher Sorge angefragt, ob er ein anderes der vielen Schlafzimmer Hagueforts für Stephen herrichten solle, doch Stephen hatte mit derselben Freundlichkeit abgelehnt, die er immer walten ließ. Woher sollte Owen wissen, was er brauchte? Sein treuer Kammerherr verstand nicht, wie sehr Lydia noch in diesem Raum gegenwärtig war in den Damastvorhängen am Fenster, im Baldachin über dem Bett, im Spiegel neben ihrem Toilettentisch und dem silbernen Kamm darauf. Es war nun alles, was ihm von ihr geblieben war, alles außer den Erinnerungen und den Kindern. Er lag Nacht für Nacht in jenem Bett, unter jenem Baldachin und lauschte den Stimmen der Geister, bis ihn schließlich ein ruheloser Schlaf überfiel.
Der Klang kindlicher Stimmen schwoll hinter Stephen an, während die Tür zur Bibliothek geöffnet wurde. Melisande, die am ersten Frühlingstag sechs Jahre alt geworden war, rannte auf ihn zu, als er sich umdrehte, und schlang ihm die Arme um das Bein. Als er sie hochhob, pflanzte sie ihm einen Kuss auf die Wange.
»Schnee, Vater, Schnee!«, rief sie freudig. Diese Worte brachten ein breites Grinsen auf Stephens Gesicht.
»Du hast dich offenbar in ihm gewälzt«, sagte er mit einem gespielten Aufstöhnen und wischte sich die kalten Klumpen aus gefrorenem weißem Pulver vom Wams, während er das Mädchen wieder absetzte; dann legte er den Arm um Gwydions Schulter. Melly nickte aufgeregt. Dann aber wich ihr Lächeln einem missbilligenden Blick.
»Wie hässlich das ist«, sagte sie und deutete über den Grundbesitz ihres Vaters zu der endlosen Mauer, die ihn nun umschloss.
»Und es wird noch hässlicher werden, wenn die Leute ihre Häuser innerhalb der Mauer wieder aufbauen«, sagte Stephen und zog Gwydion näher zu sich heran. »Genießt die Ruhe, so lange sie noch herrscht, Kinder. Beim nächsten Winterfest wird das hier eine Stadt sein.«
»Warum denn, Vater? Warum sollten die Leute ihre schönen Ländereien aufgeben und hinter eine hässliche Mauer ziehen?«
»Um der Sicherheit willen«, antwortete Gwydion ernsthaft. Er fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über das haarlose Kinn und nahm damit genau die Haltung seines Vaters ein, wenn dieser über etwas nachdachte. »Dann befinden sie sich im Schutz der Festung.«
»So schlimm wird es nicht werden, Melly«, meinte Stephen. Er fuhr dem Mädchen durch die goldenen Locken und lächelte angesichts des Funkeins, das in ihre schwarzen Augen zurückgekehrt war. »Es wird mehr Kinder hier geben, mit denen du spielen kannst.«
»Hurra!«, rief sie aus und tanzte freudig erregt durch den dünnen Schnee auf dem Balkon. Stephen nickte dem Kindermädchen zu, als dieses an der Balkontür erschien. »Warte noch ein paar Tage, mein Sonnenstrahl. Der Winterkarneval wird stattfinden, und es wird so viele farbige Banner und Flaggen geben, dass man glauben könnte, es schneit Regenbögen. Komm jetzt. Rosella wartet auf euch.« Noch einmal drückte er Gwydions Schulter und küsste seine Tochter, als sie an ihm vorbeilief. Dann wandte er sich wieder ab und dachte über die veränderten Zeiten nach.