Der Hof von Newydd Dda war zum Bersten voll. Lirinsche Bürger und die Staatsgäste verstopften die Straßen der Stadt und ergossen sich bis auf die große Lichtung, welche die Stadtmauern umgab. Jedermann hoffte auf eine Gelegenheit, die frisch gekrönte Königin zu sehen. Lirinsche Abordnungen waren aus allen Teilen gekommen, aus Manosse, der Ebene, den Städten der Neutralen Zone und von der See. Roland und Sorbold waren genauso vertreten wie Ylorc und die Länder jenseits von Hintervold. Achmed war erstaunt; es schien unmöglich, dass die Nachricht von der Krönung diese Länder so schnell erreicht hatte, aber alle hatten Abgesandte geschickt, die sich nun aufstellten, um Rhapsody zu begrüßen oder zu segnen.
Er warf einen Blick zurück auf die Königin; sie fuhr den Berg in ihrem reich beschnitzten Schlitten herunter. In ihren Augen lag ein Ausdruck der Gelassenheit, der die Panik überdeckte, welche sie beim Anblick der Menge unter ihr sicherlich verspürte. Grunthor ritt vor ihr her. Achmed hatte keine Ahnung, wo die Lirin dessen Pferd für diese Prozession aufgetrieben hatten, doch es war beinahe halb so groß wie der Schlitten selbst. Es war ihm gelungen, sich an die Spitze des Zuges zu setzen, als diese den Hügel herunterkam, damit er die Menschenmenge, in deren Nähe Rhapsody stehen würde, genau in Augenschein nehmen konnte. Ein Mordversuch war nicht wahrscheinlich, wenn man die Anzahl der gut ausgebildeten lirinschen Wachen in Betracht zog, die die ganze Stadt absicherten und alle Waffen sowie andere Unheil stiftenden Gegenstände an sich genommen hatten. Als er am Morgen die Stadt zu betreten versucht hatte, hatten sie die Flöte gewogen, die er als Geschenk für die neue Königin mitgebracht hatte, und das Gewicht des Instruments mit Argwohn betrachtet. Nur das Dazwischentreten Rhapsodys hatte es ihm ermöglicht, in die Stadt zu gelangen. Trotz dieser Unannehmlichkeit war Achmed glücklich über die Fähigkeit der Wachen.
Er lehnte sich gegen die Palastmauer und wartete darauf, dass Grunthor vorbeikam. Die Prinzen von Sorbold und Bethania befanden sich in der ersten Reihe; über diese Ironie des Schicksals musste Achmed lächeln. Er hätte sich unter ihnen befunden, wenn er nicht als gleichwertig mit Rhapsodys Familie angesehen worden und zu der privaten Zeremonie eingeladen gewesen wäre. In der Gesellschaft dieser Männer wäre er der Erfreuteste der drei gewesen.
Rhapsodys feindselige Haltung gegenüber Tristan Steward war in ganz Ylorc Legende, und der Prinz von Sorbold war ein griesgrämiger, ausgelaugter alter Mann, der ungeduldig darauf wartete, dass seine uralte Mutter endlich starb, damit er endlich den Thron besteigen konnte. Rhapsody hatte ihn nur einmal getroffen und war über seine Verdrießlichkeit so verärgert gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie vernarrt er in sie war. Nachdem sie sich mit Ashe auf die Reise zu Elynsynos begeben hatte, hatte der Prinz Botschafter zu Achmed geschickt, die bei ihm um Rhapsodys Hand angehalten hatten. Der König der Bolg hatte sich hämisch darauf gefreut, ihr bei ihrer Rückkehr diese Neuigkeit zu überbringen. Das Feuerwerk ihres Zorns wäre gewiss so eindrucksvoll gewesen, dass es sich gelohnt hätte, dazu Gäste einzuladen. Aber er hatte es ihr nie gesagt.
Hinter den Prinzen kamen die orlandischen Herzöge Martin Ivenstrand von Avonderre und Stephen Navarne, die Herrscher von Yarim und Bethe Corbair, die ihm freundlich zugenickt hatten, als sie in den Hof gekommen waren. Stephen hatte ihm bedeutet, dass er ihn später noch sehen wollte. Den Herzögen folgte eine kleine Gesandtschaft filidischer Priester unbedeutenden Ranges aus Gwynwald, die nur gekommen waren, um in der Abwesenheit Khaddyrs und seiner Häscher die Religion zu repräsentieren. Die Priester wurden von der Kammerdienerin und ihren Untergebenen neu aufgestellt, da vor einigen Augenblicken eine neue Gruppe eingetroffen war. Laute des Staunens hatten sich erhoben, als die Gruppe aus einer gewaltigen Kutsche ausgestiegen war, die von den Toren Tyrians aus bis hierher von den Wachen eskortiert worden war.
Aus der Kutsche waren die orlandischen Seligpreiser Ian Steward von Canderre-Yarim, Lanacan Orlando aus Bethe Corbair und Colin Abernathy gestiegen, dessen Sitz sich in der Neutralen Zone im Süden Tyrians befand. Sie wurden gefolgt von Nielash Mousa, dem Segner von Sorbold, der als Einziger die Robe seines Landes trug, deren frohe Farben sich von den blassen Gewändern Rolands eindrucksvoll abhoben. Schließlich stieg auch Philabet Griswold, der Segner von Avonderre-Navarne aus; auf seinem Gesicht lag ein überhebliches Lächeln. Er streckte die Arme in das Innere der Kutsche und half freundlich einem gebrechlichen Mann in goldenen Kleidern und mit einer hohen Mitra aus dem Wagen. Es war der Patriarch von Sepulvarta.
Obwohl es unwahrscheinlich war, dass einer der Anwesenden ihn zuvor schon einmal gesehen hatte, wussten alle sofort, dass dies der Patriarch war. Sein Erscheinen war es, das die Laute des Erstaunens hervorgerufen hatte. Nach einem Augenblick des Schocks brach hier und dort verhaltener Beifall aus, schwoll an zu einem höflichen Klatschen und wurde schließlich von einer Welle froher Rufe abgelöst.
Als der Patriarch langsam vorwärts torkelte, traten seine Seligpreiser sowie die orlandischen Herzöge zurück und machten ihm Platz in der ersten Reihe. Die beiden Prinzen, die darum gewetteifert hatten, die ersten Gratulanten zu sein, gaben ihre Positionen auf und reihten sich hinter ihm ein. Falls sie Groll gegen ihn verspürten, verbargen sie ihn gut. Der Patriarch schüttelte den Kopf und verneigte sich leicht. Damit wollte er andeuten, sie sollten ihre Plätze behalten. Nielash Mousa und Philabet Griswold traten rechts und links an seine Seite und halfen ihm die Schritte zur Tribüne hoch. Die anderen Segner folgten ihnen; dahinter kamen die Herzöge, die übrigen Ehrengäste und das Volk von Tyrian.
Die Menge schwoll noch mehr an, als Rhapsodys Zug den Rand der Stadtmauer erreichte, und wartete darauf, dass die Königin und ihre Ehrengarde ausstiegen und das Podest Hochschritten, um die Segnungen und Grüße aller Wohlwollenden entgegenzunehmen. Die Ehrengarde näherte sich gerade der Tribüne, als sich plötzlich die Welt um Achmed drehte. Die offen liegenden Nerven und Venen seines Hautgewebes stachen und pochten in pulsierendem Leben; der Rhythmus seines Pulses glich sich einem fremden an, einem sehr nahen. Einen Moment später war es vorbei, doch dann kehrte es zurück.
Er atmete die kalte Winterluft ein und hoffte, dadurch wieder einen klaren Kopf zu bekommen, doch stattdessen roch er die Luft der alten Welt und seines vorigen Lebens. Es machte ihn krank; es schwappte in seine Lunge wie brackiges Wasser. Er sah sich um, und zum ersten Mal in seinem Leben spürte er, wie die Menge umherwirbelte und wie Meereswellen gegen ihn anströmte, als befände er sich in einer starken Brandung. Er hatte Grunthor aus den Augen verloren, ebenso die Mauer, gegen die er sich gelehnt hatte, und die ganze Welt einschließlich seiner eigenen Existenz.
Genauso plötzlich kam er wieder zu sich. Anstatt das Gefühl des Ertrinkens zu bekämpfen, das durch den Geruch verursacht wurde, sog er diesen tief in seine Lunge. Er öffnete dem Gestank Mund, Hände und Augen, so wie er es in den alten Jagdtagen gemacht hatte, und wie ein Blitz schlug es in seinem Geist ein:
F’dor.
Er war auf ihn gestoßen. Er war hier. Achmed schüttelte den Kopf, um Augen und Geist zu klären, und stellte fest, dass er sich an derselben Stelle befand, wo er zum ersten Mal seinen Feind aufgespürt hatte. Der gemeinsame Blutrhythmus klopfte in seinen Adern und schlug wie eine Kriegstrommel in seiner Brust, dann bewegte er sich wieder fort.
Grunthor war abgestiegen und ging auf seinem Weg zur Tribüne in diesem Augenblick an Achmed vorbei. Achmed berührte ihn am Ellbogen. Ohne aufzusehen, bückte sich der Riese in einigem Abstand und lauschte den Worten seines Freundes.
»Er ist hier; der Meister des Rakshas ist hier.«
Grunthor beobachtete Achmeds Blick, um die Richtung zu erfahren. Die Augen des Königs waren weit aufgerissen und starr; er suchte noch immer die Menge ab. Dazu benutzte er nicht nur seine Augen, sondern atmete die Spuren von Geruch und Atem und Identität ein, die durch den Winterwind strömten, und verglich sie mit dem Blut, das er aufgenommen hatte. Die anderen beiden Mitglieder der Ehrenwache gingen an ihm vorbei; Anborn warf ihm dabei einen misstrauischen Blick zu. Der Gestank brennenden menschlichen Fleisches wurde stärker und verschwand dann wieder, als der Wind auffrischte.
Rhapsody befand sich jetzt auf der Tribüne. Das Podest war so errichtet, dass sie es von hinten betreten und sich daher nicht durch die Menge davor kämpfen musste. Anborn, Gwydion Navarne und Grunthor nahmen ihren Platz hinter ihr ein; der Bolg-Sergeant stellte sich unmittelbar vor ihren Rücken. Ihr Blick wanderte von Achmed zu der Menge und erwartete das Zeichen des Dhrakiers.
Achmed musste näher herankommen, aber wenn er den Dämon spürte, bestand die Möglichkeit, dass dieser ihn ebenfalls bemerkte, falls er nicht besonders vorsichtig war. Er suchte den Hof nach einer geeigneten Nische ab, von der aus er unbemerkt beobachten konnte.
Während er umherging, wickelte er ein Lederband über die Löcher der Flöte und verbarg sie in den Falten seines Umhangs. Die kalten Metallpfeile hatte er zu einer komplizierten Brosche zusammengefügt, die nun gefährlich nah über seinem Herzen auf und ab hüpfte; es war die Nadel, über die Rhapsody ihre Bemerkungen gemacht hatte. Er spürte die Schärfe der vergifteten Geschosse durch das feine, dünne lirinsche Zeremonialhemd, das er auf Rials Wunsch trug. Als er sich dem Thronpodest näherte, dünnte sich der Geruch aus und wich dem beißenden Gestank des F’dor. Er war in der offenen Luft des Hofes viel deutlicher zu riechen als in jeder Basilika.
Achmed sog den Geruch ein und nahm ihn mit den Handflächen auf. Er schloss die Augen und versuchte, seinen Herzschlag mit dem des F’dor in Einklang zu bringen und nicht wieder zu verlieren. Rasch gelang es ihm, aber es war immer noch unmöglich zu sagen, wem in der großen Menschenmenge dieser Herzschlag gehörte. Die Spannung des Ereignisses verband sich mit den Räucherungen und dem Reichtum der Düfte, welche die Abgesandten aus mehr als einem Dutzend verschiedener Länder ausströmten. Er kämpfte darum, den uralten Geruch von all den anderen, unwichtigen zu trennen und auf die Stimme seines Blutes zu vertrauen, welche die ganzen Nachtmahre dieser Welt mit dem Grauen der vergangenen verband. Absichtlich suchte er nach dem bitteren Geschmack und fühlte das beängstigende Schlagen. Er verband sich selbst damit.
Tristan Steward und der Prinz von Sorbold hatten Rhapsodys Hand geküsst und ihr alles Gute gewünscht und waren dann von dem Podest zurück in den Kreis ihrer eigenen Wachen getreten. Nun näherten sich ihr der Patriarch und seine fünf Seligpreiser, die sie ebenfalls segnen wollten.
Plötzlich tat Achmeds Herz einen Satz, und einen Moment lang konnte er durch die Augen des Dämons sehen. Er musste sich entweder in der Gruppe des Patriarchen oder in deren Nähe befinden. Ansonsten befanden sich nur die Mitglieder der Ehrengarde so nahe bei der Königin.
Zur gleichen Zeit, als sein Blick mit dem des F’dor verschmolz, sah er auch in dessen Geist. Da war nirgendwo ein Mordvorsatz; er war gekommen, um die neue Königin unter seinen Bann zu stellen und sie zu verzaubern. Er spürte, wie der F’dor zum Sprung bereit war und Rhapsody besitzen wollte, wie er die anderen besessen hatte. Achmed wusste, dass sie den Tod dieser Aussicht bevorzugen würde.
Furcht durchpulste ihn, und die kurzzeitige Verbindung mit dem Dämon verschwand. Achmed musste seinen Drang unter drücken, Rhapsody zuzurufen, sie solle fortlaufen und das Risiko eingehen, damit dem F’dor zu zeigen, dass sie ihn erspüren konnten. Doch es wäre sinnlos gewesen; eher hätte er die Aufmerksamkeit einer Braut quer über einen Marktplatz kurz nach der Hochzeit erringen können. Er musste den F’dor auf andere Weise daran hindern, ihr zu nahe zu kommen, ohne dass dieser etwas von seiner Enttarnung bemerkte.
Achmed richtete sich auf und jagte den flüchtigen Identitätsbanden durch die Luftströmungen und Windlandschaften nach. Die Stimme der dhrakischen Großmutter, die ihm das Bannritual beigebracht hatte, ertönte in seinem Kopf.
Lass dein Selbst sterben.
Achmed nickte kaum merklich und zwang seinen Herzschlag, langsamer zu werden.
Rufe in deinem Geist jeden der vier Winde. Singe jeden einzelnen Namen und verankere ihn dann an einem deiner Finger.
Bien, dachte Achmed. Der Nordwind, der Stärkste. Er öffnete seine erste Kehle und summte den Namen; der Klang hallte durch seine Brust und die erste Herzkammer. Er hielt den Zeigefinger hoch; die empfindliche Haut an der Spitze prickelte, als sich ein Luftzug um sie wickelte.
Jahne, flüsterte er in Gedanken. Der Südwind, der Ausdauerndste. Mit seiner zweiten Kehle rief er diesen nächsten Wind und setzte dabei die zweite Herzkammer ein. Um den Mittelfinger spürte er, wie sich ein weiterer Luftzug verankerte. Als beide Schwingungen deutlich und stark geworden waren, fuhr er fort und öffnete die beiden anderen Kehlen und Herzkammern. Lenk. Der Westwind, der Wind der Gerechtigkeit. Thas. Der Ostwind. Der Wind des Morgens; der Wind des Todes.
Ein Netz aus Wind.
Höre, o Wächter, und besehe dein Schicksal: Der, welcher jagt, wird auch beschützen; der, welcher nährt, wird auch verlassen; der, welcher heilt, wird auch töten, hatte Zephyr, der letzte dhrakische Weise, in der letzten dhrakischen Prophezeiung gesagt. Hüte dich vor dem Schlafwandler, denn Blut wird das Mittel sein, um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind.
Es ist an der Zeit, sich nicht länger zu verstecken, dachte Achmed. Komm heraus und spiel mit mir, du Bastard.
Er warf das unsichtbare Netz in die Richtung, in der er den dämonischen Rhythmus gespürt hatte. Die hoch empfindlichen Nerven seines Gesichts spürten, wie die prickelnde Brise für einen Moment erstarb, als sich die Winde zu einer Schlinge verbanden.
Dann passte plötzlich alles zusammen: der Geruch, der Herzschlag, die Position. Er hatte den F’dor gefunden.
Nun, da er den Wirt des Dämons identifiziert hatte, wusste er, dass er einen sauberen Schuss abgeben konnte, doch ohne eine Waffe für den Einsatz nach dem ersten Schlag würde es keine Überlebenden in der ganzen Schar geben, wenn er den Schreien seines Blutes und seiner Natur folgte und das Gewehr abfeuerte. Sein Pfeil könnte sich für einen Menschen als tödlich erweisen, nicht aber für einen Dämon. Er würde entweder aus dem sterbenden Körper fliehen oder alle anderen umbringen. Bei der unbewaffneten, wunderbar gekleideten Rhapsody würde er beginnen.
»Adieu, Vater«, flüsterte er, als er die Flöte an die Lippen setzte.
Grunthor hatte Achmeds Bewegungen gesehen und bemerkt, wie er die Flöte verborgen hatte. Er stand nahe genug neben Rhapsody, um mit einem Schritt bei ihr zu sein; es war ihm leicht möglich, sich zwischen sie und jegliche Bedrohung zu werfen, die er sah oder spürte. Achmeds Bewegung verwirrte ihn, doch er vermutete, dass er der Einzige auf dem Podest war, der sie bemerkt hatte. Rhapsody hatte ihre Ehrengarde nur ein einziges Mal angesehen, als sich das Kontingent aus Gwynwald genähert hatte.
Der Sergeant versuchte, die Art der Bedrohung zu erkennen. Wen hatte Achmed im Verdacht? Er sah eingehend die beiden Prinzen am Beginn der Gratulationsreihe an. Die nächste Gruppe war die des Patriarchen und seiner Hand voll Seligpreiser. Sie begrüßten die Königin.
Erneut versuchte Grunthor, die Gesichter und Bewegungen der Gäste zu deuten, doch er bemerkte weder Feindseligkeiten noch Waffen. Der Patriarch war Rhapsodys Liebling. Er war sehr gebrechlich und auf die vielen Hände angewiesen, die ihn selbst und seine Organisation am Leben erhielten. Rhapsody hatte ihn vor einigen Monaten gegen den Rakshas verteidigt und geglaubt, der F’dor sei an diesem Angriff beteiligt gewesen. Es schien unwahrscheinlich zu sein, dass er von dem Dämon besessen war oder ihn erkennen konnte.
Grunthor sah sich wieder nach Achmed um und konnte ihn nirgends mehr entdecken. Rhapsody umarmte den Patriarchen mit ihren Gefühlen; er flüsterte ihr einen Segen ins Ohr. Freude legte sich über ihr Gesicht, während sie ihn sanft entließ und seinen Blick auffing. Sie lächelten einander an.
Mithilfe seiner Seligpreiser trat der Patriarch zurück und gab ihnen die Gelegenheit, Rhapsody zu begrüßen.
Plötzlich zuckte er heftig zusammen und brach in den Armen der Seligpreiser zusammen. Ein Schrei erhob sich aus der Menge.
Grunthor reagierte blitzartig und warf sich zwischen Rhapsody und den Aufruhr. Er wusste, dass man nicht so stürzte, wenn der Körper versagte, und verfluchte still Achmeds Wahl des Zeitpunkts. Obwohl er ihn nicht sehen konnte, wusste er, dass es sein Werk war.
»Zurück, Euer Majestät«, sagte er höflich. Er spürte, wie sie hochgehoben wurde, als Anborn hinter ihm hervorwirbelte und sie auf den hinteren Teil des Podestes stellte. So brachte er seinen eigenen Körper zusätzlich zwischen sie und die Menge. Grunthor war froh, dass sie aus der Schusslinie war. Er bahnte sich den Weg in die kleine Gruppe entsetzter Seligpreiser, die sich um den Zusammengebrochenen drängten.
»Lasst mich mal«, sagte er grob. Rasch und mühelos hob er den sterbenden Patriarchen vom Boden auf und trug ihn zu einem Tisch in mehreren Schritten Entfernung, auf dem Staatsgeschenke gestapelt waren. Mit dem Ellbogen wischte er den Tisch leer und legte den alten Mann wie eine Feder darauf. Dabei entfernte er den schweren Pfeil aus seinem Nacken, ohne eine Spur zu hinterlassen. Wie Grunthor gehofft hatte, folgten ihm alle Seligpreiser, beteten für ihren gefallenen Anführer, kümmerten sich um ihn, und einige brachen gar in Tränen aus.
Lanacan Orlando, der Segner von Bethe Corbair, war der Erste und flüsterte Worte des Trostes. Er kümmerte sich sogleich um den Sterbenden und untersuchte Herz und Handgelenke. Philabet Griswold und Nielash Mousa waren die Nächsten; beide schoben den ersten Seligpreiser zur Seite und flüsterten dem sterbenden Mann etwas ins Ohr. Sie baten ihn, das Bewusstsein wiederzuerlangen, damit er den Namen seines Nachfolgers sagen konnte. Abernathy und Ian Steward starrten benommen auf den Aufruhr; Abernathy murmelte stumme Gebete.
Orlando drängte wütend Mousa fort und machte sich wieder an die Arbeit. Enttäuschung schien seine Bewegungen zu hemmen; seine berühmte Heilgabe vermochte nichts zu bewirken. Er untersuchte die Brust des alten Mannes, öffnete die Robe besonders weit, befühlte die Handgelenke und war wütend und gereizt, statt sich in das Schicksal zu ergeben, als klar wurde, dass der Tod unmittelbar bevorstand.
»Zurück!« Die Stimme, klar wie eine Glocke, klang durch den Hof, und die Menge verstummte vor Erstaunen. Rhapsody benutzte Anborn, um an den Seligpreisern vorbeizukommen, und begab sich sofort an die Seite des Patriarchen, der noch immer auf dem Tisch lag. Grunthor unterband sofort jeden Versuch, sich dem Würdenträger von der anderen Seite zu nähern. Rhapsody sah ihre Kammerfrau an.
»Sylvia, hol sofort meine Harfe.«
Die Kammerfrau tippte einem Pagen auf die Schulter und zeigte mit dem Finger an, wo er hingehen sollte. Er schoss mit halsbrecherischer Geschwindigkeit davon. Die neue Königin beugte sich über den hinfälligen Mann, der auf dem Tisch zusammengekrümmt wie ein aus dem Nest gefallenes Küken lag, und ergriff seine Hand.
»Euer Gnaden, habt Ihr diesen Männern etwas zu sagen?«
Sie nickte den Seligpreisern zu. Der alte Mann blinzelte und schüttelte mit großer Anstrengung den Kopf. Mit zitternder Hand fuhr er unter seine Robe und tastete unbeholfen umher, dann zog er eine Pergamentrolle hervor und drückte sie ihr in die Hand. »Sehr gut. Anborn, bitte geleite die Seligpreiser an einen Ort, wo sie ungestört beten können.«
Der cymrische Krieger trat vor den Tisch und trieb die Seligpreiser zu einer dicht gedrängten, protestierenden Menge zusammen. Er führte sie hinaus und achtete nicht auf ihre Bitten, zu dem sterbenden Anführer durchgelassen zu werden.
Der Patriarch deutete wortlos auf die Pergamentrolle in Rhapsodys Hand. Sie hielt sie ihm vor die Augen.
»Wollt Ihr, dass ich das laut vorlese?«, fragte sie ruhig. Der Patriarch nickte.
»Sehr gut«, sagte sie. Sanft ließ sie seine Hand los, die ihre eigene noch immer im Krampf des nahenden Todes umfasst hielt, und entrollte das Pergament.
»Hört mich an«, sagte sie. Die Stimme der Benennerin trug weit. »Hiermit gebe ich das letzte Sendschreiben des Patriarchen von Sepulvarta bekannt. Es besagt: Im Fall der Amtsnachfolge sollen der Ring und die Waage entscheiden.«
In der Menge setzte lautes Murmeln ein, während die Seligpreiser in entsetztem Schweigen gefroren und abwechselnd wutrot und schreckensbleich wurden. Einen Moment später kehrte der Page mit Rhapsodys Harfe zurück. Er hielt sie hoch; sie wurde von Hand zu Hand bis zu Anborn weitergereicht, der sie der Königin übergab.
»Grunthor, kannst du mir hinauf helfen?«, fragte sie und deutete auf den Tisch. Der Bolg hob sie mühelos auf die Tischplatte, wo sie sich neben den Patriarchen setzte und seinen Kopf und die Schultern auf den Schoß nahm. Sie machte es ihm so bequem wie möglich und begann mit ihrem leisen Harfenspiel, wobei sie darum kämpfte, die Tränen zurückzuhalten. Der alte Mann lächelte sie an. Und schließlich sprach er.
»Es ... es tut mir Leid, mein Kind«, keuchte er und rang nach Luft. »Ich wusste nicht, dass es ... jetzt kommen würde. Ich hatte nicht vor, dir das Fest... zu verderben ...«
»Ihr habt nichts verdorben«, versicherte ihm Rhapsody. »Euch das Totenlied zu singen und Eure letzten Worte hören zu dürfen ist eine große Ehre für mich. Ich will sie allen verkünden und den Überlieferungen hinzufügen, damit sie und das Angedenken an Euch ewiges Leben haben. Dass wir beide in dem Augenblick zusammen sind, da Ihr uns in Richtung auf das Licht verlasst, ist das größte Geschenk, das Ihr mir je machen konntet. Ruht Euch aus.« Sie unterbrach ihr Spiel nur so lange, bis sie ihm das Büschel silberner Haare aus den Augen gestrichen hatte, die trübe wurden und die Sonne widerspiegelten. Dann zupfte sie wieder die Saiten der Harfe und sang eine süße, wortlose Melodie.
Der Atem des Patriarchen kam stoßweise. Rhapsody hatte genug Leute sterben gesehen und wusste, dass es nun so weit war. Sie beugte sich zu seinem Ohr hinunter. Eine Träne aus ihren glitzernden grünen Augen fiel auf sein Gesicht.
»Meine letzten Worte sprich sie für mich«, flüsterte er. »Du... kennst sie.«
»Ja«, erwiderte sie. Sie legte dem Sterbenden die Hand auf die Brust und ließ seine Stimme durch ihre eigene klingen; sie war nun tief, voll und wohltönend, wie sie in seiner Jugend gewesen sein musste.
»Vor allem wirst du die Freude kennen lernen.«
Ein glückseliges Lächeln legte sich auf das Gesicht des Geistlichen. Er schloss die Augen. Rhapsodys Melodie wurde stärker, und als er den letzten Atemzug tat, begann sie mit dem lirinschen Lied des Übergangs. Sie sang es so innig wie möglich für den alten Mann, der den Klang der Harfe so sehr liebte.
Der wolkige Tag wurde etwas heller, als sich die Fesseln der Erde lockerten gerade lange genug, damit die Seele des Patriarchen hinüberwechseln konnte. Mit Ausnahme einer kleinen Welle aus Sonnenlicht bemerkte die Menge nichts von diesem Übergang, doch Rhapsody sah ihn und schickte einen Kuss in den Himmel. Dann sah sie hinüber zu den Segnern, die in verblüfftem Schweigen in der Ecke standen. Ian Steward und Colin Abernathy hielten einander die Hände; sie zitterten und waren blass. Lanacan Orlando stand schweigend da; sein Gesicht war eine unerschütterliche Maske, während Philabet Griswold und Nielash Mousa ihre Wut kaum beherrschen konnten.
»Euer Ehren, vielleicht wäre das eine gute Gelegenheit, gemeinsam zu beten.«
Achmed goss sich ein besonders großes Glas canderianischen Whiskey ein und gab die Flasche an Grunthor weiter. Der Sergeant sah den König kurz an, setzte dann die Flasche an die aufgeworfenen Lippen und nahm einen tiefen Schluck.
Der Tag war albtraumhaft gewesen. Rhapsodys Fähigkeiten als Benennerin hatten dabei geholfen, die verängstigte Menge ruhig zu halten, und sie war bis nach Mitternacht im Hof geblieben und hatte die Trauernden getröstet und die Glückwünschenden begrüßt, die zu ihrer Krönung angereist waren. Nun nahm sie ein Bad und hoffte, die Auswirkungen des Chaos abwaschen zu können, das ihre Krönungszeremonie gewesen war. Ihre Firbolg-Freunde saßen in ihrem Gemach vor dem Feuer und unterhielten sich über die nächsten Schritte, bevor sie zurückkam.
»Glaubst du, sie hat den Pfeil nicht bemerkt?« Achmed nahm einen weiteren Schluck und biss die Zähne zusammen, als die brennende Flüssigkeit seine Kehle herunterrann.
»Eindeutig nicht«, sagte Grunthor und setzte die Flasche noch einmal an. »Sie glaubt, der alte Ziegenbock is einfach so zusammengefallen, was ja schon monatelang zu erwarten war.«
»Gut. Wir sollten sie in diesem Glauben belassen. Ich bezweifle, dass sie es gut fände, wenn sie erfährt, dass der Tod ihres Freundes ein Ablenkungsmanöver war.« Er bemerkte eine Verfinsterung auf Grunthors Gesicht, doch der Riese sagte nichts.
Einen Moment später betrat Rhapsody das Hauptzimmer in ihrem Morgenmantel, mit nassem Haar und einem Badetuch in der Hand. Sie ging zum Feuer, das aufloderte, als sie sich ihm näherte, und beugte sich darüber, während sie sich die Haare mit dem Badetuch abtrocknete. Schließlich schüttelte sie den Kopf. Die halb trockenen Locken peitschten ihr um das Gesicht, das rosig vom Bad und dem Feuerschein war. Dann kam sie zu Grunthor und nahm ihm die Flasche aus der Hand. Sie trank einen Schluck und gab sie ihm zurück. Dann setzte sie sich auf seine Knie.
»Bald will keiner mehr auf eine Feier kommen, die ich ausrichte«, sagte sie. Grunthor kicherte; Achmed lächelte nur. Seine Augen verdunkelten sich. »Vielen Dank für all eure Hilfe heute. Ohne euch hätte ich das nie durchgestanden.«
»Es war noch ein wenig schlimmer, als du weißt«, sagte Achmed, schluckte den Rest seines Whiskeys hinunter und goss sich ein weiteres Glas ein. »Unser Freund aus der Gruft der Unterwelt hatte sich entschlossen, an deiner Feier teilzunehmen.« Rhapsody sah ihn fragend an. »Ich habe heute herausgefunden, wer der F’dor ist.«
Rhapsody richtete sich auf; beinahe wäre sie von Grunthors Knien gefallen. »Wer?«
Achmed setzte sein Glas ab. Sein Gesicht wurde ernst im Feuerschein. »Lanacan Orlando, der Segner von Bethe Corbair.«
»Bist du sicher?«, fragte sie und riss die Augen weit auf.
»Vollkommen. Ich konnte ihn riechen, als die Gruppe des Patriarchen aus der Kutsche stieg. Ich bin ihm gefolgt und habe seinen Herzschlag erwischt. Er ist der Dämon.«
Rhapsody lehnte sich gegen Grunthors Schulter und war in tiefen Gedanken verloren. »Nun, das ergibt einen Sinn. Der Patriarch sagte, Lanacan sei der Priester, den er aussenden würde, um die Verwundeten zu heilen und die Heere zu segnen. Das hat ihm Zugang zu ihnen verschafft, als sie völlig offen für ihn waren. Er konnte sie bannen, während er sie segnete, und ihnen den Samen einsetzen, der sich später in den Morden Bahn brach. Dieser Bastard! Oelendra hat Anborn verdächtigt, weil er ebenfalls diesen Zugang hat.«
»Ist die ganze Zeit bei uns gewesen«, murmelte Grunthor, als Achmed sich die Whiskeyflasche nahm und sich ein weiteres Glas eingoss. »Kein Wunder, dass er unser persönlicher Geistlicher sein wollte. Den Göttern sei Dank, dass wir Bolg gottlose Heiden und auf dem Weg zur Verdammnis im Nachleben sind.«
Achmed nickte. »Jetzt habe ich noch eine gute Nachricht. Er weiß nicht, dass wir ihm auf die Spur gekommen sind. Das zeitige ... äh, unzeitige Ableben des Patriarchen hat meine Entdeckung verhindert; daher mussten wir noch nichts gegen ihn unternehmen.«
»Ja, was für’n Zufall«, brummte Grunthor. Achmed schenkte ihm einen giftigen Blick. Rhapsody wirkte verwirrt. »Aber etwas verstehe ich noch immer nicht«, sagte sie und nahm wieder einen Schluck aus der Flasche. »Ich weiß, dass der Segner jede Woche in der Basilika von Bethe Corbair Gottesdienste abhält. Das tun alle Segner jeweils in ihrer eigenen Basilika außer Colin Abernathy, denn die Neutrale Zone hat keine Basilika. Diese Basiliken sind heiliger, von den Elementen selbst gesegneter Boden. Auch der mächtigste Dämon kann so etwas nicht umgehen. Wenn er versucht hätte, den heiligen Boden auf irgendeine Weise zu entweihen, damit er wenigstens auf ihm stehen kann, hätte das Element, dem er geweiht ist, ihn sofort wieder gesegnet.«
»Erinnerst du dich daran, welchem Element die Basilika von Bethe Corbair gewidmet ist?«
Rhapsody dachte einen Moment lang nach und versuchte sich an ihre Unterhaltung mit Stephen Navarne zu erinnern. »Ich glaube, dem Wind«, sagte sie schließlich. »Ja, natürlich. Erinnerst du dich an den Klang der wunderbaren Glocken? Man konnte sie überall in der Stadt hören.«
»Ist schwierig, drumrum zu kommen«, sagte Grunthor. »Aber natürlich is nichts unmöglich.«
»Richtig«, meinte Rhapsody. »Was sollen wir jetzt tun?«
»Grunthor und ich werden heute Abend abreisen und Orlandos Karawane folgen«, sagte Achmed und genoss den Rest seines Whiskeys. »Ich habe Sylvia gebeten, sie solle uns sagen, ob und wann die Segner sich wieder auf den Weg machen. Es sollte leicht sein, ihre Spur zu finden.«
»Und was ist mit mir?«, fragte die frisch gekrönte Königin entrüstet.
»Du wirst erst einmal hier bleiben und dich in deinem neuen Königreich einrichten. Wenn du sofort nach deiner Krönung fortgehst, werden sich Gerüchte entwickeln. Wir spähen aus, was los ist, dann kommen wir zurück und planen den Tod des Dämons. Wir haben bestimmt ein paar Wochen Zeit, und alles in Ordnung zu bringen. Ist das in Ordnung?«
»Vermutlich«, sagte Rhapsody und schaute aus dem Fenster. »Aber wir sollten nicht zu lange warten, ja? Ich will nicht, dass noch mehr Unschuldige sterben müssen.«
Grunthor und Achmed tauschten einen Blick. Es war schon ein Unschuldiger mehr gestorben, als ihr bekannt war.