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Tief in den Tunneln von Ylorc
Die Überlieferungen der Finder

Seit den ältesten Tagen, in den dunkelsten Ecken der Firbolg-Geschichte, hatte es Finder gegeben.

Die Bolg von Canrif besaßen keine schriftlich festgehaltenen Legenden, keine dauerhaft aufgezeichneten Traditionen; sie waren eine Rasse von Analphabeten, zumindest bis Achmed, der selbst nur zur Hälfte von ihnen abstammte, wie durch Magie von der anderen Seite der Welt zu ihnen gekommen war und den Berg beinahe auf das eigene Verlangen des Volkes in Besitz genommen hatte.

Den Berg zu unterwerfen war in der Tat ein einfaches Unternehmen gewesen. Einer der ersten Orte, welchen die Drei in der verlassenen Ruine gefunden hatten, dem früheren Herrschaftssitz Gwylliams, war die königliche Bibliothek gewesen, das Herz von Canrif. Sie enthielt eine gewaltige Sammlung von Landkarten, Plänen und Manuskripten; einige stammten von der untergegangenen Insel Serendair, und alle waren sorgfältig katalogisiert, steckten in runden Schutzbehältern aus Marmor oder altem Elfenbein und lagerten unter dem wachsamen Blick eines gewaltigen Freskos an der gewölbten Decke, das einen rotgoldenen Drachen darstellte, dessen versilberte Krallen in einer stummen Drohgebärde ausgestreckt waren.

In der Bibliothek lagen auch die Eingänge zu den tiefer gelegenen Schatzgrüften und Reliquienschreinen, in denen Gegenstände aufbewahrt wurden, die für den schon lange toten König von großem Wert gewesen waren. Dort hatte sich sogar sein Leichnam befunden. Sie hatten Gwylliams mumifizierten Körper auf dem Rücken liegend inmitten der verfaulenden Staatsroben entdeckt; seine verdorrte Brust war grausam aufgerissen gewesen. Seine schlichte Krone aus reinstem Gold hatte achtlos neben ihm gelegen und davon gezeugt, wie der Mächtige gefallen war.

Am wichtigsten für die Eroberung Ylorcs waren Achmed aber die Maschinen gewesen, die der cymrische König gebaut hatte, um Bewegungen innerhalb des Labyrinths aufzuspüren, sowie die Reihe von Hör und Sprechröhren, die teils sichtbar, teils unsichtbar durch den gesamten Berg liefen, zum größten Teil noch funktionierten und allesamt sehr nützlich waren. Es war kaum mehr nötig gewesen, als diese Erfindungen ein wenig zu verändern und das Ventilationssystem wieder in Gang zu setzen, das frische Luft und Wärme nach Canrif brachte, um die gegenwärtigen Bewohner davon zu überzeugen, dass sie auf ihrem eigenen Boden aus dem Felde geschlagen waren.

Die Bolg hatten sich mehr oder weniger fügsam ihrem neuen Kriegsherrn ergeben, der die Bergstädte der »Willums«, wie sie die Cymrer nannten, zu ihrer früheren Pracht zurückführen konnte, diesmal unter der Hand eines Anführers, der wenigstens ein halber Firbolg war. Sie wussten nichts von seiner anderen Seite, seiner dhrakischen Natur, die vor allem danach trachtete, die Dämonengeister des F’dor zu finden. Sie waren aus der großen Gruft des Lebendigen Gesteins entkommen, die die Drachen errichtet hatten, um sie dort in der VorZeit einzusperren. Es war ein Bluteid, der weitaus älter war als jeder, den er den Firbolg als ihr neuer König geschworen hatte, doch das wussten sie nicht.

Als Achmeds Herrschaft über Ylorc begonnen hatte, hatte Rhapsody darauf bestanden, die Bolg andere Dinge als nur die Kriegskunst zu lehren, denn sie sollten ihren Berg nicht nur gegen die blutdürstigen Männer aus Roland halten, sondern überdies eine Kultur aufbauen können, die auch außerhalb des Berges Bestand hatte. Bis zu diesem Jahr hatten jene Männer immer wieder an einem jährlich stattfindenden Morden teilgenommen, das als »Frühjahrsputz« bekannt war, einem Schlachtritual, in dem die Bolg ihre Alten, Schwachen und Kranken im Gegenzug dafür herausgaben, für den Rest des Jahres in Ruhe gelassen zu werden.

Doch seit diesem Frühling wehte ein anderer Wind um die Gipfel der Zahnfelsen. Die Soldaten Rolands waren wie gewöhnlich gekommen, auf Tristan Stewards Befehl zweitausend Mann stark. Sie hatten zu ihrem Leidwesen herausgefunden, dass die Ungeheuer, die sie mit Gleichgültigkeit zu töten gewohnt waren, leider inzwischen selbst das Abschlachten von ihnen gelernt hatten. Achmed hatte die Nachricht vom Massaker an der orlandischen Brigade durch die Bolg dem Herrn von Roland persönlich überbracht, ihn in seinem eigenen Schlafzimmer geweckt und ihm ein Ultimatum gestellt, das zehn Tage später zu einem widerstrebend abgeschlossenen Friedensvertrag geführt hatte.

Ich bin das Auge, die Klaue, der Fersensporn und der Beuschel des Berges. Ich bin gekommen, dir zu sagen, dass dein Heer aufgerieben wurde.

Der Herr von Roland war bebend aus dem Schlaf erwacht und hatte nicht aufgehört zu zittern, während er der sandigen Stimme gelauscht hatte, die ein Teil der Finsternis selbst zu sein schien.

Falls es dir gelingt, noch eine Weile am Leben zu bleiben und unser Treffen geheim zu halten, wirst du in zehn Tagen ein Handels und Friedensabkommen mit uns abgeschlossen haben...

Meine Abgesandte wird dich in genau zehn Tagen an der bestehenden Grenze zwischen meinem Reich und Bethe Corbair erwarten. Bist du nicht pünktlich, rückt die Grenze mit jedem Tag ein Stück zurück. Wenn du aus irgendwelchen Gründen nicht reisen möchtest, brauchst du also nur hier zu warten. In etwa vierzehn Tagen würde die Grenze gleich hier durch deine Festung verlaufen.

Tristan Steward, sein Vetter Stephen Navarne, der Herzog der Provinz, die seinen Familiennamen trug, und Tristans Bruder Ian Steward, der Seligpreiser von Canderre-Yarim, waren tatsächlich an der Grenze erschienen. Die ersten beiden hatten politische Ziele verfolgt, der Seligpreiser religiöse. Rhapsody hatte ihre Verhandlungen sanft begleitet und sie zu Handelsabkommen verführt, die sehr vorteilhaft für die Bolg waren, sowie Friedensverträge abgeschlossen, die Roland knebelten. All das hatte sie mit einem unbewussten Zwinkern ihrer grünen Augen erreicht. Tristan Steward war in seine Zentralprovinz und zu seiner unangenehmen Verlobten zurückgekehrt und hatte das beunruhigende Gefühl gehabt, dass er sowohl seine Geburtsrechte als auch seine Seele an Ylorc übergeben hatte.

Was Tristan Steward nicht erkennen konnte, war die Art der Zündschnur, die seine falsche Entscheidung, eine ganze Brigade gegen Achmeds Truppen zu schicken, in Brand gesetzt hatte.

Der natürliche Prozess, diplomatische Bande mit einer neuen Herrschaft zu knüpfen, ist üblicherweise lang, und das aus gutem Grund. Ein frisch gekrönter König braucht Zeit, alles über sein Reich in Erfahrung zu bringen, was er wissen muss, und die guten und schlechten Aspekte der Beziehungen zu seinen Nachbarn, Verbündeten und Feinden kennen zu lernen. Die Vernichtung von Tristans Heer hatte diesen Prozess beschleunigt. Die Schreckenstat hatte sich wie ein Lauffeuer durch die Provinzen von Roland und die angrenzenden Länder Sorbold im Süden, Gwynwald im Westen und Hintervold im Norden und sogar in den Nationen hinter den Zahnfelsen im Osten verbreitet. Nur das Lirin-Reich von Tyrian, jener ausgedehnte Wald, der an die südöstliche Küste grenzte, hatte keinen Botschafter nach Ylorc geschickt und nicht erkennen lassen, ob die Besteigung von Gwylliams Thron durch einen Firbolg-Kriegsherrn irgendeinen Eindruck hinterlassen hatte.

Von dieser Ausnahme abgesehen, waren die Nachbarländer Ylorcs eifrig darauf bedacht, so viele Friedensvereinbarungen wie möglich mit den Bolg einzugehen und auch den Handel ein wenig voranzutreiben.

Besonderes Interesse fand sich in Sorbold, dem dürren Land der Sonne, das früher Teil des cymrischen Reiches gewesen war, nun aber allein stand und eine unabhängige Nation war, die mit Roland nur durch Beziehungen zum alten Patriarchen von Sepulvarta verbunden war, dem religiösen Haupt beider Länder. Die Sorbolder wollten unbedingt Zugang zu den ausgezeichneten Waffen haben, die in den Feuern der Firbolg-Schmieden hergestellt wurden. In ihrem Land gab es nur wenige Bodenschätze, und die Stahlproduktion war teuer und schwierig.

So brachten sie diese Frage durch ihren Botschafter Syn Crote vor, der für seine Überredungskunst bekannt war. Doch während Achmed Verträge für andere Güter unterzeichnete, weigerte er sich, Waffen an Sorbold zu verkaufen, denn es war äußerst unklug, eine Nachbarnation mit den eigenen Beständen auszurüsten, wie freundlich ihr Botschafter auch immer sein mochte. Der Kronprinz von Sorbold biss sich auf die Zunge und lächelte gequält, doch jeder Narr konnte sehen, dass diese Weigerung früher oder später mindestens zu weiteren Diskussionen und möglicherweise zu Schlimmerem führen würde. Doch im Augenblick herrschte Frieden.

Sobald die Handelsabkommen unterzeichnet waren, entwarf Achmed einen Plan, diese Abschlüsse und andere Übereinkommen und Schriftstücke vor der wahllosen und unerklärlichen Gewalt zu schützen, die das neue Land geißelte, seit er, Rhapsody und Grunthor hier aus der Wurzel ans Licht gekrochen waren.

Eine Reihe von bewachten Karawanen, die in wöchentlichen Abständen von fünfzig Soldaten Tristan Stewards begleitet wurden, machte die Runde in allen miteinander verbundenen Ländern des mittleren Kontinents: von Ylorc nach Bethe Corbair, nach Sorbold, nach Sepulvarta, über die Krevensfelder nach Bethania und Navarne, dann weiter nach Tyrian, nach Avonderre, nach Gwynwald und Canderre, nach Norden in das Eisstarrende Hintervold, dann ostwärts in die Hitze Yarims und zurück und schließlich wieder nach Ylorc. Die Route war einfach zu bereisen, auch wenn sie durch unterschiedliches Gelände führte und dabei auf das alte cymrische Straßennetz zurückgriff, das in den besseren Tagen des Reiches erbaut worden war. Mit der Wiedereinführung der verhältnismäßig sicheren Post und des Reisens ging ein Gefühl der Erleichterung einher, denn in den letzten zwanzig Jahren hatten sich die verschiedenen Gebiete des Kontinents sehr isoliert gefühlt, während die Gewalt ein schreckliches Ausmaß erreicht hatte. All jene, die in Wagen und Händlerkarren unterwegs waren, planten ihre Reisen so, dass sie möglichst mit den wöchentlichen Karawanen zusammenfielen, und waren dankbar für deren Schutz.

Für eine Gruppe aber, eine unbekannte, geheime Gruppe in einer kleinen Stadt, bedeuteten die Postkarawanen etwas völlig anderes. Für die Finder stellten sie die erste Möglichkeit in ihrer Geschichte dar, etwas an einem weit entfernten Ort zu suchen, das ihnen dabei helfen könnte, die Stimme wieder zu ihnen zurückzubringen.

Selbst die Bolg-Bevölkerung, die seit fünf Jahrhunderten in denselben Bergen lebte, dieselben Wachen hielt und dasselbe Reich bewohnte, wusste nichts von der Existenz der Finder, die unter ihnen lebten. Es handelte sich um eine Geheimgesellschaft, deren Mitgliedschaft unregelmäßig in verschiedenen Klanen weitergegeben wurde und unklaren Linien folgte. Die harte Wirklichkeit des Firbolg-Lebens verband sich mit einem entschiedenen Mangel an Kultiviertheit, soweit es Ahnenforschung anging; daher war es ihnen nicht möglich, gewisse Entwicklungen zu durchschauen. Selbst innerhalb der einzelnen Familien wurde das Geheimnis gut gehütet. Der Vater sprach nicht mit dem Sohn darüber, der Ehemann nicht mit seiner Frau. Niemand wusste etwas von den Findern außer den Findern selbst, und selbst sie versuchten nicht, die Namen aller herauszubekommen, welche den Ruf verspürten.

Es war ein Ruf im wahrsten Sinne des Wortes, der sie zusammenbrachte. Sie hatten sonst nichts gemeinsam keine körperlichen Eigenschaften, die sie als verbindend bezeichnet hätten. Zum Teil lag der Grund dafür in der weit verbreiteten Verunreinigung des bolgischen Blutes. Es war eine rechte Bastard-Rasse, deren Blut von jeder anderen Rasse verfälscht worden war, mit der sie Kontakt gehabt hatten; daher gab es keine reinen Bolg-Merkmale. Ein anderer Grund bestand jedoch darin, dass sie sich im Schutz der Dunkelheit trafen und daher nicht sehen konnten, wer die anderen waren und dass es bei den meisten von ihnen ein einzigartiges Merkmal gab ein etwas menschlicheres oder vielleicht auch nur etwas edleres Aussehen als bei den anderen Bolg.

Doch das Aussehen war nicht der Hauptzug, den die Finder gemeinsam hatten. Wenn das Bolg-Leben weniger tückisch gewesen und nicht so häufig im frühen Tod geendet wäre, hätte man vielleicht bemerkt, dass die Finder eine Neigung zur Langlebigkeit hatten, jedenfalls im Vergleich zu Firbolg-Maßstäben. Aber da die tägliche Wirklichkeit in Ylorc hart war, gab es so viele Fälle frühen Todes, dass diese Anlage nie zu einer offenkundigen Tendenz wurde. Sogar die neue Vierergruppe des Kriegsherrn, die im vergangenen Winter im Berg eingetroffen war, hatte schon einen Todesfall erlebt. Die Zweite Frau, ein junges, gelbhaariges Mädchen namens Jo, von dem die Bolg geglaubt hatten, sie sei König Achmeds weniger geschätzte Kurtisane, war gestorben, als die Blätter fielen, kaum ein Jahr nach ihrer Ankunft.

Obwohl den Findern keine ihnen allen gemeinsame körperliche Eigenschaft oder aber ihre Neigung zu einem etwas längeren Leben bewusst war, bemerkten sie doch eine sehr besondere Fähigkeit, die in ihrer unausgesprochenen Gefährtenschaft einzigartig war. Sie hatten einen Sinn für den Aufenthaltsort von Willum-Objekten, besonders für jene, die das Zeichen trugen.

Die Bolg waren kein Volk der Geschichtenerzähler; daher waren die Berichte über ihre Geschichte sowohl unzusammenhängend als auch spärlich und weit verstreut. Aber eine Geschichte war bei allen Klanen der Bolg mehr oder weniger Allgemeingut. Sie handelte von den Augen, den Spionen auf den Berggipfeln, von den Klauen, jenen Bolg, welche die westlichen Gebiete von Ylorc bewohnten, die ihre Grenze an der breiten, trockenen Schlucht und der darüber liegenden verdorrten Heide hatten, und von den Mutigen, den wilden, kriegslüsternen Klanen des Versteckten Reiches, der tiefen Länder hinter der Schlucht. Unabhängig vom Klan kannten alle Bolg die Geschichte, wie sie dem Willum-König den Berg abgenommen hatten.

Bevor sie Canrif bewohnt hatten, einst eines der Weltwunder, dann für Jahrhunderte eine Ruine und nun langsam im Wiederaufbau begriffen, waren die Bolg Höhlenbewohner gewesen, ein unmenschliches Volk, das kaum anders war als die Höhlenbären und unterirdischen Wölfe, die ihnen nachjagten und denen sie im Gegenzug ebenfalls nachstellten. Sie hatten in endloser Dunkelheit gelebt und sich mit allen kleinen Gruppen von Außenseitern gepaart, die sie unterwerfen konnten. Die Firbolg lebten über die ganze Welt verstreut, doch die einzelnen Mitglieder hätten dies niemals erfahren, weil ihre Vorstellung von der Welt auf die Höhlen und Berge beschränkt war, in denen sie ein karges und zuweilen grausames Dasein fristeten.

Zumindest bis die Willums kamen. Die Firbolg hatten die Cymrer beinahe von dem Augenblick an bemerkt, als die Reisenden aus Serendair bei den Zahnfelsen angekommen waren. Die zerzauste Karawane sturmgepeitschter Überlebender aus der stürmischen Überfahrt der Dritten Flotte hatte zunächst wie ein erstklassiges Angriffsziel ausgesehen: verwundbar, erschöpft, völlig hoffnungslos zumindest hatte es so geschienen. Bolg konnten so etwas riechen. Als jedoch ihre Anzahl offenkundig wurde es waren mehr als fünfzigtausend , stahlen sich die Bolg zurück in die Schatten ihrer Höhlen. Sie sahen zu, wie die Neuankömmlinge die Berge in hoch aufragende Städte, weit ausgedehntes Ackerland, gut gepflegte Wälder und tiefe Labyrinthe verwandelten. Es war das Reich, das Gwylliam Canrif nannte, das cymrische Wort für Jahrhundert, weil er geschworen hatte, dass es in hundert Jahren zu einem Weltwunder werden würde.

Als so das cymrische Reich wuchs und sich ausdehnte, zogen sich die Bolg tiefer und tiefer in die Erde und nach Osten in die Wüste zurück, bis der Krieg kam.

Gwylliams Kampf gegen seine Frau und Königin Anwyn, die Halbdrachentochter des Wyrm Elynsynos, hatte seinen Ausgang in einem Ereignis genommen, das die Cymrer den Schweren Schlag nannten. Dabei hatte es sich um einen Schlag in Anwyns Gesicht gehandelt, der aus einem ehelichen Zank unbekannter Ursache hervorgegangen war. Der daraus folgende Krieg war sowohl für den Kontinent als auch für die cymrische Bevölkerung, die sich in zwei Lager gespalten hatte, verheerend. Einige folgten Anwyn, andere blieben Gwylliam treu ergeben. Es war ein blutiger Konflikt, der Familien auseinander riss. Selbst Anwyns und Gwylliams eigene Söhne Llauron und Anborn stellten sich gegeneinander und veranlassten so Edwyn Griffyth, den ältesten Sohn, der ganzen Familie den Rücken zu kehren.

Die Bolg kannten keine Einzelheiten. Sie wussten aber, dass die einst unzugängliche Festung in den Zahnfelsen an den Rändern abbröckelte; die Grenzpatrouillen, die die Berge in eisernem Griff gehalten hatten, waren nach den ersten zweihundert Jahren des sieben Jahrhunderte dauernden Krieges kaum mehr zu sehen. Nachdem die Bolg fünfhundert Jahre dieses Konflikts mitbekommen hatten, fassten sie endlich den Mut, Vorteile aus dieser Situation zu ziehen.

Zuerst langsam und dann, ermutigt durch ihren Erfolg, kühner werdend, errichteten einige Klane kleine Enklaven am Rande von Gwylliams riesigem Reich. Der Herr der Cymrer war so beschäftigt, dass es ihm gleichgültig war, ob eine rattenhafte Bevölkerung von Höhlenbewohnern den Weg durch die östliche Steppe fand und in einige der älteren Abschnitte seines gewaltigen Labyrinths eindrang. Kleinere Berichte über verschwundene cymrische Patrouillen oder unerklärliche Lagerstätten gingen in den größeren und blutigeren Bilanzen über die Schlachten mit Anwyn unter. Seine Gleichgültigkeit sollte sich am Ende als Grund für den Untergang seines Königreiches erweisen.

Als Anwyns Heer näher rückte und sich anschickte, eine letzte Reihe von erfolglosen Angriffen gegen den Berg zu beginnen, nutzten die Bolg die Gelegenheit und überrannten Canrif. Gwylliam war verschwunden, und Anborn, Gwylliams jüngster Sohn und sein General, sah sich der schweren Entscheidung gegenüber, entweder den Berg zu evakuieren, so lange es noch möglich war, oder eine Schlacht an zwei Fronten zu schlagen, innerhalb des Berges und außerhalb. Er erkannte richtig, dass er nicht beide Stellungen würde halten können und der Berg eigentlich schon an die Firbolg verloren war. Canrif, das Kronjuwel des cymrischen Reiches, das sich von den Bergen bis zur westlichen Meeresküste erstreckte, das große Provinzstädte umfasste, tausende Meilen von Straßen und Aquädukten gebaut und Basiliken mit visionärer Architektur und Häfen errichtet hatte, die tausend Schiffe gleichzeitig beherbergen konnten, zerbröckelte wie Sand und fiel für immer in die eifrig ausgestreckten Hände eines Volkes, welches die Menschen als Ungeheuer ansahen. Mit dem Überrennen von Canrif gingen natürlich Plünderungen einher, und alle zurückgelassenen Schätze wurden gesammelt, aufgeteilt, umkämpft oder vernichtet zumindest diejenigen Dinge, die nicht in den Grüften der Bibliothek verborgen waren, denn die Bibliothek war mit einem Musikschloss versehen, das die Bolg nie hatten öffnen können. So war vieles, was die Cymrer hoch geschätzt hatten Schriften, Kunstwerke, Landkarten und Artefakte aus der alten Welt, Museumsstücke und technische Erfindungen , für die Bolg von geringem oder keinem Nutzen und endete als verschmähte Kriegsbeute. Eine ganze Bibliothek alter Manuskripte wurde zu Brennmaterial für ein Freudenfeuer bestimmt. Diejenigen Hinterlassenschaften der Cymrer, mit denen die Bolg etwas anfangen konnten, wurden freudig aufgeteilt oder heiß umkämpft, manchmal wieder und wieder. Nutzvieh, Stoffe, Waffen und Rüstungen sowie Nahrungsmittelvorräte wurden fortgeschafft. Schmuck war ebenso hoch geschätzt. Selbst jetzt, fünf Jahrhunderte später, war es kein ungewöhnlicher Anblick, wenn die Zerlumptesten Frauen oder sogar Männer der Bolg, deren Körper wegen fehlender Kleidung und des der Sonne Ausgesetzt seins hart und ledrig waren, durch die Korridore von Canrif wandelten und dabei Ohrringe in den Haaren oder reich verzierte Halsketten wie Kronen auf dem Kopf trugen.

Goldmünzen waren zunächst wegen ihres Leuchtens von Wert gewesen, wurden aber bald von den meisten Bolg abgelehnt. Ihre Kultur kannte keine Währung, wenngleich sie Tauschhandel betrieben; aber die Bolg wussten nur, wie man nützliche Güter gegen andere nützliche Güter eintauschen konnte. Leuchtendes, schweres Metall war zwar hübsch, aber so weich, dass man daraus keine vernünftige Waffe herstellen konnte, und hatte daher keinen wirklichen Wert. Deshalb blieb es unbeachtet, wenn die Bolg die verlassenen Hallen und Gemächer plünderten, in denen einst die Cymrer gewohnt hatten.

Aber diese Münzen hatten einen großen Wert für die Finder, denn sie trugen das Zeichen. Das Zeichen war in der Willum-Stadt häufig zu sehen. Es war ein Symbol, das den Bolg nichts bedeutete, und enthielt Bilder von Dingen, die sie nie zuvor gesehen hatten. Im Vordergrund befand sich ein Stern, der über den Köpfen eines wilden Löwen und eines Greifen leuchtete. Hinter diesen Bestien sah man das Abbild der Erde. Auf ihr wuchs eine Eiche, die ihre Wurzeln tief in den Boden gesteckt hatte. Das war nichts, was eine primitive Kultur hätte deuten können.

Die Finder schätzten alles, was sie von den Willums finden konnten, doch um einen Platz in dieser geheimen Bruderschaft zu erhalten, musste sich ein Mann oder eine Frau als wahrer Empfänger des Rufes erweisen, indem er oder sie etwas fand, was das Zeichen trug. In der ersten Zeit, nachdem die Willums aus dem Berg vertrieben waren, war das sehr einfach gewesen. Doch mit den fortschreitenden Jahrhunderten wurde beinahe alles, was in den Tumulten verloren gegangen war, wiedergefunden, falls es nicht so tief in die Ruinen der unterirdischen Stadt eingesunken war, dass seine Entdeckung schieres Glück war. Jeder neue Fund löste große Aufregung aus, denn vielleicht war er das, wonach die Stimme verlangt hatte. Doch irgendwann hatte es den Anschein, dass alles, was sich in dem Berg befunden hatte, entdeckt worden war.

Aber die Finder der späteren Generationen spürten die Anwesenheit einiger wertloser Stücke hier und da an weit entfernten Orten. Die meisten befanden sich auf dem Gebiet von Roland, und daher kam es nicht infrage, sie zu »finden«. Bei einigen wenigen Stücken hatte man jedoch gespürt, dass sie sich in Sorbold befanden, doch vor den Handelsabkommen und den großen Karawanen war es nicht möglich gewesen, die Berge zu verlassen und sie zu holen. Hagraith wartete in den Schatten des Kasernenfeuers. Sein unangerührter Eintopf in dem zerbeulten Metallnapf wurde kalt. Während die Soldaten seines Regiments, die aus den robusten Klanen des Auges und der Klaue aus den inneren Zahnfelsen ausgesucht waren, lachten und gierig im flackernden Licht aßen, lauschte er auf das Zeichen, von dem nur er allein wusste, dass es kommen würde.

Zuerst hätte er es beinahe überhört. Es wurde durch das Klappern des Metallgeschirrs, das Grunzen und Geraufe gedämpft. Doch tief und deutlich, zweimal wiederholt, hörte er die Töne, insgesamt fünf, zweimal gesungen. Er senkte den Blick auf seinen Becher.

Heute Nacht würden sie sich an der Hand treffen.

In den dunkelsten Korridoren des Labyrinthabschnittes, der als Sigreed, die Krypta oder genauer das Dorf der Toten bekannt war, trafen sich heimlich vier Leute. Aus der Ferne hörten sie das Klirren der alten Schmieden, die neue Waffen, neue Rüstungen, neuen Stahl für den Wiederaufbau ausstießen; es war ein hohles, klapperndes Geräusch, das mehr als nur ein wenig nervös machte. Wenn die Bolg des Lesens mächtig gewesen wären, hätten sie es vielleicht auch als unangenehm empfunden, sich zwischen unzähligen Reihen von Grabplatten zu verstecken, die die Wände der Korridore be deckten und die Gräber von Vizekönigen, Kanzlern und Ratgebern aus der cymrischen Zeit anzeigten, deren Weisheit nun tief in der Erde begraben lag.

Hagraith hockte nervös im Daumen der Hand, dem östlichen Tunnel, der zum zentralen Gebiet der so genannten Handfläche führte, in der sich vier weitere Tunnel trafen. Unter seinem Wams versteckt hielt er ein in gegerbtes Leder eingeschlagenes Bündel, den Preis für die Zulassung zur Bruderschaft. Er hatte ihn ziemlich zufällig bei Manövern tief im Versteckten Reich entdeckt und seinen Ruf sofort heftig verspürt. Der Porzellanteller, den er unter seinem Wams versteckt hielt, hatte ganz unten in einer verfaulenden Holzkiste gelegen, die in einem Torfmoor versenkt worden war, welches die Ruinen einer lirinschen Stadt bedeckte. Dieses Stück war aus vielen Gründen ein Wunder. Es trug nicht nur recht deutlich das Zeichen, sondern es war überdies nicht zerbrochen und von der Zeit unberührt. Falls es ihm gelang, endlich nicht mehr zu zittern, blieb es vielleicht in diesem Zustand, bis er es zeigen konnte.

Krinsel, eine der mächtigsten Finderinnen und eine beliebte Hebamme der Bolg, nickte ihm in der Dunkelheit zu. Sie hielt eine Talgkerze, an deren Docht eine winzige Flamme züngelte; es war das einzige Licht in der alles verschlingenden Dunkelheit. Krinsel saß mit überkreuzten Beinen in der Handfläche, von wo aus sie die anderen Finder sehen konnte, die in den Fingertunneln kauerten, welche zum zentralen Platz führten. Vor ihrem linken Fuß lagen die Seile, die jeden Tunnel versiegeln würden, sobald ein anderes Geräusch als das Klappern der Schmieden fern über ihnen näher kommen sollte.

Als sich Hagraith nicht regte, verengten sich Krinsels Augen und wurden zu Schlitzen in der Dunkelheit.

»Gib her.«

Hagraith versuchte, nicht zu zittern. Er kroch zu der Öffnung, wo der Daumen in die Handfläche mündete, und zog vorsichtig das Lederpäckchen unter seinem Wams hervor. Er hielt es Krinsel entgegen, die es mit festem Griff entgegen nahm mit den Händen, die eine ganze Generation von Kindern und mehr als nur ein paar Schätze mit dem Zeichen darauf ans Licht des Tages geholt hatten. Er schlitterte zurück zum Beginn des Daumens und keuchte.

Mit großer Zartheit wickelte Krinsel den Teller aus und hielt ihn mit einer Hand hoch, während sie mit der anderen die Kerze nahe an ihn heranbrachte, damit sie ihn untersuchen konnte. Ihre Augen weiteten sich, und sie verzog das Gesicht zu einem entspannten Lächeln.

»Es ist das Zeichen«, sagte sie ehrfürchtig. Nach einem Augenblick richtete sie ihre dunklen Augen auf Hagraith. »Ein Finder bist du nun.«

Hagraith neigte erleichtert den Kopf und spürte, wie sich der Stein in seinen Eingeweiden auflöste. Der Schweiß, den seine Angst zurückgehalten hatte, floss ihm nun von der Stirn. Er durfte seine Hoden behalten. Sie waren der Preis für eine falsche Deutung des Zeichens oder das Vorzeigen eines falschen Fundes.

Krinsel hielt den Teller mit beiden Händen hoch und schloss die Augen.

»Ist es dieses hier, Stimme?«, fragte sie ruhig. Die anderen Bolg in den Tunneln schlössen die Augen und lauschten angestrengt, aber sie hörten nichts außer dem Lärm aus der Schmiede und dem stetigen, langsamen Schlag der Hämmer.

Kurz darauf öffnete sie die Augen und schüttelte gleichmütig den Kopf. »Für den Hort ist dies. Gut, Hagraith. Ein Finder bist du.« Sie drehte sich zu dem Tunnel um, der an der Stelle des kleinen Fingers lag. »Gebt her.«

Nach und nach untersuchte sie die Gegenstände: eine Münze wie tausend andere im Hort, der schwer zerkratzte Deckel einer Holzkiste mit einer bläulichen Färbung und schließlich ein Topf, in den das Zeichen eingeritzt war und der den ganzen Weg von Sorbold bis hierher gefunden hatte. Jedes der Dinge erklärte Krinsel als echt und hielt es hoch, damit die Stimme es erkennen konnte.

Wie immer, so gab es auch diesmal keine Antwort.

Gewandt stand Krinsel auf und nickte in den leeren Tunnel, der den Zeigefinger bildete und in einem endlosen Korridor hinab zum Hort führte. Die Finder folgten ihr und trugen ihre Schätze an jenen Ort, wo solche Dinge aufbewahrt wurden.

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