Vier Seligpreiser warteten ungeduldig vor der reich beschnitzten Tür aus schwarzem Walnussholz auf die erste Audienz seit mehr als zwei Jahren bei dem Führer ihres Glaubens. Alle waren aufgeregt, doch Philabet Griswold war besonders nervös, denn Nielash Mousa, dem Segner von Sorbold, war es gelungen, vor wenigen Minuten eine Privataudienz zu bekommen, und nun befand er sich bei dem Patriarchen. Zweifellos versuchte er gerade, seinen eigenen Weg zum Ring von Sepulvarta freizumachen. Griswold kämpfte darum, seine Wut unter Kontrolle zu halten, doch er verlor diesen Kampf kläglich.
»Wie lange sollen wir denn noch in dieser schrecklichen Halle warten?«, giftete er Gregor an, den Küster des Patriarchen.
»Keinen einzigen Augenblick mehr, Euer Gnaden«, erwiderte Gregor trocken und zog die Tür auf. »Der Patriarch wünscht Euch nun zu sehen. Bitte erinnert Euch daran, Euer Gnaden, dass er bei sehr schlechter Gesundheit ist und nicht aufgeregt werden darf.«
Griswold starrte ihn an und lief dann rasch in den Raum. Die anderen drei Seligsprecher nickten, und Lanacan Orlando klopfte Gregor auf den Arm, als er an ihm vorbeiging. Man hatte den Raum, der für gewöhnlich kalt war, in Ermangelung eines Kamins heute mit heißem Wasser geheizt, das über erwärmte Steine gegossen wurde, damit der angeschlagene Patriarch keine Erkältung bekam. Dampfwolken stiegen auf und senkten sich wieder; sie wogten wie Nebel über den silbernen, in den Boden eingelassenen Stern, den einzigen Schmuck des Zimmers.
In dem schweren schwarzen Walnussholzsessel auf einem marmornen Podest saß in seinen bauschigen silbernen Roben der zerbrechlich wirkende und ausgemergelte Patriarch. Seine hellen blauen Augen leuchteten aus dem Gefängnis des verfallenden Körpers. In der Klauenhaften, heftig zitternden Hand hielt er eine kleine Schriftrolle. Er deutete auf die fünf Stühle inmitten der wogenden Nebel; auf einem saß bereits der Segner von Sorbold.
»Bitte setzte euch«, sagte er. Trotz seiner gebrechlichen Erscheinung war seine Stimme klar, wenn auch dünn. Die Segner setzten sich; Griswold nahm mit einem offenen Stirnrunzeln den Stuhl, der am weitesten von Mousa entfernt stand.
Der Blick des Patriarchen glitt von einem zum anderen und zuletzt zu Gregor, der ihm eine kleine weiße Karte überreichte.
»Vielen Dank ... dass ihr alle so schnell gekommen seid. Ich habe euch drei Dinge mitzuteilen, meine ... Brüder in der Gnade«, sagte er stockend, warf einen Blick auf die Karte und sah dann wieder die Segner an. »Wie ihr sicherlich ... vermutet, läuft meine Zeit auf dieser Welt ab, und deshalb will ich ... mich auf das beschränken, was ... am wichtigsten ist. Ich muss euch das Folgende sagen:
Erstens habe ich ausführlich mit... dem Segner von Sorbold über die schreckliche ... Tragödie auf dem Winterfest in ... Navarne gesprochen und die Sendschreiben des ... Kronprinzen und der Königinwitwe gelesen, das sie diktiert hat. Ich bin überzeugt... dass dies ein unerklärlicher und ... einzelner Akt der Gewalt war, der jenen ähnelt, die ... während der letzten Jahre verübt wurden, und nicht ein Angriff, der ... von der Krone von Sorbold ... oder dessen Segner ausgeführt wurde.« Der Patriarch hustete schwer und sah dann Philabet Griswold scharf an, der schon aus Protest halb aufgestanden war. »Daher ist es die ... Auffassung des Ringes, dass ... Sorbold in keiner Weise für diesen Raubzug noch stärker leiden soll, als wir alle ... es schon getan haben.«
»Euer Gnaden«, platzte Griswold heraus.
»Zweitens«, fuhr der Patriarch fort und schaute auf seine Karte, »hat der Ring eine ... Einladung erhalten, vermutlich wie ihr alle, an der... Krönung der neuen lirinschen Königin in Tyrian teilzunehmen.« Er sah mit dem Anflug eines Lächelns auf. »Ich will hingehen. Und ich sähe es gern, wenn ... ihr alle mitkämet.«
Ian Steward von Canderre-Yarim und Lanacan Orlando aus Bethe Corbair sahen sich zweifelnd an. »Aber Tyrian hängt dem Glauben von Gwynwald an, Euer Gnaden«, sagte Steward.
»Ja, und er steht unter der ... Führerschaft eines neuen Fürbitters. Aber ich mag die ... neue Königin sehr; ich verdanke ihr mein Leben. Und wenn ich schon ... nicht mehr lange leben werde, möchte ich es so ... verbringen, wie ich es für richtig halte. Ich lade euch ein, mich ... zu begleiten.« Jeder der Segner nickte, Griswold nur ganz knapp, während Nielash Mousa seinem Blick auswich. Die Reise, die der Patriarch vorgeschlagen hatte, würde bedeuten, dass er zum ersten Mal seit seiner Einsetzung Sepulvarta verlassen würde.
»Schließlich«, fuhr der Patriarch fort, »weiß ich, dass ... ihr alle sehr besorgt über die Frage meiner Nachfolge seid.« Er schnaufte heftig, wobei Colin Abernathy und Ian Steward aufsprangen. »Sobald meine ... Entscheidung gefallen ist, wird sie ... in dieser Schriftrolle festgehalten. Es ist meine große Hoffnung, dass ... ihr es nicht zulassen werdet, persönliche ... Gründe nach meinem Ableben in den Vordergrund zu stellen. Der Schöpfer... spricht nur zu demjenigen, der als Patriarch... mit einem klaren Bewusstsein und dem Wunsch ... eingesetzt ist, sich Seinem Willen zu unterwerfen. Erinnert euch immer daran.«
Die Hand, welche die Schriftrolle hielt, zitterte noch stärker. Der Küster ging hoch zum Thron und hielt dem religiösen Führer die Hand.
»Wollt Ihr jetzt zum Hospiz zurückgehen, Euer Gnaden?«, fragte er, während er dem Patriarchen einen Becher Wasser an die Lippen hielt. Der Patriarch nahm einen Schluck und nickte. »Sehr gut. Dank sei euch, eure Gnaden, jedem von euch. Die Kutsche fährt morgen früh bei Sonnenaufgang ab; ich hoffe, bis dahin seid ihr reisefertig.«
»Einen Moment, Euer Gnaden«, rief Colin Abernathy, als sich der Patriarch bebend erhob. Er beachtete den Blick des Küsters nicht und fügte hinzu: »Ich sehe, dass Ihr heute Morgen nicht den Ring der Weisheit tragt. Gibt es dafür einen besonderen Grund?«
Der gebrechliche alte Mann richtete sich auf und ließ für einen Moment den Arm des Küsters los. Ein böswilliges Glänzen trat in seine Augen.
»Allerdings, Colin. Man könnte denken, dass ... in meinem Alter und bei meinem Zustand eine solche Reise nur ... gegen den Ratschluss der Weisheit unternommen werden kann. Man kann sie nur ... als eine sehr unkluge Idee ansehen, die meiner Gesundheit und der Fortführung meiner Existenz zum Schaden gereicht.« Er lehnte sich ein wenig vor und senkte die Stimme zu einem Flüstern.
»Aber ich werde es trotzdem tun!«
Er packte wieder Gregors Arm, machte einige Schritte auf die Marmorstufen zu und sah dann ein letztes Mal über die Schulter, bevor er sich auf den Rückweg zu seinem Krankenbett machte.
»Seid versichert, Colin und ihr anderen, dass der Ring da sein wird, wenn der neue Patriarch den Thron besteigt, wer immer es sein mag.«
Das Arbeitszimmer des Herrn von Roland war kalt; das Feuer im Kamin war während der Nacht heruntergebrannt. Tristan Steward saß davor, hielt ein Glas Whiskey in der einen Hand und in der anderen das Pergament mit der Einladung und dachte über sein Leben und darüber nach, wie er es verbessern könnte.
Zum ersten Mal seit beinahe einem Jahrhundert hatten die Lirin eine Königin gewählt. Ihre Wahl war für ihn keine Überraschung.
Er starrte das kalligraphierte Sendschreiben an und trank sein Glas leer. Als die Flüssigkeit in seinem Schlund brannte, biss er die Zähne zusammen. Welch eine gigantische
Verschwendung, dachte er und drehte die Einladung spielerisch in der Hand. Ich habe ein Ungeheuer geheiratet, um Canderre meinem Besitz hinzuzufügen, und wenn ich meine Herzensdame geheiratet hätte, wäre mir letztlich die Herrschaft über Tyrian zugefallen. So etwas war im Zuge der Geschichte noch nie geschehen. Wie traurig.
Nun, er hatte ein Jahr Zeit, um seinen Fehler zu berichtigen. Wenn er Madeleine dem Haus ihres Vaters zurückgab und ihre Verbindung löste, würde das sicherlich für einen gewaltigen Aufschrei in den Herrscherhäusern von Roland sorgen. Cedric Canderre würde zweifellos versuchen, ihn aus ihren gemeinsamen Kreisen zu verbannen und vielleicht auch seine Truppen aus dem Bündnis nehmen. Doch ein Umstand, der noch nicht eingetreten war, würde alles ändern. Innerhalb eines Jahres würde er König sein.
Zeit war alles.
Der Fürst von Roland stand entschlossen auf und rief nach seinem Botschafter.
»Evans. Evans!«
Als der alte Mann noch im Nachthemd an der Bibliothekstür erschien, gab Tristan Steward den umhereilenden Dienern bereits seine Anweisungen. Er hielt nur kurz inne, um einen Blick über die Schulter auf den alten Botschafter zu werfen.
»Evans, pack deine wichtigsten Reiseutensilien zusammen. Wir müssen an einer Krönung teilnehmen.«
Diener freigab. Er lehnte sich vor und machte eine Geste, die den Fahrer davon abhalten sollte, den Patriarchen und die vier anderen Segner zu wecken, die auf den kleinen Bänken an den Innenwänden des Gefährts schliefen.
»Was ist los, mein Sohn?«, fragte der heilige Mann.
»Die Brücke ist in einem schlechten Zustand, Euer Gnaden. Eis hat die Hauptstütze zerbrochen. Wir müssen umkehren und nach Norden zu Fischers Landung fahren; das ist von hier aus die nächste Stelle, an der wir den Phon überqueren können.«
Der heilige Mann nickte, und das kleine Fenster wurde wieder geschlossen.
Er sah verächtlich auf die anderen Männer, die in verschiedenen disharmonischen Tonlagen schnarchten und hässliche Knacklaute von sich gaben. Jeder von ihnen hatte sich in die Arme des Schlafes gehüllt. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal geschlafen hatte. Vielleicht im Sommer oder noch davor; seitdem hatte er kein Bedürfnis nach Schlaf mehr, sondern verbrachte seine Tage und Nächte in einem Zustand erhöhter Wachsamkeit. Der menschliche Körper, den er bewohnte, wurde manchmal müde, fiel aber nie in völlige Bewusstlosigkeit. In den ruhigen Augenblicken trieb sein Geist in einer Art von Meditation durch Gedanken und Träume, die sowohl den Platz des Schlafes als auch den des Wachseins eingenommen hatten. In gewisser Weise war er ein Schlafwandler: immer auf der Hut und auf den Tag wartend, an dem der Schlaf völlig enden würde.
Und der Albtraum beginnen konnte.
Es war beinahe so weit.
Die massive Kutsche des Patriarchen kam in der Dunkelheit zu einem plötzlichen Halt. Der heilige Mann setzte sich aufrecht hin, als sich das kleine Fenster am vorderen Ende des Wagens öffnete und den Blick auf das Gesicht eines der vier[...]