32

Viele elende Stunden später hielten die Tiere schließlich an und traten auf der Stelle, während sie allmählich zur Ruhe kamen. Die Nacht hatte sich schon vor langer Zeit gesenkt, und immer wenn Rhapsody einzuschlafen drohte, wurde sie schmerzhaft von Anborns Fingern wach gehalten, die sich scharf zwischen ihre Rippen bohrten, wobei er ihr hässliche Bezeichnungen in die klingelnden Ohren knurrte. Sie fiel in einen Zustand des Halbbewusstseins, konnte aber meistens auf seine Frage, ob sie wach sei, antworten. Schließlich kamen sie an einer dunklen Hütte an. Rhapsody erkannte kaum ihre Umrisse zwischen den Bäumen und im noch immer fallenden Schnee. Sie lag in der Waldlichtung so gut versteckt wie die Häuser der lirinschen Grenzwächter.

Die Tür und Läden der Hütte waren fest und massiv; auf den Oberflächen verliefen tiefe Kratzer. Anborn stieg ab und hob Rhapsody vom Pferd. Er warf sie sich wie einen Sack Mehl über die Schulter, während er seine Satteltasche abnahm. Dann trug er sie in die Hütte und setzte sie in einen großen, muffig riechenden Sessel. Er lief in dem Zimmer umher, öffnete das Abzugsrohr des Kamins und entfachte ein Feuer.

Rhapsody regte sich nicht und weigerte sich, den Umhang, der sie während der Reise warm gehalten hatte, auch nur ein wenig zu öffnen. Mit trüben Augen sah sie sich in dem Raum um. Die Wände waren kahl, und die kalte Luft schmeckte alt und abgestanden. In der Düsternis erkannte sie neben dem Sessel, in dem sie saß, ein Einzelbett und einen Tisch sowie Türen nach draußen und in einen anderen Raum, bei dem es sich möglicherweise um eine Abstellkammer handelte.

Einen Moment später füllte sich die Hütte mit schwachem Licht, als Anborn eine Laterne entzündete und das Feuer allmählich knisterte und aufloderte. Er verließ die Hütte und blieb einige Zeit fort. Rhapsody nutzte seine Abwesenheit und fiel in einen leichten Schlaf. Sie wurde rüde geweckt, als die Tür heftig zufiel. Anborn trat in den Raum und trug ein großes Fass, das wie ein Trog wirkte.

Nachdem er einigen Abfall herausgenommen und auf den Lehmboden geworfen hatte, stellte er das Fass vor den Kamin; dann verließ er das Zimmer erneut und kehrte mit einem großen schwarzen Topf zurück, den er über das Feuer hing. Ein drittes Mal ging er nach draußen. Während das Feuer kräftiger wurde, verspürte Rhapsody Schmerzen in den Gliedern, als diese langsam auftauten. Sie versuchte, Arme und Beine unter dem Umhang zu reiben, doch ihre Hände reagierten noch immer nicht. Panik überfiel sie. Da kam Anborn zurück.

Diesmal trug er zwei gewaltige Kübel und füllte das Fass vor dem Kamin. Dann ging er zu dem Topf über dem Feuer, nahm ihn vorsichtig mit einem Ledertuch ab, das seine Hand vor dem glühenden Griff schützte, und goss auch dieses Wasser in das Fass. Dampf stieg unter das Strohdach. Anborn ging hinüber zu Rhapsody, nahm ihr den Umhang fort, hob sie aus dem Sessel und steckte sie grob in das Fass.

Ein unterdrücktes Keuchen entwich ihr, und sie weinte tränenlos, als das heiße Wasser ihren noch frierenden Körper sprengte. Das Gefühl kehrte in ihre Gliedmaßen zurück, und Schmerz durchfuhr ihren Leib. Sie zitterte unbändig, als sich die Haut von den Zehen und Fingern abschälte, an die Wasseroberfläche stieg und zwischen den dünnen Schals umhertrieb, die sie immer noch trug.

Anborn verließ das Haus abermals ohne ein Wort oder einen Blick. Kurz darauf kam er mit neuem Wasser zurück, mit dem er den Topf über dem Feuer auffüllte. Dann trat er an das Fass, ragte über ihr auf und sah sie weinen. Er beugte sich zu ihr herunter, betrachtete sie kühl, streckte die Hand aus und zerrte an dem Schal, der kaum ihre Brust bedeckte.

»Zieh das aus«, sagte er und deutete auf den unteren Teil ihrer Kleidung, der teilweise zusammen mit Blättern, Zweigen und anderen Waldspuren auf der Wasseroberfläche schwamm. Rhapsody versuchte, den Stoff zu entfernen, doch sie konnte die Hüfte nicht hoch genug heben. Anborn griff ungeduldig in das Fass, zerrte den Schal los und warf ihn hinter sich auf den Boden. Sein Blick fuhr über ihren Körper und blieb so unbeteiligt, als schätzte er ein Tier auf einer Viehauktion ab. Dann ging er zurück zum Feuer und rührte den Topf um.

»Kehrt das Gefühl zurück?«, fragte er mit dem Rücken zu ihr.

»Ja«, schluchzte Rhapsody und versuchte, die Kontrolle über sich wiederzuerlangen. Sie sah zu, wie sich schwarze Haut von ihren Knien löste, in das Wasser glitt und rosafarbene Flecken hinterließ. »Wo ist der Gladiator?«

Anborn wandte sich um und schaute sie angeekelt an. »Du begreifst nicht, was Vorrang hat«, sagte er mit Verärgerung in der Stimme. »Du solltest dich fragen, ob wir deine Hände und Füße retten können. Dein Spielzeug ist dagegen völlig unwichtig.« Er hob den Topf vom Feuer, goss noch mehr dampfendes Wasser in das Fass und beobachtete mit grimmiger Befriedigung, wie Rhapsody erneut vor Schmerzen aufschrie.

»Das hört sich viel versprechend an«, bekundete er und hing den Topf wieder über das Feuer.

»Was wolltest du mich fragen?«

Rhapsody atmete flach und versuchte, den Schmerz unter Kontrolle zu halten, der sie bis auf die Knochen durchströmte. »Bitte, Anborn«, stammelte sie, »wo ist er?«

Anborn sah sie wieder an; seine Augen waren dunkel und durchdringend. Schließlich verschränkte er die Arme vor der Brust und sagte scharf: »Er ist im Vorratskeller. Ist er dein Liebhaber?«

Das Geschehen in Sorbold durchflutete sie wieder, und die schiere Ironie seiner Frage überwältigte sie. Ekel, den sie bis her unterdrückt hatte, überschwemmte sie. Sie zuckte vor Schmerzen und der Erinnerung an die vergangenen Ereignisse zusammen.

Sie hatte versucht, die Gefühle zurückzuhalten, und gehofft, warten zu können, bis sie in Oelendras starken Armen lag, doch der Schock war zu groß und ihre Verteidigung zusammengebrochen. Sie weinte laut. Das Grauen, das sie in der Umarmung durch den Gladiator empfunden hatte, vermischte sich mit ihren körperlichen Schmerzen. Anborn drehte sich rasch wieder zum Feuer um, nahm den Kessel, doch diesmal goss er das Wasser langsam am Rand des Fasses ein.

Als er fertig war, legte er ihr eine Hand auf die Schulter. »In Ordnung«, sagte er. Seine Stimme war schroff, aber nicht gänzlich unfreundlich. »Das reicht. Du kannst später weinen; es beleidigt meine Ohren. Ich sehe das als Nein an. Warum also hast du diese eselhafte Entführung begangen?« Er griff in das Wasser, nahm eine Hand voll und goss es über ihre Schultern und die Teile ihres Körpers, die sich oberhalb der Wasserfläche befanden. Rhapsodys Blick klärte sich ein wenig und wanderte von dem Raum zu dem Mann, der sie badete. Beide waren sehr karg. Die Hütte in der Wildnis wirkte mit ihren Lehmwänden und ohne jeglichen Schmuck so wie Anborn selbst. Sie bekam einen Schluckauf und sah zu, wie er Fetzen abgestorbener Haut aus dem Wasser fischte und auf den Lehmboden hinter ihm warf. Dann packte er ihre Schultern und hob sie so weit aus dem Fass, dass ihr Kopf über Wasser blieb, so wie sie selbst es getan hatte, als sie die Kinder des F’dor vor Oelendras knisterndem Kaminfeuer gebadet hatte.

Rhapsody zitterte. Als sie sich etwas beruhigt hatte, versuchte sie, ihren Plan und die bisherigen Ereignisse zu schildern.

Während sie sprach, wurde ihre Stimme sanfter, und bald war der Schluckauf, der sie zu Beginn nach beinahe jedem Wort unterbrochen hatte, zu einem gelegentlichen Husten abgeflaut. Als das Gefühl in ihre Hände zurückkehrte, fuhr sie mit ihnen an den Armen und Beinen entlang und badete sie in dem dampfenden Wasser, während Anborn ihren Oberkörper behandelte. Entsetzten trat in ihr Gesicht, als sich weitere Hautfetzen lösten und schmerzhafte Wunden hinterließen, die ungeschützt gegen die Hitze des schmutzigen Fasses waren.

Als sie schließlich mit ihrer Geschichte fertig war, schüttelte sich Anborn das Wasser von den Händen und sah sie ernst an. »Hast du Llauron Lehenstreue geschworen?«, fragte er.

»Nein«, antwortete Rhapsody. »Aber er hat mir vieles über Heilwesen und Gartenbau beigebracht. Ich versuche dem Weg zu folgen, den er mir vorgezeichnet hat.«

Anborn schnaubte verächtlich. »Hör mir zu. Hier ist die erste Regel: Wenn du jemandem Treue geschworen hast, musst du den Anweisungen dieser Person folgen, ohne Fragen zu stellen, und zwar bis in den Tod oder sogar darüber hinaus. Verstehst du das?«

»Ja«, sagte Rhapsody gereizt. »Was willst du damit sagen?«

»Die zweite Regel«, fuhr Anborn fort, »lautet: Wenn du diese Treue nicht geschworen hast, schuldest du niemandem etwas und darfst dich niemals in eine Lage bringen, die dir schaden oder dich sogar töten könnte, es sei denn, du ziehst einen Gewinn daraus. Du hast dich in die Gefahr gebracht, vergewaltigt und verletzt zu werden, Gliedmaßen zu verlieren und sogar zu sterben und das alles für jemanden, dem du keinen Treueeid geschworen hast. Das ist reine Dummheit, Mädchen. Du schuldest Llauron nichts.«

»Du verstehst es nicht«, antwortete sie. Sie erzitterte unter seinem düsteren Blick; entweder war die Verachtung in seinen Augen oder die fallende Temperatur des Wassers daran schuld.

»Llauron hat mir nicht befohlen, den Gladiator zu entführen. Ich bin es, die alle Kinder des F’dor eingesammelt hat.«

»Wie schön für sie. Wenn ich gewusst hätte, wer sie sind, hätte ich sie persönlich mit dem Schwert hingerichtet. Vielleicht werde ich das noch tun.« Er stand auf, ging zu der Ecke, in der er sein Gepäck abgestellt hatte, und holte daraus ein gewaltiges Schwert hervor, das im schwachen Licht glitzerte.

Rhapsody sah entsetzt zu, wie er zur Tür schritt. Auf seinem Gesicht lag Mordlust. Sie versuchte, aus dem Fass zu kommen und ihn aufzuhalten, doch die Beine gehorchten ihr nicht und verweigerten jede Bewegung. Verzweifelt rief sie seinen Namen und benutzte dabei ihre tiefsten Kräfte des Benennens.

»Anborn ap Gwylliam, bleib stehen«, befahl sie. Die Luft im Raum wurde warm und still, und Anborn gefror mitten in der Bewegung. Er blieb mit dem Rücken zu ihr stehen. Sie sah, wie Wut durch seine Schultermuskeln tobte, und hörte ihn zornig atmen. »Du wirst ihm nichts tun, Anborn. Er steht unter meinem Schutz.«

»Wirklich?«, höhnte Anborn, der sich noch immer nicht nach ihr umdrehen konnte. »Und wer wird dich jetzt beschützen, Rhapsody? Du kannst dich nicht einmal selbst schützen. Du bist in einer schlechten Position, mit jemandem wie mir allein zu sein.« Seine Stimme pulsierte vor unausgesprochener Bedrohung.

»Du wirst mich beschützen, Anborn«, antwortete Rhapsody in Demut und Ehrerbietung. »Du wirst es tun, weil du es tun musst, und du bist ein edler Mensch. Du hattest keinen Grund, mitten in der eiskalten Nacht auf den Ruf der Blutsverwandten zu antworten, aber du bist trotzdem gekommen.«

Seine Schultern waren nicht mehr so angespannt, doch er verharrte weiterhin in seiner Position. »Das ist etwas anderes«, sagte er knapp. »Dazu bin ich als Blutsverwandter verpflichtet. Ich habe aber keine Pflichten gegen diesen Abschaum. Oder gegen dich.«

»Blutsverwandte erscheinen in allen Gestalten und Größen, Anborn«, sagte sie sanft. »Sie kommen in allen möglichen Stationen des Lebens vor, und manche sind sogar Sänger. Einige von ihnen sind nicht besonders groß; man könnte sogar sagen, sie sind schmächtig.« Damit entließ sie ihn. »Du hast MacQuieth und die alten Krieger geehrt und jene, denen du nun dienst. Manchmal ist es die größte Heldentat eines Soldaten, den Hilflosen beizustehen. Das hast du getan. Ich schenke dir dafür meine Hochachtung und danke dir.«

General, zuerst musst du den Riss in deinem Innern heilen. Durch Gwylliams Tod bist nun du der König der Soldaten, doch erst wenn du den Niedrigsten deines Volkes gefunden hast und diesen Hilflosen beschützt, bist du der Vergebung würdig. Und so sei es, bis du entweder erlöst wirst oder ohne Vergebung stirbst.

Anborn drehte sich langsam um und bedachte sie mit einem Blick, den sie vorher nicht bei ihm bemerkt hatte. Er schlug die Augen nieder, als würde er sich zum ersten Mal ihrer Nacktheit bewusst, kehrte dann langsam in die Ecke zurück und steckte das Schwert wieder in die Scheide. »Du bist eine der Drei«, sagte er. Diese Frage war nicht gestellt worden, aber trotzdem gegenwärtig.

»Ja«, antwortete Rhapsody, »und du hast die Prophezeiung erfüllt. Möge deswegen die Gnade mit dir sein.«

Wenn du den Riss heilen willst, General, achte auf den Himmel, damit er nicht herabfalle.

Anborn sah sie noch einmal an. Seine Augen zeigten keine Spur von dem Zorn, den sie zuvor noch in seiner Stimme vernommen hatte. Er ging in das zweite Zimmer und kam mit einem groben Laken sowie einem Kleid über dem Arm heraus. Ohne ein Wort reichte er ihr das Laken und half ihr aufzustehen. Sie wickelte sich in den Stoff; er hob sie aus dem lauwarmen Wasser und rieb sie trocken. Dann gab er ihr das Kleid. Es war eine weiche Tunika aus farngrüner Wolle mit langen Ärmeln, tailliert und eindeutig für eine Frau genäht, auch wenn diese erheblich größer als Rhapsody gewesen sein musste. Während sie sich mit dem Tuch abtrocknete und dann das Kleid überstreifen wollte, verließ Anborn die Hütte.

Als er zurückkehrte, war Rhapsody angezogen und trocknete die Haare vor dem Feuer, das still, aber stetig brannte. Er trug einen klumpigen Leinwandsack, aus dem er einen Winterapfel hervorzog und ihr entgegenreichte. Sie lächelte und nahm ihn mit Händen, die kaum mehr zitterten.

»Ich möchte mich bei dir entschuldigen«, sagte er und sah ernst auf sie hinab. »Ich hoffe, du vergibst mir all meine Beleidigungen.«

»Die Einzige, an die ich mich erinnern kann, bestand darin, dass du mir das Leben gerettet hast. Das ist eine ziemlich große Beleidigung für einige meiner Bekannten«, sagte Rhapsody und lächelte wieder. »Anborn, die Vorhersage meiner Ankunft hier bedeutet nicht, dass ich eine mythische Gestalt bin. Ich bin nur ein gewöhnlicher Mensch mit einer sehr bunten Vergangenheit, und ich würde es vorziehen, wenn du in meiner Gegenwart ganz du selbst wärest, anstatt mich als ein legendäres Geschöpf anzusehen, das ich nicht bin. Du wirst dich daran erinnern, dass du mich bei unserer ersten Begegnung eine Missgeburt genannt hast, was ich dir nicht vorhalte. Also beleidige mich ruhig ich werde schon darüber hinwegkommen.«

Anborn lächelte. Es war das erste Mal, dass Rhapsody dabei keine sarkastische Note feststellte. Jetzt gefiel ihr der Ausdruck seines Gesichts. »An dir ist nichts gewöhnlich, Rhapsody. Es ist mir eine Ehre, dass ich dir helfen durfte. Ich glaube, jetzt ist dir warm genug. Warum legst du dich nicht hin und schläfst ein wenig?« Er deutete auf das Bett.

»Nur wenn du mir versprichst, deine Knöchel von meinen Rippen fern zu halten«, sagte sie grinsend. Das Feuer brannte sicher und ruhig. Sie ging hinüber zum Bett, das aus einer Heumatratze und einem wollenen Laken bestand, und ließ sich langsam darauf sinken. »Und wenn du mir versprichst, mich für meine Wache zu wecken. Schließlich solltest du ebenfalls auf diesem Bett etwas Schlaf finden.«

»Wir werden sehen«, sagte Anborn unverbindlich, während er eine Flasche aus seinem Gepäck zog. Er gab sie ihr, und sie nahm einen tiefen Schluck. Sie hustete, als die Flüssigkeit ihr die Kehle verbrannte.

»Was, um alles in der Welt, ist das für ein Hrekin?« Sie reichte ihm die Flasche zurück und wischte sich mit dem Ärmel der grünen Tunika die Schweißperlen von der Stirn.

Anborn lachte. »Glaub mir, das willst du nicht wissen.«

Rhapsody sah neugierig den grünen Ärmel an. »Es hat nicht den Anschein, dass es mir besonders gut passt. Wem gehört es?«

»Es hat meiner Frau gehört«, sagte Anborn und setzte sich in den muffigen Sessel. »Sie würde nichts dagegen haben, dass du es trägst. Sie ist schon seit elf Jahren tot.« In seiner Stimme lag keine Spur von Bedauern. »Übrigens steht es dir viel besser.«

Rhapsody erschrak über die Gefühllosigkeit dieser Bemerkung. »Es tut mir sehr Leid«, sagte sie und suchte in seinen Augen nach Spuren tieferer Trauer. Sie fand keine.

»Nicht nötig«, antwortete er unverblümt. »Wir haben uns nicht sehr gern gehabt. Wir haben nicht zusammen gelebt, und ich habe sie nur selten gesehen.«

Rhapsody biss in den Apfel. Er war trocken, mehlig und verschrumpelt und hatte eine schwere Süße, die von reiferen, schöneren Tagen kündete. Diese Ironie machte sie traurig.

»Aber du musst sie früher einmal geliebt haben«, sagte sie und fühlte sich auf gefährlichem Boden, doch sie musste es wissen.

Anborn lächelte sie an und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er einfach. »Für eine so kluge Frau kannst du bezaubernd naiv sein, Rhapsody.«

Das Zittern in Rhapsodys Körper war zu einem milden, gelegentlichen Zucken geworden; sie spürte, wie Kraft und Wärme zurückkehrten. »Warum habt ihr dann geheiratet?«

Anborn nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. »Sie war eine hübsche Frau aus einer alten Familie, und sie hatte hohe Grundsätze. Falls sie mich je betrogen hat, habe ich es nie erfahren, und ich glaube, es wäre mir nicht unbekannt geblieben. Ich habe ihr ebenfalls bis zu ihrem Tod die Treue gehalten.«

Rhapsody wartete, aber es folgten keine weiteren Bemerkungen. »Das ist alles?«, fragte sie erstaunt. »Warum?«

»Eine verständliche Frage«, sagte Anborn, während er sich die Stiefel auszog. »Ich fürchte, ich habe keine Antwort darauf.«

»Hattet ihr Kinder?«

»Nein«, sagte er. Der Ausdruck seiner Stimme änderte sich nicht. »Es tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen, Rhapsody. Du kennst sicherlich meine Familie und weißt, dass wir nicht gerade eine sehr romantische Geschichte haben.

All dieses phantasievolle Gewäsch über meine Großeltern ist nichts als Phrasendrescherei. Merithyn wurde von Elynsynos verführt, weil die menschliche Gestalt, die sie absichtlich angenommen hatte, derjenigen entsprach, die er tief in seinem Herzen als anziehend empfand und der alte Knabe außerdem jahrelang auf See gewesen war. Sie hätte sich in ein Schaf verwandeln können, und er hätte sie trotzdem besprungen.«

Er blickte hinüber zu Rhapsody und lachte laut auf, als er ihren Gesichtsausdruck sah. »Es tut mir Leid, meine Liebe, wenn ich deine Idealvorstellungen zerstöre. Und als ob das nicht reichen würde, kann ich dir auch noch versichern, dass es auf Elynsynos’ Seite keine Liebe war. Er war der erste Seren, den sie je gesehen hatte, und sie wollte die Kontrolle über ihn haben.

Von Anfang an hatten geschlechtliche Liebe und Paarbildung in unserer Familie etwas mit Macht und Kontrolle zu tun, und so ist es bis heute geblieben. Ich kann nicht vorhersehen, wann sich das ändern wird. Du musst wissen, dass Drachenblut dominant ist.« Rhapsody seufzte tief, denn sie wusste aus persönlicher Erfahrung, wie wahr seine Worte waren. »Es tut mir wirklich Leid, dich zu enttäuschen. Ich hoffe, meine Bemerkungen über Merithyn haben dich nicht beleidigt.«

Sie legte sich langsam auf das Bett zurück und bemerkte erst jetzt, wie erschöpft sie war.

»Warum sollte ich beleidigt sein? Er war dein Großvater. Außerdem wäre es viel schlimmer, wenn du Achmed wärest. Ich könnte es allerdings nicht ertragen, wenn du mir von einer mythischen Person berichten würdest, deren geschlechtliche Neigung auf Bäume mit Astlöchern in passender Höhe gerichtet ist. Deshalb werde ich jetzt schlafen, falls du nichts dagegen hast.«

Anborn lachte brüllend. »Ich glaube, das ist eine sehr kluge Idee. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, wenn du völlig ernüchtert wirst. Außerdem hast du ein paar ziemlich harte Tage hinter dir, nicht wahr? Ruh dich aus; morgen früh wer den wir Weiterreisen. Heute Nacht werde ich mich um deinen Gladiator kümmern, und morgen machen wir uns auf den Weg zu Oelendra.«

Rhapsody war bereits eingeschlafen. Das Feuer prasselte die ganze Nacht hindurch; es loderte in der Dunkelheit und Stille dieses abgeschiedenen Ortes immer stärker.

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