67

Der Seligpreiser lachte laut, als eine weitere Ranke aus dem Untergrund hervorbrach, sich um Rhapsodys Bein legte und sie gegen die Bodenplatten drückte.

»Oje, die Lirin werden enttäuscht sein«, sagte er in gespieltem Mitgefühl. »Und das nach all dem Pomp. Die Krönung hat so viele Mühen gekostet und war wirklich ein hübsches Ereignis. Vielleicht treffen sie beim nächsten Mal eine bessere Wahl.«

Rhapsody kämpfte gegen den Griff der dämonischen Ranken an. Sie trat aus und riss an ihnen, doch es half nichts. Ihre Haut prickelte vor kalter Angst, als sie sich an Jos und Llaurons schrecklichen Tod erinnerte. Selbst in der großen Entfernung zu dem Altar roch sie den schrecklichen Gestank, den die Erregung des F’dor verströmte. Es war der krank machende Geruch von brennendem Fleisch. Überall wuchsen aus dem Boden winzige glasähnliche Dornen empor. Wie Ströme von Kakerlaken krochen sie durch die Ritzen zwischen den Steinplatten. Es waren schreckliche Schösslinge, die im nächsten Augenblick selbst zu fesselnden und erstickenden Ranken wurden.

Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Die gewaltige Größe dessen, was vor ihr lag, ließ ihr Herz im Gleichklang mit der Drehung der Welt schlagen. Ein Versagen könnte das Ende der Welt nach sich ziehen, hatte sie in ihrem Traum zu Elynsynos gesagt. Daran darf ich nicht einmal denken.

Ein weiterer Fortsatz schoss plötzlich hervor und zielte auf ihren Hals. Rhapsody wich ihm aus und stellte fest, dass ihre Bewegungsfreiheit schon stärker eingeschränkt war, als sie bemerkt hatte.

Die Ranken schnitten ihr noch tiefer in den Arm, in das Bein, und ihr Herz und Puls gingen unregelmäßig. Die Drachenworte flüsterten durch das ungleichmäßige Schlagen ihres Herzens.

Du befindest dich an dem Ort, wo der Anfang der Zeit zu seinem Ende gekommen ist. Auch das Ende der Zeit wird hier seinen Anfang nehmen. Du kannst es nicht ändern, auch wenn es dir vielleicht gelingt, es hinauszuzögern.

Sie kämpfte die Panik zurück, drängte sich gegen den Druck der Ranken, rollte sich auf die Seite und kämpfte mit der Tagessternfanfare in der Rechten darum, die andere Hand zu befreien.

Das Schwert blitzte wütend in der Finsternis der Basilika auf. Die schwarzen Flammen der Kerzen in den Lüstern zischten eine dunkle Antwort darauf. Der Seligpreiser verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Altar.

»Ihr bietet eine gute Vorstellung, Euer Majestät. Erstklassige Unterhaltung. Ich fürchte bloß, es wird allzu schnell zu Ende sein.« Der Seligpreiser lehnte sich ein wenig nach vorn. »Ich werde deine Seele essen, Rhapsody, und die deiner Bolg-Freunde, die sich am äußeren Rand meines unheiligen Grundes herumdrücken. Es wird eine so süße Seele sein. Ich bin sicher, dass ich sie genießen werde. Ich glaube, ich werde dich währenddessen noch ein wenig am Leben lassen, damit du zuschauen kannst, wie ihre Teile in meiner Kehle und dem Mund der Unterwelt verschwinden.«

Nimm dich zusammen, dachte Rhapsody. Er darf dich nicht ablenken. Sie blendete die Worte des Dämons aus ihren Gedanken aus, schärfte ihre Konzentration und zerrte mit ihrem gefesselten Arm kräftig an den Ranken, wobei sie diese so weit wie möglich dehnte. Den anderen Arm benutzte sie dazu, die gedehnten Fesseln mit dem Feuerschwert in tausend Stücke zu hauen.

Nun hatte sie beide Hände frei, wich einem schlangenähnlichen Stoß einer Ranke aus, die nach ihrem Hals gezielt hatte, und hieb sie an der Basis durch. Ein Stoß reinsten Feuers ergoss sich aus dem Schwert, als sie das Mark traf. In einer Welt der Finsternis war es ein strahlender Sonnenschein, der den Fortsatz verätzte, welcher innerhalb weniger Sekunden zu Staub verwelkte.

Die Schlinge um ihren Fuß zog sich noch enger zusammen und zerrte sie aus dem Gleichgewicht auf den rauen, zerbrochenen Boden. Rhapsody konzentrierte sich, nahm den Schwertgriff in beide Hände und schlug mit aller Macht auf das Rankengewächs ein. Splitter der berstenden Steinplatte trafen sie, als das Gewächs in einem Hagel aus Feuer und Stein explodierte.

Als ihr hämmerndes Herz zu einem regelmäßigeren Rhythmus zurückfand, hatte sie eine Vision von Elynsynos und einer Frage, die sie ihr stellen wollte.

Warum? Warum ich? Warum ist diese drückende Verantwortung mir aufgebürdet worden?

Rhapsody kämpfte sich auf die Beine und lauschte auf die Antwort der Drachin.

Weil du nicht allein bist.

Ein schreckliches Brüllen, ein Kriegsschrei entsetzlicher Eindringlichkeit hallte durch die dunkle, fensterlose Basilika. Die Lüster schwankten heftig; die Glocken im Turm nahmen den Schrei auf und warfen ihn zurück. Dem Schrei folgte der Lärm berstender Gegenstände und das schwere Dröhnen herannahender Schritte.

Daraufhin erhob der Seligpreiser die Arme. Der verseuchte Boden brach zu einem Meer aus dunklen Flammen auf und zu zuckenden Wällen blendenden Feuers, das den Dämon umgab und die gesamte Basilika verschlang.

Ein Schmerzesheulen drang hinter dem Feuerwall hervor und verkrallte sich in Rhapsodys Herz. Es war Grunthor. Ihre Seele erkannte den Klang seiner Qualen, denn sie hatte ihn schon einmal gehört.

Eine Welle gewaltiger, boshaft knisternder Hitze überspülte sie. Sie trieb kurz in der brennenden Woge feuriger Luft umher, schützte die Augen mit dem Unterarm und versuchte einen Blick auf Grunthors Schatten links von dem Dämon zu erhaschen, wo der Sergeant auf das zweite Signal hin hatte erscheinen sollen. Doch alles verlor sich in einem schwarzen Inferno: der Dämon, ihr Freund, das Mittelschiff der Basilika. Es war, als steckte sie erneut im Herzen einer ganz anderen Erde einer Erde, in welcher der F’dor triumphiert hatte. Zorn loderte in ihrer Seele bei dem Gedanken hoch, dass diese Möglichkeit jetzt nicht mehr weit entfernt war.

Die Flut würde kommen vielleicht unter einem sanften Wind, vielleicht auch in einer Woge aus Blut.

Verstehst du jetzt, worum du kämpfst?

Um das Leben.

Ja, und um noch mehr. Die Schlacht wird nicht nur um dieses Leben geführt, sondern auch um das Nachleben. Du darfst nicht versagen.

Sie stellte sich aufrechter und verlagerte den Druck auf die Tagessternfanfare ein wenig, wie Achmed es ihr einmal beigebracht hatte.

Wie immer du das Schwert anfangs gepackt hast, veränderst du erst einmal den Griff, damit du dich darauf konzentrieren kannst, wie du es hältst. Nimm deine Waffe nie als selbstverständlich hin.

Der Griff ihrer Waffe fühlte sich an, als wäre er ein Teil ihrer Hand oder eine Fortsetzung ihres Körpers.

Es ist, wie es sein soll.

Als Oelendras Stimme in ihrem Kopf widerhallte, dachte Rhapsody an ihre Lehrerin, an all das, was sie erlitten hatte, an all die anderen vor und nach ihr, die ihr Leben, ihre Seele und geistige Gesundheit in einem jahrhundertealten Kampf gegen den Dämon hingegeben hatten. Dieser freundliche Seligpreiser, der Tee auf seinem Altar brühte, war nichts anderes als die jüngste Verkörperung des Bösen, das so alt war, dass es bereits vor der Rasse der Menschen, vor der Bildung der Landmassen, der Erbauung der Städte, der Einrichtung von Nationen existiert hatte. Die ganze Geschichte zerbröckelte im Vergleich zu der Zeitspanne, die das Böse bereits existierte, Lügen säte, Tod wirkte und wartete, bis es seine Gefährten aus der Gruft der Unterwelt erlösen und den uranfänglichen Wyrm wecken konnte, der alles Leben in einer schrecklichen Sintflut des Chaos verschlingen würde. So viele Seelen würden ihm zum Opfer fallen, so viele in seiner Spur sterben. Die fernen Stimmen all jener, die gegen es gekämpft hatten, ob sie noch lebten oder schon gestorben waren, schrien ihr durch die windstille Luft zu, dröhnten ihr durch den Griff des Schwertes entgegen, hallten in ihrem Blut wider. Rhapsodys Mund öffnete sich aus eigenem Willen, und die Stimmen drangen aus dem Mund der Sängerin. Me wieder. Nie wieder.

Eine Kugel aus schwarzem Feuer bildete sich in dem tobenden Inferno und kam wie eine Lawine auf sie nieder. Durch das jammernde Heulen des Feuers hörte sie den Dämon lachen. Rhapsody schluckte und schloss die Augen vor dem herannahenden Feuerball. Sie drückte das Flammenschwert gegen ihre Brust. Die reine Hitze des Elementarfeuers wärmte ihre Seele und half ihr dabei, einen klaren Kopf zu bekommen, obwohl ihr der Tod drohte. Sie holte tief Luft, sammelte die Gedanken mithilfe der Kraft aus dem Schwert und sang leise den einzelnen Ton ela , mit dem sie in Einklang stand und der ihr das ganze Leben hindurch Weisheit und Urteilskraft bei jeder Unsicherheit verliehen hatte. Die Klarheit dieses süßen und reinen Tons klang über das Brüllen des Feuers, durchdrang es und erstickte das Gelächter, als die kleinsten Glocken im Turm zunächst summten, dann ohne Klöppel läuteten und schließlich fest und stark dröhnten. Me wieder, riefen sie, sangen ohne Klöppel und hallten von nichts anderem wider als von der Macht der Sängerstimme. Me wieder.

Jetzt überrollte sie die Wand aus Feuer. Sie spürte, wie die Säure in den Augenlidern stach und die Bösartigkeit in den Flammen mit dunkler Stimme sang fern, kreischend vor Wut und Schmerz, in sinnloser Raserei.

Sie steigerte die Macht des Tons ganz gleichmäßig und hörte, wie immer mehr Glocken ihrem Ruf antworteten. Stärke schwoll in ihr an. Mit einem mächtigen Stoß hielt sie das Schwert hoch und schickte den Ton mit der ganzen Kraft ihres Atems hinauf. Als die schwarzen Flammen der Unterwelt sie umbrandeten, hörte sie, wie die größten und tiefsten Glocken zu schwingen und dann ohne Klöppel zu läuten begannen und die Basilika mit harmonischer Musik erfüllten, welche alle Verderbnis des Dämons vertrieb.

Rhapsody steckte ihr Schwert zurück in die Scheide. Der Wind blies vom Turm herab, wirbelte ihre Haare durcheinander, und das Feuer verschwand.

Der Seligpreiser stand in wütendem Schweigen und heftigem Schmerz da und hörte das Läuten einer der hundertsechsundvierzig Glocken, die nun das ela sang. Der Boden in seiner Umgebung war nicht mehr entweiht, sondern wurde allmählich wieder geheiligt. Gleichzeitig spürte er, wie seine Kräfte abnahmen.

Er öffnete den Mund und wollte die Worte der Verdammnis sprechen.

Aber er konnte sich nicht mehr an sie erinnern.

Lanacan schloss die Augen und konzentrierte sich. Es gab noch einen anderen Laut hier, einen viel älteren und schrecklicheren. Die Glocken im Turm verstummten, als das Schwert wieder in der Scheide steckte; die fremdartige Schwingung summte von allein weiter. Es war ein sandiges Geräusch, an das er sich in der gegenwärtigen Lebensspanne nicht erinnerte. In dieser Welt hatte er es noch nie gehört. Es zerrte an den tiefsten Bereichen seiner Erinnerung und kratzte an seinen Schläfen. Es wurde lauter. In seinem Kopf pochte es, als wäre der Schädel nicht länger ein geeigneter Behälter für das Gehirn, das im Rhythmus des Lärms anschwoll. Es war ein Laut, der vom Tod flüsterte.

Kalter Schweiß prickelte auf seiner Haut. Irgendwie hatten die Glocken die Hirnschale dieses Körpers zerbrochen. Das Mädchen hatte den Ton gefunden, mit dem es seinen Wirtskörper töten konnte. Er starrte es an. Es stand aufrecht in der Dunkelheit des Gangs unter ihm und hatte die Arme gegen die Hüften gelegt. Im Zwielicht sah Rhapsody aus wie das Windkind aus den Legenden; die goldenen Locken umwirbelten ihren Kopf. Er brannte ihr Bild in seinen Geist ein. Er musste sich an sie erinnern, wenn er einen neuen Körper gefunden hatte, der ihm als Wirt dienen würde. Dann würde er sie aufspüren und vernichten.

Da kam ihm ein noch angenehmerer Gedanke.

Sie selbst gab einen wunderbaren Wirt ab.

Er bekämpfte die bohrenden Kopfschmerzen, die ihn bisweilen blendeten, und versuchte krampfhaft, sich an diese Vorstellung und an sein Bewusstsein zu klammern. Wenn er sie binden konnte, würde sie das vollkommene Werkzeug für seine Herrschaft sein.

Ursprünglich hatte er geplant, sie bei ihrer Krönung in den Bann zu nehmen. Er hätte es versucht, wenn der alte Narr sich nicht entschlossen hätte, gerade in jenem Augenblick zu sterben. Doch als der Körper, den er seit Jahrzehnten bewohnte, jetzt plötzlich nutzlos wurde und versagte, dachte er daran, welche Macht ihm als lirinsche Königin zu Füßen liegen würde als Iliachenva’ar, als Frau von einer so engelsgleichen Schönheit, dass sie ganze Nationen mit einem Blick blenden konnte. Er hatte auch früher schon Frauen besessen, es aber enttäuschend empfunden, weil sie geringere gesellschaftliche Macht besessen hatten als die männlichen Wirte, in denen er gelebt hatte. Doch diese Frau war stärker als alle Wirte, in die er je eingedrungen war, seien es Männer oder Frauen. Erregung durchströmte ihn, als er sich darauf vorbereitete, seinen eigenen Tod vorzutäuschen, denn dann würde sie sich ihm nähern und ihn untersuchen. Er streckte die Hand aus und bereitete seinen Geist darauf vor, den Körper zu verlassen.

Das kratzende Geräusch entwickelte sich plötzlich zu einer Tonleiter aus sechs Noten und hing in andauernder Wiederholung rechts von ihm in der Luft. Lanacan spürte ein Gefühl der Beengung um ihn herum. Es legte sich um ihn wie eine zudrückende Faust, und Herz, Lunge und Brust wurden in einen Schraubstockhaften Griff genommen. Mit großer Anstrengung drehte er sich den Lauten zu.

Dort stand eine große, scheußliche Gestalt in einer schwarzen Robe und sang das quälende Lied. Ihre Laute waren von einem Klicken und einem insektenhaften Summen aus den Tiefen der Kehle begleitet und drangen aus Lippen, die krampfhaft versuchten, nicht zu lächeln. Die dünne, behandschuhte rechte Hand hob sich langsam und blieb mit der Handfläche nach oben steif vor Lanacan in der Luft hängen. Die Lösung von dem menschlichen Körper, die er auf metaphysische Weise bereits begonnen hatte und die nach dem immer gleichen Muster ablief, kam sogleich zum Stillstand.

Die linke Hand des Geschöpfes, die ebenfalls verhüllt war, streckte sich neben Lanacan aus. Die Finger pulsierten im Rhythmus des dämonischmenschlichen Herzens. Jedes Zucken der Finger bereitete ihm schreckliche Schmerzen. Dann drehte sich die Hand langsam und wickelte sich Lanacans metaphysische Schlingen wie das Seil eines Segeldrachens um die Finger. Die Gestalt zerrte an ihm und zog die vier Winde zu einem erstickenden Netz zusammen. Sie würgte Lanacan mit der ganzen Macht der physischen und metaphysischen Welt.

Der Seligpreiser schrie auf. Er konnte sich nicht mehr bewegen, konnte nicht fliehen. Er war gefangen.

»Lass mich raten. Du hast zwar schon von den Dhrakiern gehört, bist aber noch nie einem begegnet, richtig?«

Lanacans Augen waren das Einzige, was er noch bewegen konnte. Sie schössen zur anderen Seite. Dort stand, einen Schatten über den ganzen Altar werfend, ein gewaltiges Ungeheuer in voller Rüstung, mit Schwertern und Streitäxten bewaffnet. Dieses gigantische Monstrum war das Mitglied der königlichen Ehrengarde, das den Patriarchen aus dem Weg gezogen und Lanacan davon abgehalten hatte, weiter nach dem verlorenen Ring zu suchen, der das Amt des Sterbenden symbolisierte.

Mit zwei Schritten war der große Bolg über ihm, drehte ihm die menschlichen Arme auf den Rücken und brachte ihn in eine noch unbeweglichere Lage. Der Riese hob ihn vom Boden. Schmerzen brandeten durch den Wirtskörper, der jetzt genauso gefangen war wie seine dämonische Seele.

»Weißt du, ich hab ja nich so viel Ahnung, aber die Dhrakier sehen Dämonenabschaum wie dich als Appetithäppchen an«, sagte der Bolg freundlich. »Doch für mich bist du die Nachspeise.«

Wut tobte durch das Herz des Seligpreisers. Das Straßenkind namens Jo, das für einige Zeit in seinem Bann gewesen war, hatte dem Rakshas von dem Riesen und dem König erzählt, aber nur gesagt, beide seien Firbolg. Offenbar hatte sie nichts von der Existenz der dhrakischen Rasse gewusst und erst recht keinen ihrer Angehörigen erkennen können, vor allem nicht, wenn es sich um einen Mischling handelte. An diesem besonderen Dhrakier war irgendetwas Vertrautes eine Macht, der man nicht trotzen konnte.

Lanacan wusste, dass der Kampf sinnlos war. Rasch überdachte er die Lage und suchte eine verwundbare Stelle und einen Weg, den Spieß umzudrehen. Er schaute vom Allerheiligsten auf die kleine Frau, die jetzt still den Gang hinunterschritt und sich ihm näherte. Innerlich lächelte der Seligpreiser.

Es war an der Zeit, die Trumpfkarte auszuspielen.

»In Ordnung, meine Liebe«, sagte der Riese zu der lirinschen Königin, als sie dem rechteckigen Allerheiligsten näher kam. »Reiß ihm das Herz raus. Ich sterb vor Hunger.«

Rhapsody legte die Kapuze ab. Die winzigen Sterne in der Lirin-Krone, die unter dem Stoff des Mantels verborgen gewesen waren, wirbelten in dem sauberen Wind, der vom Glockenturm herabwehte, über Rhapsodys Kopf. Trotz ihrer Entfernung von dem Seligpreiser, der sich in Grunthors zerquetschendem Griff befand, sah sie, wie das Licht der gleißenden Diamantsplitter in seinen Augen glitzerte. Die F’dor fürchteten Diamanten, doch es gelang ihr nicht ganz, das Blinken in seinen Augen als reinen Schrecken zu deuten. Für sie wirkte es eher wie Erregung.

Sie ging langsam auf die Apsis zu. Ihr Herz klopfte so laut, dass bestimmt alle drei Männer es hören konnten.

Der Seligpreiser sah vom Allerheiligsten auf sie herab. Seine gefangene Hand schwebte wie beim Beginn des Bannrituals vor ihm. Zweifellos hatte er vorgehabt, das schwarze Feuer auf sie herabzurufen. Dazu würde es nun nicht mehr kommen.

Der Dämon deutete mit einem Finger auf sie.

»Virack urg caz«, sagte er mit warmer, weicher Stimme, die kaum einen hörbaren Laut erzeugte. »Empfange.«

Tief in ihren Eingeweiden spürte Rhapsody ein Zucken und dann einen kneifenden Schmerz. Ihre Bauchmuskeln zogen sich zusammen und zwischen den Schenkeln fühlte sie etwas scheußlich Brennendes.

»Merlus«, flüsterte er. Seine Lippen bewegten sich nicht. »Wachse.«

Sie sprang unter dem Krampf nach vorn, der in ihrem Bauch ausbrach. Dann entspannten sich ihre Muskeln, und sie spürte, wie ein Gefühl von Kälte durch sie leckte. Es ging von ihrer Mitte aus und verbreitete sich in der ganzen Bauchhöhle. Rhapsody schüttelte das Gefühl ab und ging zu den Altarstufen hinüber.

»Du glaubst, du bist wütend auf mich, meine Liebe«, sagte die Stimme in ihrem Kopf. »Dabei ist es eigentlich Gwydion, den du verachten solltest. In gewisser Weise ist er es, der dich mir übergeben hat, und das weißt du noch nicht einmal.«

Rhapsody vertrieb die hasserfüllten Worte aus ihrem Kopf und ging weiter auf die Treppe zu. Sie richtete all ihre Gedanken auf Ashe auf das warme Zwinkern seiner Drachenhaften Augen, auf die Sanftheit seines Lächelns. Sie versuchte, nicht an die Tiefen seines Leides unter den Händen des Seligpreisers zu denken, denn dann würde ihr Zorn zurückkehren, hinter ihren Augen brennen und sie für den höheren Zweck ihrer Mission blind machen. Sie setzte den Fuß auf die erste Stufe.

»Du glaubst, er sei mein Opfer, nicht wahr? Du könntest dich nicht stärker irren. Seine Seele war ein williger Gefangener. Es war überhaupt nicht schwer, ihn zu beeinflussen. Dein Geliebter ist ein sehr kreativer und kluger Mann, aber ich bin sicher, dass ich dir das nicht erst sagen muss. Vieles von der Neigung des Rakshas zu Vergewaltigung und ritueller Folter floss aus der Inspiration seiner Seele. Wusstest du das? Da ich ein zölibatärer Geistlicher bin, konntest du doch nicht im Ernst annehmen, dass ich ihm seine sexuellen Kenntnisse vermittelt habe, oder? Nein, das war alles Gwydions Werk.«

Die Augen des alten Mannes in Grunthors Griff blinzelten böse.

»Welche Freuden seine verdrehte Seele meinem Spielzeug doch geschenkt hat, als es noch lebte! Besonders hat der Rakshas es genossen, deine Schwester zu vergewaltigen. Sie war ein so williges Opfer. Sie hat sich einfach ins Gras gelegt und die Beine breit gemacht. Sie hat nicht so gehandelt wie die anderen. Sie wollte ihn, meine Liebe. Das sollte dir wenigstens etwas Trost spenden, wenn du ihren unzeitigen Tod betrauerst. Sie hat ihre eigene Vergewaltigung genossen.

Natürlich kann man es eigentlich nicht Vergewaltigung nennen, wenn die Frau ihren Vergewaltiger in sich drückt und ihn reitet, oder? Ich bin selbstverständlich kein Experte, aber ich würde sagen, eine unwillige Frau schüttelt ihren Bedränger nicht mit ihrem Körper durch, sie wackelt nicht mit den Hüften, keucht nicht seinen Namen und ist nicht enttäuscht, wenn er langsamer wird.

Ich muss gestehen, dass es mich selbst erregt hat, als er mir erzählte, wie er sie mit der Zunge befriedigt und ihren Saft getrunken hat. Du weißt, warum sie so heiß war? Es waren nicht nur seine Hände zwischen ihren Beinen, sein Mund auf ihrer Brust. Du warst der Grund dafür. Es war der Glaube, dass sie mit deinem Geliebten schläft. Wer hätte vermutet, dass eine Frau, die dir so nahe steht, dich so hasst, dass sie sich deinem Liebhaber hingibt und sich von ihm willig verführen lässt, selbst wenn sie dabei stirbt, nur damit sie es dir richtig heimzahlen kann?«

Hass floss durch Rhapsody. Ihr Gesicht wurde rot und das Blut heiß, doch am Rande ihres Verstandes verspürte sie Zweifel. Sie erinnerte sich an den verhärteten Ausdruck auf Jos Gesicht, als sie Rhapsody die Geschichte erzählt und ihr dabei fest in die Augen geschaut hatte.

Ich sehe niemanden. In Wirklichkeit siehst du ihn.

Wovon redest du, Jo?

Es war Ashe. Ich habe mit Ashe gevögelt. In der Nacht, als ihr euch im Beratungszimmer getroffen habt, als ich weggelaufen bin, ist er mir nachgegangen und hat mich draußen auf der Heide gefunden. Er hat dir nichts davon gesagt, oder?

Wahrscheinlich hat er dir gesagt, er hat mich nicht gefunden, ja? Alles Unsinn. Ich hob versucht, ihn wegzuschicken, aber er wollte einfach nicht. Und dann, na ja, dann haben wir’s getan. Ich werd seinen Gesichtsausdruck nie vergessen. Er hat mich regelrecht um den Verstand gevögelt. Ehrlich, Rhapsody, ich weiß nicht, was du an ihm findest. Hast du denn nichts Besseres zu tun, als dich von ihm bespringen zu lassen?

Rhapsodys Magen zog sich bei dem kalten Gedanken des Betrugs zusammen. Damals hatte sie sich nicht so gefühlt. Sie war zu besorgt um Jo gewesen und hatte an nichts anderes als an ihre Schwester gedacht. Sie hatte sich die Tat nicht einmal vorgestellt. Doch jetzt kam das Bild der beiden im Gras in ihre Gedanken, wie sie gegeneinander stießen und in den Zuckungen des gemeinsamen Orgasmus aufschrien.

Ihr Herz zog sich in schrecklichem Zorn zusammen, als sie wieder die Tagessternfanfare mit kreisendem Schwung zog und die Stufen zum Altar hochstieg. Ihr Gesicht hatte einen mörderischen Ausdruck angenommen. Der Seligpreiser lächelte, als er es sah, und Rhapsody spürte plötzlich, wie etwas in ihr einrastete. Oelendras Warnung klang ihr in den Ohren.

Lass deinen Hass vorübergehen, denn sonst wird er sich gegen dich wenden. Dein Grund für die Vernichtung des F’dor sollte nicht die Vergangenheit des Kindes, sondern seine Zukunft sein. Wenn du das in Erinnerung behältst, wirst du die Tat nicht aus Rache begehen, sondern weil sie richtig ist. Im Letzteren liegt mehr Kraft als im Ersteren. Ich kann das nicht mehr tun; mein Hass ist zu stark, aber du, Rhapsody, hast die Möglichkeit, die Dinge richtig zu stellen.

Die Scheußlichkeit seiner Taten sollte dich nicht in Verwirrung bringen.

Rhapsody holte tief Luft und entspannte sich. Sie trat auf den Boden des Allerheiligsten und überquerte ihn, weil sie sich vor den Seligpreiser stellen wollte. Dabei hörte sie wieder die Stimme in ihrem Kopf.

»Sei nicht eifersüchtig, Rhapsody. Dem Rakshas hat es mit dir viel besser gefallen als mit ihr.«

Rhapsody blieb wie erstarrt stehen.

»Ach, das wusstest du nicht? Nun, das überrascht mich keineswegs. Eure beiden Liebhaber sahen gleich aus. Was hatte ich für ein Glück, dass du dich in Llaurons Sohn verliebt hast. Dadurch wurde es für den Rakshas so viel einfacher, dich zu besitzen. Du hast geglaubt, es sei immer Gwydion gewesen, der mit dir geschlafen hat, nicht wahr? Nachdem deine Schwester meinem Geschöpf von euch beiden erzählt hatte, war es ganz einfach. Außerdem ist es nachts in den Zahnfelsen sehr dunkel, nicht wahr, meine Liebe?«

Die stumme Stimme in ihrem Kopf lachte, und das Geräusch hallte in ihrem Gehirn wider. Ihr drehte sich der Magen um, als die Erinnerung an Jos letzte Nacht sie einholte der kreischende Wind über dem Gebirgspass in der undurchdringlichen Dunkelheit, der blinde Aufstieg durch die Felsspalten bis in den Schutz des Bogens.

Wahrscheinlich liegt es nur daran, dass mein erstes Mal ein bisschen, na ja, ein bisschen grob war.

Das Blut strömte aus ihrem Gesicht, als sie sich an ihren verzweifelten, beinahe gewalttätigen Akt mit Ashe in jener Nacht erinnerte, als sie sich gegen die Felswand gelehnt hatten. Die übliche Zärtlichkeit war wilder Eindringlichkeit und heftigen Schmerzen gewichen. Es war Ashe gewesen. Oder nicht? Das kann nicht sein, dachte sie in Panik, doch das Lachen in ihrem Kopf wurde lauter, als sie begriff, dass sie damals sein Gesicht nicht gesehen hatte. Selbst wenn sie es erkannt hätte, wäre sie möglicherweise nicht in der Lage gewesen, in ihrer Verzweiflung und bei dem heulenden Wind den Unterschied zu bemerken.

Was mit Jo geschehen ist, war nicht deine Schuld. Wenn jemand daran schuldig ist, bin ich es.

Er war aus der Dunkelheit zu ihr gekommen, nachdem Ashe gegangen war. Vielleicht war er in den Zahnfelsen herumgewandert, so wie es gewesen war, als er Jo gefunden hatte. Lanacans Lächeln war ekelhaft wissend, als er auf ihren Bauch deutete.

Nun, die Zeit wird es zeigen. Wir werden sehen, wer die Hure des Dämons war.

Die lautlose Dämonenstimme lachte erneut. »Und die ganze Zeit über hast du nicht gewusst, dass du schwanger bist. Der Same ist zwar vor langer Zeit in dich gelegt worden, aber er wächst erst, seit ich das Wort ausgesprochen habe. Sicherlich hast du nicht geglaubt, dass du die Einzige mit der Fähigkeit des Benennens bist, nicht wahr? Nein, bestimmt nicht. Dazu bist du viel zu bescheiden, nicht wahr, meine Liebe? So bezaubernd. Du wirst eine wunderbare Mutter abgeben, Rhapsody, wenigstens so lange das Kind sich in deinem Leib befindet. Es ist eine Schande, dass du die Geburt nicht mehr erleben wirst.«

Die Stimme in ihrem Kopf wurde einen Moment lang durch Manwyns Stimme ersetzt.

Ich sehe die Geburt eines unnatürlichen Kindes, hervorgegangen aus einer unnatürlichen Verbindung. Nimm dich vor dieser Geburt in Acht, Rhapsody: Die Mutter wird sterben, das Kind aber wird überleben.

Ihre Hände wurden klamm, und sie löste den Griff um das Schwert.

»Ja, meine Liebe, es stimmt. Du trägst mein Kind, so wie es auch die anderen getan haben. Aber ich glaube, deines wird seinen Vater noch mehr verehren. Der Same hat lange geschlummert und dabei die Gelegenheit gehabt, sich mit meinem Blut zu durchtränken wie der Tee hier auf dem Altar. Je mehr Zeit vergeht, bevor das Blut der Mutter dazu kommt, desto dämonischer ist die Natur des Kindes.«

Rhapsody erzitterte. Sie hatte beinahe sieben Jahre bei den Rowans verbracht. Wenn die Worte des F’dor der Wahrheit entsprachen, würde das Kind völlig dämonisch sein.

»Ist das nicht eine wunderbare Ironie: Die wunderschöne Sternenmutter, Retterin der verlorenen Kinder, Schutzheilige der Dämonenbrut, der Himmel in der Prophezeiung der Drei, der aus der Vergangenheit selbst heraustritt, um die Wunden der verwaisten Welt zu heilen und sie zusammenzufügen, wird mich wiedergebären. Du bist es, die den F’dor erneut in die Welt setzt. Du bist die Tür, durch die ich zurückkehren werde. Du bist diejenige, die das Böse lebendig erhält. Oh, ist das großartig! Was könnte vollkommener sein?« Das Schwert fiel klirrend zu Boden.

Grunthor starrte sie an. Alle Farbe war aus Rhapsodys Gesicht gewichen. Die Augen waren weit aufgerissen und starrten blind umher. Jo hatte im Augenblick ihres Todes ähnlich ausgesehen. Rhapsody zitterte unkontrolliert. Sie führte die Hände zu ihrem Bauch. Er spürte, wie mit jeder Sekunde der Dämon stärker wurde. Er sah wild hinüber zu Achmed, der vor Anstrengung schwitzte, den Bann aufrechtzuerhalten. Der Seligpreiser gab keinen Ton von sich, doch ein Lächeln kroch über sein ältliches Gesicht, in dem die Augen wie Feuer aus der Unterwelt brannten und Rhapsody nun wie wahnsinnig anstarrten.

Die Erde unter Grunthors Füßen schwankte. Als sie zu schreien anfing, fühlte Grunthor es. Ihre Schmerzen rannen wie Säure durch seine Adern. Er wusste instinktiv, dass etwas völlig falsch lief. Das Blatt wendete sich gegen sie, und er verstand nicht, warum.

Nun fühlten sich seine Arme warm an. Innerhalb weniger Sekunden waren sie bereits kurz davor, sich zu entzünden. Schmerzen durchrasten ihn und verbrannten seine Haut dort, wo sie mit der Bestie in Berührung kam. Es schien, als schwölle der alte Mann an. Der zerbrechliche greise Körper dehnte sich und wurde mit jeder Sekunde stärker. Der Gestank des Grabes quoll aus dem Mund des Seligpreisers und brannte in Grunthors Augen. Der Bolg musste würgen. Grunthors Herz schlug laut; sein Rhythmus wurde von einer Angst begleitet, die er nie zuvor verspürt hatte. Er begriff, dass ihm die Bestie die Arme brechen würde.

Und dann frei wäre.

Er grunzte vor Pein auf, als sein Hemd versengte, und versuchte, die Augen vor dem beißenden Rauch zu schützen. Er sah hinüber zu Achmed und keuchte auf.

Der Dhrakier war auf die Knie gesunken. Blut floss ihm aus Nase und Ohren. Seine sonst braune Haut war totenbleich, und die Glieder zitterten heftig in dem Versuch, den Bann aufrechtzuerhalten. Er rang nach Luft. Aus seiner Kehle kamen unregelmäßige, abgerissene, gurgelnde Laute. Die Adern an seinem Hals vibrierten und standen kurz vor dem Zerreißen. Während Panik Grunthor zu verschlingen drohte, sah er hinüber zu Rhapsody.

Sie starrte den Seligpreiser an. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß, ihre Augen hatten einen seelenlosen Ausdruck und sahen weit, weit fort.

Gute Götter, dachte er, der Bastard verzaubert sie.

»Euer Liebden?«, keuchte er und versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Rhapsody starrte an ihm vorbei; ihr Blick hatte sich in den des Dämons verkrallt. Er spürte den metallischen Geschmack von Blut im Mund.

Seine Stärke schwand, schon bald würde der Dämon frei sein. In Grunthors Kopf dröhnten dunkle Stimmen und der Druck seines eigenen Blutes.

Ein dumpfer Aufprall, der Schlag von Metall gegen Stein Achmed war gestürzt und lag bäuchlings auf dem Boden. Eine Blutlache breitete sich unter ihm aus. Sein Gesang war so schwach geworden, dass er kaum mehr zu hören war. Die noch immer erhobene Hand zitterte und drohte ebenfalls niederzusinken. Die Stirn war in zuckende Falten gelegt; sie pulsierte und schien zu bersten.

Sein letzter Blick auf Achmed wurde von einem schwarzen Vorhang verdeckt, als sein Blut zu kochen begann. Mit der Kraft eines Sturmbocks kämpfte sich der Dämon frei und schleuderte Grunthor quer durch die Basilika gegen die Mauer des Allerheiligsten. Benommen legte er die Hand auf den Kopf und versuchte die Schmerzen zu stillen. Er kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit an, die ihn zu überwältigen drohte, und ließ es zu, dass Wut ihn durchströmte. Dann tastete er sich in den Teil seiner Seele vor, der mit der Erde verbunden war.

Der Marmorboden und der Grund darunter, der vor kurzem noch verseucht gewesen war, antworteten ihm mit einem Summen.

Haltet ihn für mich fest, dachte er.

Selbst von der gegenüberliegenden Seite des Allerheiligsten aus spürte er, wie die Erde unter den Füßen des Dämons weicher wurde. Die Schmerzen in seinem Kopf verebbten, als er sah, wie der Seligpreiser nun in dem Schlamm einsank, der vorhin noch fester Marmor gewesen war, und sich freizukämpfen versuchte. Das wahnsinnige Glitzern in seinen Augen schwankte und sein Lächeln verschwand allmählich.

Grunthor holte tief Luft, als sich die Erde wieder härtete und den Dämon festhielt. Er spürte, dass Achmed das Bannritual nur noch wenige Sekunden aufrechterhalten könnte.

Entschlossen drehte er sich auf den Knien um und kämpfte sich auf die Beine, wobei er sich an der Mauer abstützte, die fleckig von seinem eigenen Blut war. Dann taumelte er zurück zum Allerheiligsten und packte wieder die Arme des Seligpreisers.

Der Dämon kämpfte nicht einmal. Er richtete den Blick auf Rhapsody. Seine Augen brannten Löcher in ihre Seele.

Die Stimme in ihrem Ohr wurde lauter.

»Ah, Rhapsody, ich sehe, dass du glücklich bist. Du hast Kinder immer geliebt, nicht wahr? Und du hattest befürchtet, unfruchtbar zu sein, stimmt’s? Ich weiß, wie es in deinem Herzen aussieht. Ich sehe deine tiefsten Geheimnisse, weil ich mitten in ihnen stecke. Du solltest vorsichtiger sein, für wen du die Beine breit machst, meine Liebe. Manchmal lassen sie mehr zurück, als das kurze Vergnügen wert ist.«

Die warme Stimme sank noch tiefer in sie ein.

Komm jetzt zu mir.

Gegen ihren Willen machte sie einen Schritt nach vorn.

Ihr Verstand schrie vor Qual auf. Sie kämpfte gegen den Klang der süßen Stimme und kniff die Augen zusammen, um die Worte zu vertreiben, doch ihre Hände waren schon erstarrt. Mechanisch machte sie einen weiteren Schritt voran.

Das ist richtig, ermutigte sie die Stimme des Seligpreisers sanft. Komm zu mir, Rhapsody.

Die Worte hallten in ihrem Herzen wider. Trost und Sicherheit lagen in ihnen. Der Seligpreiser würde ihr nichts antun. Sie sehnte sich danach, seinem Befehl zu gehorchen. Ein Verlangen, ursprünglich und beinahe von sexueller Natur, durchströmte sie und erhitzte ihr Blut. Sie machte einen weiteren Schritt.

Komm zu mir, meine Liebe, ermunterte sie die Stimme; sie klang wie die eines Liebhabers. Wärme umgab Rhapsody wie die Dunkelheit eines gemeinsamen Bettes. Rhapsody verspürte ein Schauern im Rücken; auf ihrer Haut prickelte es.

Komm zu mir, dem Vater deines Kindes und zugleich deinem Kinde. Ich bin beides: dein Kind und Vater deines Kindes, und du liebst mich. Gemeinsam haben wir dieses Kind gezeugt. Du würdest doch niemals deinem eigenen Kind wehtun, oder?

Sie schüttelte den Kopf.

Nein, natürlich nicht. Komm, bring mir das Schwert...

»Schlag zu!«, brüllte Grunthor und zerstörte damit die Worte des Seligpreisers. »Streck endlich deinen schönen Kopf aus dem Sand und hör mir zu, sonst hau ich ihn dir ab und steck ihn auf meine Axt!«

Die Stimme ihres ersten Lehrers war wie ein Leuchtfeuer in der dichter werdenden Dunkelheit. Sie riss Rhapsody aus ihrer Benommenheit und trieb die stummen Worte des Dämons aus ihrem Kopf. Eine ältere, viel tiefer eingewurzelte Loyalität durchfuhr sie und zerstreute die augenblickliche Besessenheit, welche die Worte des Dämons in ihr verankert hatten. Die Stimme des Sergeanten hallte laut und deutlich in ihr wider.

Sie hatte sich ihm verschworen. Sie hatte ihm vor langer Zeit einen Namen gegeben. Der Herr der tödlichen Waffen.

Ihr Freund.

Dero untertänigst zu gehorchende Autorität.

Sie schüttelte den Kopf, als vertriebe sie den Schlaf, und sah auf den Boden neben sich, wo die Tagessternfanfare lag und machtlos schwelte. Sie bückte sich und hob das Schwert auf, dann ging sie zielstrebig über den Marmorboden auf das Allerheiligste zu. Die Augen des Seligpreisers weiteten sich vor Schreck.

Die Schwertklinge wurde in ihrer Hand lebendig, und die schimmernde Flamme sprang auf, als Rhapsody ihren Griff verstärkte. Sie hob das Schwert mit der Spitze nach unten über den Kopf. Der Dämon kämpfte gegen Grunthors stämmige Arme an, doch es war eine sinnlose Anstrengung. Neben sich hörte Rhapsody, wie die Musik von Achmeds Bannritual lauter wurde, und Grunthors Stimme ertönte hinter dem Seligpreiser.

»Das ist ’n Mädchen! Ich hab ihn, Euer Liebden. Und jetzt ein guter, glatter Stich.«

Der Dämon sah ihr ins Gesicht und erkannte darin keine Angst, sondern nur ernste, tödliche Ruhe. Als sich ihre Blicke trafen, begriffen sie beide.

Ich werde dich bald wieder sehen, sagte der Seligpreiser in ihren Gedanken.

»Vielleicht schneller, als du dir vorstellen kannst«, erwiderte Rhapsody.

Sie trieb das alte Schwert, die Waffe der Könige und Krieger, die unsichtbare Feinde getötet und eine Nation vereinigt hatte, tief in das Herz des Dämons, riss ihm mit ihrer ganzen Kraft den Brustkorb auf und durchtrennte sein Rückgrat. Der üble, beißende Gestank des F’dor ergoss sich aus dem Körper des Seligpreisers, und brennendes Blut schoss auf den Boden des Allerheiligsten.

Achmed lag bäuchlings auf dem Marmorboden des Heiligtums und hob langsam den Kopf. Seine ausgestreckte Hand, um die er das Netz der vier Winde gewickelt hatte, ging in Rauch auf, als das brennende, schwarzrote Blut auf seine Handfläche spritzte. Trotz seiner Schmerzen schürzte er die Lippen zu einem Grinsen. Gurgelndes Lachen mischte sich mit den Klängen des Bannrituals.

So wie ich jetzt dein Blut an meinen Händen habe, wird es eines Tages wieder sein.

Der Dämon kreischte auf. Es klang eher nach Wut als nach Schmerz. Er streckte die Hände nach Rhapsody aus, als sie die Tagssternfanfare in seinem Körper umdrehte und herauszog. Grunthor ächzte unter der Anstrengung, die es kostete, den Körper festzuhalten. Dem Seligpreiser gelang es, mit eisig kaltem Blick Rhapsody in die Augen zu sehen, bevor der Firbolg-Riese den blutigen Körper aus dem Marmorboden der Basilika zog. Er sah sie an, und sie nickten sich zu. Dann wuchtete Grunthor mit letzter Kraft den zuckenden Körper auf den Altar unter der Öffnung in der Decke.

Im selben Augenblick beschwor Rhapsody das Sternenfeuer aus dem Himmel durch den offenen Glockenturm herab.

Mit einem wilden Brüllen ergossen sich die ätherischen Flammen auf den Altar, trieben die Drei aus dem Allerheiligsten und verzehrten es. Die Schreie des Dämons waren im Lärm des Feuerstoßes unhörbar, doch Rhapsody spürte sie in ihrem Kopf. Die menschliche Gestalt zuckte und schrumpfte, bevor sie in dem blendenden Feuer verschwand. Sekunden später war alles wieder wie zuvor, allerdings von den Flammen geschwärzt.

Rhapsody starrte das ausgebrannte Allerheiligste an und suchte nach Anzeichen für Überleben nach Teilen, die vom Sternenfeuer verschont geblieben waren, doch sie sah nichts als Rauch und Asche. In der Ferne läuteten die Glocken der Stadt drängend, und in der Nacht waren erschrockene Stimmen zu hören.

Grunthor öffnete die Arme. Rhapsody rannte auf ihn zu und hielt sich mit ganzer Kraft an ihm fest. »Es tut mir so Leid, es tut mir so Leid«, keuchte sie.

»Warum? Du warst toll, Liebes, genau wie ich dir’s beigebracht hab. Du hast für ’nen Moment die Konzentration verloren, aber das kommt bei den Besten von uns vor, nicht wahr, Achmed?«

Am Boden hob Achmed schwach den Kopf. »Auf alle Fälle.« Er sah Rhapsody eindringlich an und wandte den Blick auch nicht ab, als Grunthor ihn auf die Beine zog und den Arm zur Unterstützung um ihn legte.

»Nichts wie weg hier, Euer Liebden«, drängte Grunthor und setzte sie ab. Er packte sie sanft, aber bestimmend am Arm. Rhapsody blieb gerade lange genug stehen, um mit ihrem Mantel das Blut von Boden und Wand abzuwaschen; dann folgte sie den beiden durch die Sakristei und trat über Gittelsons Leichnam hinaus auf die Straße, wo sie in der Dunkelheit warteten, bis sie sich unter die Bevölkerung mischen konnten, die herbeilief und sehen wollte, was in der Basilika geschehen war.

Als der Küster viele Stunden später schließlich die Basilika geräumt und verschlossen hatte, traten die Drei aus den Schatten und untersuchten noch einmal das Allerheiligste. Rhapsody machte die Augen zu und lauschte der Glockenmusik, die schon seit beinahe einer ganzen Stunde ertönte. Sie war süß und harmonisch und von einer Klarheit, die anzeigte, dass der Wind wieder ungehindert durch den Turm strömte.

»Klar und hell«, sagte sie zu ihren Gefährten. »Der Boden wird wieder geheiligt. Wie fühlt es sich an, Grunthor?«

»Ist noch schwer zu sagen, aber die Verseuchung verschwindet eindeutig«, meinte er, bückte sich und berührte den Boden. »Is aufm richtigen Weg. Glaube, die Glocken brauchen ihre Klöppel zurück, damit es ganz klappt. Und du, Liebes, wie geht’s dir? Hast mir für ’nen Augenblick Sorgen gemacht, weißt du?«

Sie streckte die Arme aus, und ihr riesenhafter Freund hob sie erleichtert vom Boden auf.

»Mir geht es gut. Wirklich gut«, sagte sie und schaute in seine bernsteinfarbenen Augen.

»Bin mir nich sicher, ob ich dir glauben kann.«

»Das solltest du aber.« Rhapsody drückte Grunthor noch eine Zeit lang fest an sich, dann reckte sie den Kopf und küsste ihn auf die monströse Wange. »Grunthor, gehst du bitte und suchst uns einen Ausgang? Ich muss allein mit Achmed reden.«

Grunthor sah Achmed an. Dieser nickte. »In Ordnung, Euer Liebden, ich vermute, ich kann mich darum kümmern.« Er setzte sie sanft ab und strich ihr über den Kopf; dann ging er auf die Marmorstufen des Allerheiligsten zu.

»Grunthor?«

Er drehte sich um und schaute zu ihr zurück. »Ja?«

»Ich liebe dich.«

Ein breites Lächeln legte sich über sein Gesicht. »Das is gegenseitig, Liebes.« Er schlug die Hacken zusammen, drehte sich wieder um und lief zur Tür der Basilika.

Rhapsody wartete, bis der riesige Bolg die Kirche verlassen hatte, und sah dann den Fir-Bolg-König an. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck der Belustigung, der sofort verschwand, als sie sich an ihn wandte. Sie schaute ihm eindringlich in die Augen; dabei krochen Angst und Schmerz in ihren Blick zurück. Achmed bemerkte es sofort.

Er nahm sie in die Arme. Rhapsody drückte sich zitternd an ihn. Wortlos strich er ihr mit der Hand über den Rücken und wartete darauf, dass sie etwas sagte. Sie wusste, dass er auch ohne Worte die Tiefe ihrer Furcht kannte. Er hielt sie lange fest, und die Unmittelbarkeit ihrer Panik ging vorbei.

»Weißt du«, sagte sie, als sie wieder aufschaute, »wir beide sind wirklich zwei Seiten derselben Münze.«

»Ich weiß.«

Sie nickte und verlor sich einen Moment lang in ihren Gedanken. Dann blickte sie ihm wieder ins Gesicht.

»Gibt es etwas, das du für mich nicht tun würdest, wenn ich dich darum bäte?«

»Nein.«

»Das hatte ich gehofft.« Sie löste sich aus seinen Armen und ging die Treppe des Allerheiligsten hinunter. Sie hatte die Arme um ihre Hüfte geschlungen und überblickte den gewaltigen Raum der Basilika, in dessen Finsternis die Lüster brannten. Sie setzte sich auf eine Stufe; einen Augenblick später gesellte sich Achmed zu ihr. Sie warteten schweigend eine lange Zeit und sahen zu, wie es in der Basilika immer dunkler wurde. Dabei lauschten sie dem Lärm der Menge, der vor den Türen allmählich abnahm.

Ich will nur, dass es vorbei ist. Ich will endlich wieder einmal ruhig schlafen.

Du willst, dass es vorbei ist? Es wird nie vorbei sein. Rhapsody.

Schließlich sah sie ihn an. Ihre Augen leuchteten, doch sie spiegelten nicht ihre üblichen Gefühle.

»Hast du in der alten Welt während der Ausübung deines Berufes je die Gelegenheit gehabt, ganz schnell und ohne große Schmerzen zu töten?«

»Ja. So habe ich es die meiste Zeit versucht.«

»Natürlich.« Sie sah wieder fort und überblickte die Schäden auf der Empore und an den Bänken. »Vielleicht brauche ich deine Dienste bald nach dem cymrischen Konzil.«

Achmed nickte. »Für wen?«

Rhapsody sah ihn direkt an. »Für mich.«

Achmed nickte abermals. Er verstand.

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