Rhapsody spürte ihre Füße nicht mehr. Der beißende Schnee hatte sie völlig betäubt. Wie viele Tage und Nächte sie bereits hier draußen war, wusste sie schon nicht mehr. Sie wusste nur, dass ihre Kraft verebbte und ihr Ziel nirgendwo in Sicht war. Sie hatte keine Ahnung mehr, wo sie sich befand.
Der Wind umkreischte sie, und der Wald dehnte sich unendlich vor ihr aus. Baumgruppen und Unterholz verschmolzen zu gleichartigen Bäumen und Büschen, bis die Landschaft in einem weißen Wirbel aus krank machender Verwirrung verschwamm. Rhapsody war erschöpft und hatte sich verirrt.
Sie versuchte, ihren Standort durch die Sternbilder zu bestimmen, wie ihr Großvater es ihr beigebracht hatte, doch die Sterne wären ihr fremd gewesen, selbst wenn sie sie durch den heraufziehenden, alle Sicht nehmenden Sturm hätte erkennen können. Der Gladiator versuchte nicht einmal mehr aufzuwachen; sie dehnte all ihre schwindende Feuergabe auf ihn aus, damit er auf dem Pferderücken nicht erfror.
Schließlich konnte sie nicht mehr weitergehen. Sie sank im Schnee auf die Knie; die scharfe Eiskruste stach ihr in die Beine. Die Haare flatterten im Wind, und sie beobachtete ihren Tanz vor den Augen. Sie waren wie Zweige eines goldenen Baumes, der sich in demselben Wind wiegte wie die peitschenden Arme des Waldes. Der Wind biss ihr in die Ohren; sein Heulen war ein fließender Ton, der von Schlaf und dunklen Träumen sang. Und von etwas anderem. Es lag Macht im Wind Macht, die sie erkannte.
Dann fiel er ihr ein der Blutsverwandtenruf, den Oelendra ihr beigebracht hatte. Rhapsody rollte sich zusammen, legte den Kopf auf die Schenkel und versuchte, das eindringliche Kreischen um sie herum auszublenden. Ihr Atem schenkte ihr keine Wärme mehr. Sie steckte die Hände unter die Arme, damit sie sich konzentrieren konnte, und suchte in dem Geheul und Gebrüll nach dem einzelnen Ton, die ihren Hilfeschrei zu den Brüdern des Windes tragen würde. Schließlich fand sie ihn; es war der klare, ruhige Ton unter all dem Aufruhr, der beständig summte, während der Wind aufbrauste und abebbte.
»Beim Stern«, flüsterte sie mit einer Stimme, die vor Kälte brüchig war, »werde ich warten, werde ich beobachten, werde ich rufen und gehört werden.« Der Sturm um sie herum wurde unmerklich schwächer, und der stille Ton klang nun ehrlicher. Rhapsody nahm all ihre Stärke zusammen.
»Beim Stern«, sang sie erneut mit den Worten ihres Geburtsortes und in der Sprache ihrer Kindheit, wobei sie beständig lauter wurde, »werde ich warten, werde ich beobachten, werde ich rufen und gehört werden.« Der Ton klang jetzt klar und hell und sank schließlich zu einem summenden Atmen herab, kleidete sich in den Wind und verschwand in der Nacht.
Rhapsody lauschte ihm, als er verwehte, und betete, die Hilfe möge eintreffen, doch ihr Herz erinnerte sie daran, dass der Stern, bei dem sie geschworen hatte, nun den Himmel über dem Meer in einer anderen Welt erhellte. Der Ort, an dem der Wind lebte, der den Ruf der Verwandten beantwortet hatte, war schon lange unter den Wellen verschwunden. Doch vielleicht würde Oelendra ihn hören. Nur um sicher zu sein, sang sie den Namen ihrer Lehrerin und schickte ihr sowie den Kindern und Freunden Liebesbotschaften. Ashe erwähnte sie dabei nicht, denn sie hatte Angst, er könne kommen.
Die Zeit verging ohne Eile und Besonderheiten. Das Pferd zitterte und versuchte sich warm zu halten, indem es umhertrottete. Rhapsody griff nach dem Zügel und packte daneben. Sie fiel mit der Brust voran auf den gefrorenen Boden. Als sie sich mit den Händen wieder aufrichtete, glaubte sie, den Umriss eines anderen Pferdes am Rande ihres Blickfeldes zu sehen, das am Horizont zwischen den schwarzen Bäumen hindurchhuschte; dann war es verschwunden.
Der Schnee verhärtete sich, als die Temperatur noch stärker fiel. Die weichen Flocken verwandelten sich in Eiskristalle und flirrten durch die Luft, als die Windstöße heftiger wurden. Sie stachen Rhapsody ins Gesicht und blendeten sie. Nun konnte sie nicht einmal mehr sehen, wo sie war. Rhapsody versuchte voranzukommen; sie rutschte auf den Knien neben das Pferd. Das Gesicht ihres Vaters tanzte vor ihr, er rief ihren Namen, und Wärme stieg herab. Sie wusste nun, dass sie schon bald erfrieren würde.
Die Gestalt schien sich in ihre Richtung zu bewegen. Offenbar war es ein großer, breitschultriger Mann mit fließenden Umrissen, die im kreischenden Wind flatterten. Er kam ohne die Schwierigkeiten voran, die sie behinderten. Die Gestalt schien zu wallen. Rhapsody bemerkte, dass der Grund dafür das heftige Zittern war, das ihren Körper befallen hatte. Sie kämpfte darum, wach zu bleiben, war aber schon in einen Zustand der Benommenheit gefallen, gegen den sie nicht mehr ankämpfen konnte.
Sie streckte einen zitternden Arm aus, um das Pferd zu berühren, und griff gleichzeitig nach dem Bein des Gladiators. Es war noch warm unter der schützenden Schicht aus Laken und Mänteln. Sie zwinkerte wiederholt, um einen klaren Blick zu behalten. Falls der herannahende Mann sie bedrohen sollte, würde sie das Pferd mit dem letzten Rest ihrer Feuer und Benennergabe antreiben und nach Hause schicken. Rhapsody streichelte entschuldigend das muskulöse Bein und wusste, dass ihr Versuch, ihn zu retten, fehlgeschlagen war. Als die Dunkelheit hereinbrach, betete sie, dass sie ihn nicht an einen schlechteren Ort als den geführt hatte, an dem er vorher gewesen war.
»Rhapsody?« Die Dunkelheit verdichtete sich, während die junge Frau um ihr Bewusstsein kämpfte. Sie glaubte, der Wind rufe ihren Namen. Dann knirschte der Schnee, als die Gestalt schneller herankam, und Rhapsody hörte wieder ihren Namen, während eine beißende Bö ihr um die Ohren peitschte und in ihrem Kopf widerhallte.
»Rhapsody? Götter, bist du das?« Nun war die Stimme deutlicher und tief. In ihrer zunehmenden Bewusstlosigkeit erkannte Rhapsody sie, doch sie wusste nicht mehr woher. Die Stimme zitterte und dehnte sich aus, und Rhapsody wurde schwindlig. Sie versuchte aufzustehen, stellte aber fest, dass sie keine Gewalt mehr über ihre Beine und nicht einmal mehr Gefühl in ihnen hatte. Sie griff nach dem Zaumzeug des Pferdes und hielt sich daran fest. Mit der Hüfte scheuerte sie über den Boden, als das Tier wegen der Gewichtsverlagerung herumtänzelte.
Dann stand er über ihr, zerrte sie auf die Beine und aus dem Schnee. Mit ihrem verschwommenen Blick erkannte sie, dass sie einem Kettenhemd aus schwarzen und silbernen Ringen gegenüberstand. Darüber trug die Gestalt einen schwarzen Umhang, der ihr vertraut erschien, auch wenn sie ihn weder einordnen noch entscheiden konnte, ob sie sich in Gefahr befand oder nicht. Ihr Blickfeld schwankte wieder, als er mit einer Hand ihren Oberarm losließ. Sie spürte, wie sein Umhang sie in einer Kreisbewegung aus weißem Schnee und schwarzer Wolle einhüllte und ihren gefühllosen Körper mit einer Wärme beschenkte, die noch vor einem Herzschlag die seine gewesen war.
»Criton! Bei allen Blutsverwandten, du bist es! Was im Namen alles Guten machst du hier draußen? Du bist beinahe nackt. Ich weiß, dass du nicht helle bist, aber ich hatte nicht gewusst, dass du verrückt bist. Oder willst du dich umbringen?«
Rhapsody versuchte durch ihre vom Frost verklebten Wimpern zu blicken, aber sie konnte sein Gesicht nicht deutlich erkennen. Flecken aus Licht und Dunkelheit lagen darüber, als ob er einen Bart trüge, und seine Augen hatten dieselbe Färbung wie die von Ashe, aber keine vertikalen Pupillen. Er hielt sie vor sich über dem Boden; seine Arme waren so stark, dass sie Rhapsody mühelos trugen.
Sie konzentrierte sich so eingehend wie möglich auf die Schwingungen, die von ihm ausgingen, bis sich in ihrem Innern ein verschwommenes Bild von der letzten Begegnung mit ihm bildete. Es war ebenfalls hier gewesen oder zumindest in unmittelbarer Nähe, falls sie den Ort richtig einschätzte. Schließlich nahm das Bild Gestalt an. Es war Llaurons Bruder. Anborn, Gwylliams jüngster Sohn. Ashes Onkel. Der Soldat, der sie vor einem Jahr auf einer Waldstraße beinahe niedergeritten hätte. Sie glaubte sich an seinen Namen zu erinnern.
»Anborn? Anborn ap Gwylliam?« In ihrer Benommenheit erkannte sie kaum die eigene Stimme, die brüchig, zitternd und rau wie die einer alten Frau war.
»Ja«, sagte er, legte einen Arm unter ihre Knie und zog die erfrierenden Füße unter den Umhang. »Bist du es gewesen, die im Wind gerufen hat? Bei allen Göttern, wenn ich gewusst hätte, dass du es bist, hätte ich noch weitere Leute benachrichtigt Heiler.«
»Nein«, keuchte sie. Ihre Stimme befreite sich nur widerwillig aus der Kehle. »Nicht. Niemand ... darf wissen. Bitte.«
»Was soll das bedeuten?«, fragte Anborn und deutete auf ihr Pferd.
Rhapsodys Zähne klapperten so heftig, dass sie das Wort kaum herausbrachte. »Gladiator.«
Anborn schlang das Ende seines Umhangs enger um ihre Füße und zog sie an seine Brust. Er versuchte sie mit der Hitze seines Oberkörpers zu wärmen. »Du hast einen Gladiator gestohlen? Von wo? Aus Sorbold?« Sie nickte. »Ich hoffe, du hast einen guten Grund dafür. Er ist doch gewiss nicht zu deinem privaten Vergnügen bestimmt, oder?«
Rhapsody zitterte unkontrolliert, als ihre frierenden Glieder die Wärme allmählich aufnahmen, und sie schüttelte den Kopf im Einklang mit dem übrigen Körper.
»Du bist in diesem Aufzug allein nach Sorbold gegangen, um einen Gladiator zu entführen? Wessen glorreiche Idee war das?« Er stieß ein Pfeifen aus, und sein Pferd lief sofort auf sie zu.
Sie steckte wieder die Hände unter die Arme und versuchte, sie zu wärmen und die Zuckungen zu unterdrücken, die ihren Körper zu überwältigen drohten.
»Llaurons.«
Als das Pferd neben ihnen war, zog Anborn die kleine Satteldecke herunter, die den Hals des Tieres geschützt hatte. Er hob Rhapsody in den Seitensattel und machte sich daran, ihre Beine in die Satteldecke zu wickeln. »Wenn du bei diesem Abenteuer beide Beine verlieren solltest, erinnere mich bitte daran, dass ich diesen Narren durchprügele. Was ist geschehen? Warum bist du hier?«
Rhapsodys Ohren schmerzten in dem beißenden Wind, als das Gefühl in die Ränder der Ohrläppchen zurückkehrte. »Verstärkung ... ist nicht gekommen.«
Anborn sah hoch zu ihr und bedachte sie mit einem düsteren Stirnrunzeln auf seinem breiten Gesicht. Aus der Satteltasche holte er eine Metallflasche hervor und streckte sie ihr entgegen.
»Trink das.« Sie versuchte danach zu greifen, doch ihr Arm zitterte so heftig, dass Anborn es sich anders überlegte und ihr die Flasche an die Lippen hielt, während er mit der anderen Hand ihren Rücken stützte. Die brennende Flüssigkeit ließ sie würgen. Als sie hustete, vergoss sie einige Tropfen über die Lippen und machte sie damit für den beißenden Wind noch verwundbarer.
Anborn wischte ihr die Tropfen mit dem Rand seines Umhangs ab. »Bist du wach?«, wollt er wissen und packte ihr Kinn mit festem Griff. »Wenn nicht, musst du jetzt aufwachen, oder du wirst sterben. Kannst du mich hören? Du bist dem Tod näher, als du vielleicht glaubst. Wie lange bist du in diesem Aufzug schon hier draußen?«
Rhapsody versuchte verzweifelt, sich zu erinnern, und bekämpfte die Anflüge der Bewusstlosigkeit, die sie bedrängten. »Sieben Tage, acht? Vielleicht noch länger«, flüsterte sie. Die Anstrengungen des Sprechens drohten sie zu überwältigen.
Anborn sagte nichts, doch der grimmige Ausdruck auf seinem Gesicht wurde noch bedrohlicher. Er nahm ein Seil aus der Satteltasche und band sie damit an den Sattel, denn sie hatte nicht mehr die Kraft, sich auf dem Pferd zu halten. Dann führte er das Tier zu Rhapsodys Stute. Rhapsody hatte sich in seinen Umhang gekuschelt und regte sich nicht mehr, während er den bewusstlosen Gladiator untersuchte.
Sie sah zu, als er Constantin in eine etwas andere Lage brachte und ihm ein wenig Flüssigkeit aus der Flasche zwischen die Lippen goss. Als sich der Gladiator regte, versetzte Anborn ihn mit einem einzigen Schlag wieder in Bewusstlosigkeit. Dann kehrte er zurück, saß hinter ihr auf und band den Zaum ihres Pferdes an seine eigenen Zügel.
»Du bist wirklich eine Verrückte«, sagte er und blickte sie finster an. »Die Bestie ist warm eingewickelt, und du hast sie auf deine Kosten gefüttert. Du kannst froh sein, dass du nicht unter meinem Befehl stehst. Ich hätte dich dafür auspeitschen lassen, dass du ein wertvolles Leben für ein wertloses aufs Spiel gesetzt hast.« Er sah ihr in die Augen und fand keine Reaktion in ihnen. Ihr Blick war glasig. Er nahm ihren Kopf zwischen die Hände. Anborn berührte ihre Lippen mit den seinen und atmete Hitze in ihren Mund.
Leidenschaftslos stieß er die Luft aus und füllte ihre Lunge mit Wärme, die sich auch über ihr Gesicht ergoss. Nach einigen Atemzügen wartete er und suchte nach Anzeichen für eine Reaktion. Als er keine bemerkte, kehrte er zu seinen Bemühungen zurück, sie innerlich zu wärmen.
Kurz darauf öffneten sich Rhapsodys Augen flatternd und Anborn sah belustigt zu, wie sich ein Ausdruck der Überraschung auf ihr Gesicht legte, als sie sich Lippe an Lippe mit ihm wieder fand. »Bleib wach, oder ich muss es noch mal tun«, sagte er, zog ihr den Umhang über den Kopf und drückte sie gegen seine Brust, während er für sie beide und die Pferde einen Schutz vor dem Sturm suchte.