Aus der Ferne war schwer zu sagen, ob die Ziegelbrennerei arbeitete oder verlassen war. Zwar quoll Rauch aus den offenen Kaminen in der Mitte des Gebäudes, doch nach einer Beobachtung von zwei Stunden hatte niemand den Komplex betreten oder verlassen. Als sich die Nacht herabsenkte, brannten die Öfen weiter, doch immer noch kam niemand.
»Sehr seltsam«, meinte Rhapsody hinter der zerfallenen Mauer, an der sie ihren Beobachtungsposten errichtet hatten. »Glaubst du, dass diese Brennerei von Geistern betrieben wird?«
Achmed gebot ihr mit einer Handbewegung zu schweigen und versuchte dem Muster des besudelten Herzschlages innerhalb des Bauwerks aus Ziegeln und Mörtel zu folgen. Obwohl er ihn bisweilen spürte, hatte er den Eindruck, er verlangsame sich, als bereitete er seinen Körper auf den Schlaf vor.
Der dunkle Himmel befand sich fest im Griff des Winters; mit der herannahenden Nacht war der Wind kalt geworden. Rhapsody zog den Saum ihres Ghodin enger, damit das Kleidungsstück nicht in der starken Brise flatterte.
Der Rauch von den Feuern rollte noch immer schwer durch die Luft, doch der beharrliche Wind jagte und zerstreute ihn ein wenig. Der wolkenverhangene Himmel warf das Licht der Feuer zurück, das nun hinter den fernen, inneren Fenstern flackerte.
Achmed erhob sich aus seiner gebückten Stellung und machte die Cwellan einsatzbereit.
»Warte hier. Ich suche die Umgebung ab. Pass auf.« Nachdem Rhapsody zustimmend genickt hatte, verschwand er in den zuckenden Schatten.
Im vorderen Teil des Gebäudes war es still und dunkel. Achmed schlich an der südöstlichen Mauer vorbei. An diesen Teil des Bauwerks grenzten keine größeren Seitenflügel. Schlierige Fenster, die nur zur Belüftung dienten, waren die einzigen Öffnungen in der langen Ziegelmauer.
Es gab eine kleine Lieferantentür auf der anderen Seite des Gebäudes, näher an den langen Seitenflügeln. Achmed schlüpfte leise hindurch und schloss sie rasch hinter sich. Das Vorzimmer der Ziegelei war leer. Zwei erkaltete große Öfen standen offen und enthielten Bretter mit gebrannten Steinguttöpfen und Schüsseln. Lange Tische mit einer dicken keramischen Staubschicht trugen weitere Töpferwaren in verschiedenen Stadien der Fertigstellung. Farbtöpfe und abgedeckte Fässer mit Lack erfüllten den Raum mit einem ungesunden Gestank. Achmed war sofort klar, dass die Waren in diesem Raum keinesfalls der gesamte Ertrag der andauernd brennenden Öfen waren.
Vorsichtig umrundete er die schweren Tische und achtete darauf, keine Fußabdrücke im Staub auf dem Boden zu hinterlassen. Er schlängelte sich zu der schweren Tür mit den Messingbeschlägen, die er bereits von den Schatten des hinteren Vorzimmers aus bemerkt hatte. Die Tür war fest verschlossen. Achmed legte die Hand auf das roh gezimmerte Holz und spürte die Hitze dahinter. Licht flackerte durch die Ritzen.
Langsam zog er einen seiner Handschuhe aus. In der Dunkelheit fuhr er mit den Fingern über die schweren Eisenangeln und stellte fest, dass sie mit einer dicken Rostschicht überzogen waren. Zweifellos werden sie beim Öffnen knarren, dachte er. Er lehnte sich gegen die Tür und stieß die Luft aus.
Das Gespür für den richtigen Pfad, das er beim Kriechen durch die Eingeweide der Erde erworben hatte, hatte ihm so etwas wie das zweite Gesicht gegeben eine Vision der Richtung, die er suchte. Bisher hatte er diese Gabe noch nicht eingesetzt, um einen Herzschlag ausfindig zu machen.
Achmed schloss die Augen und ließ seinem zweiten Gesicht freien Lauf. Vor seinem geistigen Auge erschien der Raum, in dem er stand, dann mit Töpferwaren bestandene Tische, das gebrannte Steingut und die Farbtöpfe, die schwach in der Finsternis leuchteten. Der Herzschlag der Dämonenbrut schwoll in seinen Ohren an und prickelte auf der Haut. Sein Magen krampfte sich zusammen und bereitete sich auf einen Schlag vor. Übelkeit quoll in ihm auf, als die Vision plötzlich forthuschte, aus dem Raum floh und in einem seltsamen Winkel durch die Tür raste. Die Suche dauerte nicht lange.
Seine Sinne drangen in das Zimmer hinter der Tür ein. Es war ein höhlenartiger Raum, offenbar eine Brennkammer mit drei gewaltigen Öfen, die auf niedriger, stetiger Flamme brannten und vor denen etliche leere Ziegelbretter standen. Eine mächtige gusseiserne Glocke hing an der Wand hinter der offenen Tür. Die Vision kam mit einem bebenden Schlingern zum Stillstand.
Achmed sog zitternd die Luft ein und versuchte, sich an die Vision zu klammern. Die Schatten aus den offenen Öfen zuckten wie verrückt hin und her und flackerten durch das Zimmer. Auf dem Boden hinter der Tür lagen Kübel und Stangen mit Haken daran, Seile, Gussformen und verschiedene Werkzeuge.
Der gewaltige Raum beherbergte fünf riesige Fässer mit einer dicken Flüssigkeit. Jedes hing zwischen Steinsäulen und brodelte über einem Kohlenfeuer; daneben lagen Haufen aus rotem Schmutz. Nahe bei den Fässern befanden sich drei Pritschen, auf denen unter Laken drei schlafende Körper lagen. Einer rollte sich gerade herum.
Die Vision zuckte erneut, und die Farbe des Blutes erfüllte seinen Geist, während der fremde Puls, der jetzt mit seinem eigenen Gleichklang, in seinen Ohren zu einem schweren Crescendo anschwoll. Als ob ihm Kopf und Schultern von unsichtbaren Händen zur Seite gedreht würden, wechselte sein Blick zur Pritsche links neben einem dunklen Alkoven, rückte näher und erkannte einen dunklen Kopf unter einem dünnen Laken, während das Pochen lauter wurde. Die Farbe von Blut erschien vor ihm und tauchte seinen Blick in einen roten Nebel. Dann verschwand die Vision.
Geschwächt wischte sich Achmed kalte Schweißperlen von der Stirn, holte mehrmals tief Luft, durchquerte dann still den Raum und schlüpfte aus der Tür in die Nacht.
Rhapsody betrachtete einen Moment lang sein Gesicht, während er aus dem Wasserschlauch trank, und suchte dann in ihrem Gepäck nach der Zunderbüchse. Sie rieb den Feuerstein so lange, bis er Funken schlug, zündete dann einen kurzen Docht an, hielt ihn dicht an ihre Augen und sah zu Achmed hinüber.
»Du siehst nicht gut aus. Ist alles in Ordnung mit dir?«
Achmed wischte sich das Wasser von den Lippen. »Ja. Bist du bereit?«
»Ja. Ich habe etwas Anisöl; das sollte die hungrigen Angeln sättigen.«
Er verkorkte den Schlauch und steckte ihn zurück in sein Gepäck. »Es sind Seile da, mit denen du die Lehrlinge fesseln kannst falls es solche sind. Kümmere dich zuerst um die Brut. Bei ihr handelt es sich um denjenigen auf der Bahre im linken hinteren Alkoven, den mit dem schwarzen Haar. Ich nehme mir die beiden anderen vor den blonden Bengel und den ohne Haare.« Rhapsody nickte. »Noch etwas, Rhapsody. Wenn er dich bedroht, bring ihn sofort um, oder ich werde es tun. So war es abgemacht. Ist das klar?«
»Ja.«
Achmed suchte in ihrem Gesicht nach Anzeichen der Sorge, sah aber keine. Nun atmete er leichter als noch vor einem Augenblick. Seit Jos Tod schien sie zurückhaltender und sachlicher zu sein, als ob die Rolle der Iliachenva’ar, der Trägerin der alten Tagessternfanfare, nicht mehr so schwer auf ihr lastete. Doch noch immer lauerte etwas hinter ihren Augen, das er nicht ermessen konnte; beinahe war es, als fehlte etwas. Er zog sich die Kapuze über und machte die Cwellan bereit.
Achmed fühlte sich immer noch von der Vision und vielleicht auch von der Arrhythmie geschwächt, doch er musste das hier durchstehen und es beenden ihnen allen zuliebe.
Als er schwach nickte, zog sich Rhapsody die Kapuze ihres Capes über den Kopf und folgte ihm in die dunkle Ziegelei.
Die Tür in den hinteren Teil öffnete sich ohne das geringste Geräusch. Rhapsody hatte die Angeln eingeölt und flüsterte den Namen des Schweigens in einem leisen Refrain, während Achmed an der Klinke zog und die Tür langsam aufdrückte.
Die Feuer der Brennöfen brüllten zur Begrüßung und spiegelten sich auf Rhapsodys Gesicht. Die zuckenden Flammen warfen einen Moment lang grelle Helligkeit in den Raum und beleuchteten alles in ihm.
Ziegelbretter und Säcke mit Mörtel lehnten gegen die Wand. In einer gegenüberliegenden Ecke hingen Regale mit Vorräten und Nahrung und erschufen in dem Raum ein Schattenlabyrinth. In die hintere Wand war ein tiefer Alkoven hinter den Pritschen der drei Lehrlinge eingelassen.
Rhapsody hielt den Stofffetzen hoch, den Achmed ihr als Knebel gegeben hatte, und deutete damit ihre Einsatzbereitschaft an. Dafür erhielt sie ein Nicken.
Wie Quecksilber glitt Achmed durch die flackernden Schatten zu den Pritschen der beiden Lehrlinge, die rechts von dem Alkoven schliefen. Ein Seil lag neben ihren Betten. Er hob es auf, schnitt es in Stücke und warf eines Rhapsody zu; dann machte er sich daran, die schlafenden Jungen zu fesseln.
Er beugte sich über den ersten, einen großen, dünnen Knaben mit drahtigem blondem Haar, und drückte ihm mit dem Finger gegen die Halsschlagader. Als der Junge die Augen aufschlug und nach Luft schnappte, presste ihm Achmed den Knebel in den Mund. Er war zwar grob, erstickte den Jungen aber nicht. Bevor der Lehrling wieder ausatmen konnte, waren ihm schon die Hände auf dem Rücken zusammengebunden.
»Beweg dich nicht«, murmelte Achmed dem anderen Lehrling zu, einem kahlköpfigen Jungen, der durch die Geräusche aufgewacht war. Achmed richtete die ganze Aufmerksamkeit auf seine Handlungen, erkannte aber an dem Lärm hinter ihm, dass die Dämonenbrut Rhapsody Schwierigkeiten machte.
»Au! Halt still, du Bastard autsch! Du hast mich gebissen!« Achmed wirbelte herum und sah, wie Rhapsody mit dem Seil kämpfte, während der Junge auf der Pritsche sie kratzte. Sie zog sich kurz zurück und wendete dann den Heuwender-Schlag an, dessen begeistertes Opfer auch Grunthor bereits einmal geworden war. Nun erzielte sie damit denselben Erfolg. Der dunkelhaarige Lehrling fiel mit einem Uff! auf die Pritsche zurück, und ein beängstigendes Knirschen zerriss die Luft. Der Junge, den Achmed gerade fesselte, krümmte sich zusammen. Rhapsody rieb sich die Handkante. »Versuch das nicht noch einmal, wenn du deine Zähne behalten willst«, sagte sie mit zusammengekniffenen Lippen.
Achmed nahm ihre Hand, zog den Handschuh aus und untersuchte sie in dem flackernden Licht. »Blutest du?«, fragte er auf Bolgisch.
»Nein, aber er.« Sie warfen einen Blick auf den Lehrling, der sie mit blutendem Mund höhnisch anlächelte.
»Sei vorsichtig mit dem Blut; ich brauche es noch«, sagte Achmed ebenfalls auf Bolgisch. Rhapsody lächelte, während sie ihren Handschuh wieder anzog.
Der blutende Lehrling versuchte sich aufzurichten, doch Rhapsody versetzte ihm erneut einen Schlag, hockte sich dann auf ihn und fesselte ihn.
»Mach den Schweineknoten so«, rief Achmed ihr zu, als er dem blonden Lehrling Hände und Füße hinter dem Rücken zusammenband.
Rhapsody zuckte zusammen. »Ist das wirklich nötig? Das sieht schmerzhaft aus.«
»Ja. Ich habe gesehen, wie alle drei mehr als einmal auf die Glocke geschielt haben. Bestimmt kann man mit ihr Verstärkung herbeirufen.«
»Was ist in dem Alkoven?«, fragte Rhapsody, als sie das Dämonenkind zusammengeschnürt hatte und versuchte, den tödlichen Blick seiner durchdringenden schwarzen Augen nicht zu beachten.
Achmed drückte einen Finger gegen die Kehle des anderen Lehrlings, der wie ein Blatt im Sturm zitterte.
»Was ist in dem Alkoven?«, fragte er auf Orlandisch.
Der kahle Junge versuchte zu sprechen, brachte aber kein Wort heraus. Er schluckte und versuchte es erneut.
»Der Tunnel«, flüsterte er.
»Wohin führt er?«
»Ich ... ich weiß nicht.« Der Junge wurde blass, als er Achmeds Gesicht sah.
»Ich glaube, er sagt die Wahrheit«, mischte sich Rhapsody rasch ein, als sie sah, dass er den Druck auf die Schlagader des Jungen erhöht hatte. »Der Ton in seiner Stimme beweist es. Ich werde ihn zu Ende fesseln; dann kannst du es dir ansehen.«
Achmed stand angeekelt auf, nachdem sich Rhapsody vor den glatzköpfigen Lehrling gekniet hatte, und trat langsam in den dunklen Alkoven. Er war leer bis auf eine gewaltige Scheibe aus Metall, die an der Wand lehnte. Achmed warf einen Blick in das Loch im Boden. Es schien ein geziegelter Schacht wie bei einem Brunnen zu sein, so tief wie zwei große Männer und so schmal, dass man vermutlich mit ausgestreckten Armen die Wände berühren konnte. Am unteren Ende der südlichen Wand klaffte ein dunkles Loch, aus dem stoßweise ein kleines Rinnsal floss. Zerbrochene Ziegelbretter und Eimer lagen verstreut auf dem nassen Boden. Sonst sah er kaum etwas im Widerschein der Feuer aus den offenen Brennöfen. Rhapsody fesselte die Hände des Lehrlings so sanft wie möglich.
»Wie heißt du?«
»Omet.«
»Wer wäre gekommen, wenn du die Glocke geschlagen hättest, Omet?«
Der Gesichtsausdruck des Jungen wurde schlaff, als er sie ansah; dann blinzelte er. »Die Gesellen. Sie leben im nächsten Flügel.«
Sie nickte. »Warum ist ein Tunnel unter eurem Arbeitsraum?«
»Da unten graben die Sklavenjungen.«
»Die Sklavenjungen?«
Ihre Frage blieb unbeantwortet, als Achmed benommen zu Boden fiel.