52

In der Grotte von Elysian, unter Kraldurge

Der See von Elysian war nicht völlig zugefroren. Ashe war den ganzen Weg von Kraldurge hierher geeilt und entschied, dass es das Beste war, das Boot zu nehmen, und sei es nur, um Rhapsodys inneres Band zu der Grotte nicht zu stören. Sie würde ihn spüren, wenn er seine Wassermacht einsetzte, um hinüber zu der Insel zu gelangen, und das könnte sie verärgern. Vermutlich befand sie sich in einem Schockzustand, zweifellos in Trauer, doch wie zerbrechlich sie im Augenblick war, würde er erst wissen, wenn er sie sah. Er wollte es nicht riskieren, dass sie noch mehr litt.

Das Haus war dunkel; nicht ein einziges Licht brannte hinter dem Fenster. Es schien, als wäre Elysian tot. Die Gärten waren braun vom Frost und das Licht im Turm erloschen. Ashe schluckte und ruderte schneller. Sogar das Lied, das die Kaverne erfüllt hatte, war verstummt, und die Wärme von Rhapsodys innerem Feuer fehlte völlig. Panik stieg in Ashe auf. Sobald das Boot das Ufer berührte, sprang er heraus und rannte auf das Haus zu. Er öffnete die Vordertür und eilte in die Diele, wo seine Sinne sie erfühlt hatten. Zunächst sah er sie nicht; es brannten keine Lampen, und der Kamin war kalt. Nur ein kaum merkliches Glimmern wehte durch den Raum. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte er sie. Sie saß auf dem Boden vor dem Kamin und starrte verloren auf die geschwärzten Ziegel.

Er fuhr mit seinen Sinnen über sie. Dabei schnürte sich seine Kehle zusammen. Sie hatte an Gewicht verloren, was sie sich nicht leisten konnte; ihr früher makelloses Gesicht war eingesunken, und unter den Augen lagen dunkle Ringe. Ihre Augen verwirrten ihn am meisten. Sie waren zwar offen, schienen aber auf nichts gerichtet zu sein, und ihr Blick war trübe. Sie saß im Schneidersitz, hatte die Arme um die Brust geschlungen und die Hände unter die Unterarme geschoben. Er verfluchte sich dafür, dass er nicht gewusst hatte, wohin sie gehen würde. Er hatte sie zu lange allein gelassen. Als er auf sie zulief, sah sie kurz auf. Bevor er sie erreicht hatte, neigte sie den Hals ein wenig und zog den Kragen ihres Hemdes herunter. Gleichzeitig schob sie die Kette zur Seite. Ashe verstand diese Geste, und sie brach ihm das Herz. Sie machte sich freiwillig verwundbar und erwartete den Todesstreich.

Bei den letzten Schritten ging er auf die Knie und warf die Arme um sie, als er sie endlich erreicht hatte. Er vergrub das Gesicht in ihrem Nacken, küsste sie immer wieder sanft und versuchte ihr wortlosen Trost zu spenden. Sie öffnete die Hand; Crynellas Kerze fiel heraus. Sie beugte sich noch tiefer und versteifte sich. Er erkannte an ihren Handlungen, dass sie seine Rache erwartete und er sie für ihr Versagen bei Llauron töten sollte. Bei diesem Gedanken drehte sich ihm der Magen um.

Sie flüsterte etwas, das er niemals gehört hätte, wenn sein Ohr nicht dicht an ihren Lippen gewesen wäre.

»Bitte beende es schnell.«

Ashe packte sie bei den Armen und drehte sie um, damit er ihr ins Gesicht sehen konnte. Mit den Augen sog er ihre verheerende Furcht auf. Er schüttelte sie leicht, und als ihr Blick sich kurz klärte, sah er sie mit aller Tiefe an, die er aufbringen konnte.

»Hör mir zu, Aria. Es war nicht deine Schuld. Du hast nichts Falsches getan. Bitte, Rhapsody, lass nicht zu, dass deswegen etwas von dir stirbt. Bitte.«

Sie sah auf den Boden und sagte nichts. Ashe nahm sie in die Arme, wiegte sie und versuchte, sie wieder zu sich zu bringen. Schließlich hob sie sanft an zu sprechen.

»Es tut mir Leid«, flüsterte sie. »Ashe, es tut mir so Leid. Ich konnte es nicht aufhalten; ich konnte ihn nicht retten. Er hat es nicht zugelassen.« Der Schmerz in ihrer Stimme lockte ihm die Galle in die Kehle. Sie fuhr hastig fort: »Es war meine Aufgabe, ihn zu beschützen; das ist es, was die Iliachenva’ar tun muss. Ich habe mich entehrt, ich habe das Schwert und das Amt entehrt. Es tut mir Leid.«

»Nein. Nein, das stimmt nicht, Rhapsody.«

»Ich hätte Khaddyr erledigen sollen, bevor sie mit dem Kampf angefangen haben. Ich hätte diesen dämonischen Bastard ohne Schwierigkeiten töten können. Entweder steht er im Bann des F’dor, oder er ist der Dämon selbst. Es war meine Aufgabe, und ich habe versagt. Ich habe Schande über mich, Oelendra, die Götter und die Tagessternfanfare gebracht. Ich war unwürdig, und sie haben nicht auf mich gehört.« Sie erzitterte in seinen Armen. »Ich konnte deinen Vater nicht retten, Ashe. Es tut mir so Leid.«

Ashe hielt es nicht mehr aus. »Das solltest du auch nicht, Rhapsody.« Sie schien ihn nicht zu hören. Er nahm ihr Gesicht in die Hände und sah ihr in die Augen. Sie waren grüngrau und glanzlos. »Hast du mich verstanden? Ich habe gesagt, du solltest ihn nicht retten. Es war ein Streich. Llauron ist nicht tot. Man hat dich benutzt. Es tut mir Leid; ich wünschte, ich hätte es dir auf angenehmere Weise sagen können, aber du machst mir Angst. Du darfst nicht mehr glauben, dass du für all das verantwortlich bist. Und dass ich dir das Leben nehmen will...«

Seine Stimme brach; er verstummte. »Ich liebe dich, ich liebe dich«, sagte er, als er wieder sprechen konnte.

Es dauerte eine Weile, bis sie wieder einen klareren Blick bekam und seine Worte in sie einsanken. Als sie schließlich begriff, spannte sich ihr Körper in seinen Armen. Sie drückte ihn fort und schaute ihn an.

»Llauron ist nicht tot?«

»Nein.« Er überlegte, welche tröstenden Worte er ihr sagen und wie er ihr die Sache erklären konnte, doch kein Ton kam über seine Lippen. Die Verwandlung in ihrem Gesicht nahm ihm die Worte.

»Es war ein Streich?«

»Ja.«

»Das ist unmöglich«, sagte sie und stand auf. »Ich habe selbst den Scheiterhaufen angezündet. Ich habe die Totenklage gesungen.«

Ashe schluckte und schmeckte erneut die Galle, die ihm bis in den Mund gestiegen war. »Ich weiß, Aria. Es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht täuschen. Dein Sternenfeuer war notwendig, damit er seinen elementaren Zustand erlangen konnte, den er ohne dich nicht bekommen hätte.«

»Was soll das bedeuten?«

Er versuchte, sich an die Worte zu erinnern, die er ihr beim ersten Mal gesagt hatte in jener Nacht, an die sie keine Erinnerung mehr hatte. »Llauron war der Begrenzungen müde geworden, die ihm seine menschliche Existenz auferlegten. Sein Blut war zum Teil das eines Drachen, doch es schlummerte. Er wurde alt, krank und hatte Schmerzen, und er sah sich seinem Tod gegenüber. Er hätte in menschlicher Gestalt nicht mehr lange leben können. Doch er wollte seine Wyrm-Persönlichkeit ganz ausleben. Das Sternenfeuer, das du auf ihn herabgerufen hast, gab ihm die Kraft, seine Gestalt zu wandeln und ihn zu einem Drachen zu machen, so wie es auch bei mir der Fall gewesen ist. Es hat ihn beinahe unsterblich gemacht, wie Elynsynos, und ihm die Möglichkeit verschafft, eins mit den Elementen zu werden.«

Sie dachte über diese Erklärung nach. Als sie begriff, verhärtete sich ihre Miene. »Warum hat er es mir nicht gesagt? Warum hast du es mir nicht gesagt?« Ashe sah fort. »Ach, das war es, oder? Das war die Erinnerung, die du mir an jene Nacht genommen hast, nicht wahr, Ashe?«

Er konnte sie nicht anlügen. »Eine davon, ja.«

»Es gab noch andere?« Sie seufzte bedrückt. Ihre Wut war noch nicht voll ausgebrochen, aber er spürte, wie sie unter der Oberfläche brodelte. »Was sonst noch?«

Es schnürte ihm die Kehle zu. Er hatte in der Zeit ihrer Trennung nach jener wunderbaren gemeinsamen Nacht die Gefahr erkannt, die ihnen eine Heirat bringen würde. Ihre Seelen waren vereinigt. Wenn der F’dor dies herausfand, würde er Rhapsody benutzen, um ihn zu finden. Oder, schlimmer noch, wenn er als Erster entdeckt und getötet würde, wusste der F’dor, dass seine Seele nicht mehr vollständig war, da ein Stück davon inzwischen in Rhapsody lebte. Er würde sich auf die Suche nach ihr machen. Das Einzige, was sie schützte, war der Umstand, dass sie nichts von dieser Hochzeit wusste. Er war bereits zu der schrecklichen Erkenntnis gekommen, dass er ihr nichts von der Hochzeit sagen durfte, bis der Dämon tot war. Doch als sie nun zitternd vor ihm stand und unaussprechliche Kränkung und wilde Wut in ihren Augen wuchsen, hätte er nichts lieber getan, als ihr die Erinnerungen zurückzugeben, ihr zu sagen, dass er ihr Mann war, und sie auf jede erdenkliche Weise zu trösten. Doch er musste das alles für sich behalten. Die Gefahr war zu groß.

»Ich kann es dir noch nicht sagen. Glaube mir, Aria, es gibt nichts auf dieser Welt...«

»Dir glauben?«, unterbrach Rhapsody ihn. Ihr entfuhr ein ersticktes Lachen. »Verzeih mir, wenn ich das ein wenig ironisch finde.«

»Du hast jedes Recht dazu.« Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie wich vor ihm zurück.

»Aria, bitte ...«

»Nenn mich nicht mehr so«, sagte sie ernst. »Ich bin nicht mehr deine Geliebte, Ashe. Ich bezweifle, dass die zukünftige Herrscherin der Cymrer das schätzen würde. Ich würde es jedenfalls nicht.«

»Rhapsody...«

»Warum, Ashe? Warum konnte er es mir nicht sagen?«

Ashe seufzte. Er schaute ihr in die Augen; ihr Blick brannte in seiner Seele. »Llauron brauchte dich, damit du als sein Bote auftrittst. Er brauchte dich, damit du die Nachricht von seinem Tod glaubwürdig verbreitest, und das hast du getan. Da er der letzte mächtige Mensch war, der dem F’dor im Weg stand, war seine Hoffnung, dass sein angeblicher Tod den Dämon aus der Deckung locken würde.«

»Aber das ist eine Lüge. Du hast eben noch gesagt, er sei gar nicht tot.«

»Ich weiß.«

»Und du kanntest seinen Plan?«

Er senkte den Kopf. »Ja«, sagte er leise.

Rhapsody schlang die Arme um den Bauch, als ob sie sich gleich übergeben müsste. »Du hast zugelassen, dass ich lüge, Ashe. Du hast zugelassen, dass ich etwas Unwahres glaube und es mit meinen eigenen Lippen im ganzen Land verbreite. Begreifst du eigentlich, was das heißt?«

Er begriff es. Er nickte bloß.

»Es bedeutet, dass ich keine Benennerin mehr bin. Ich habe meinen Eid gebrochen. Ich habe die Möglichkeit verloren, dass man mir glaubt. Meine Glaubwürdigkeit ist dahin.« Wut überkam sie; ihr Zittern wurde stärker und wütender. »Kannst du nachvollziehen, dass ich neben meiner Berufung auch mich selbst verloren habe? Dass ich wegen dieser Sache zu einer anderen Person geworden bin?«

»Nein, Rhapsody, so wird es nicht sein, wenn du es nicht zulässt. Du hattest keine Ahnung; du hast die Wahrheit so weitergegeben, wie du sie gesehen hast.«

»Dann ist es also in Ordnung, weil es eine unbewusste Lüge war?«

Darauf wusste Ashe nichts zu erwidern.

Rhapsody wandte sich von ihm ab und packte sich an den Kopf. Sie fuhr sich mit den Fingern grob durch die Haare und versuchte sich zu beruhigen. Ashe blieb ihr aus dem Weg, doch die Worte, die ihn beinahe erstickt hatten, kamen schließlich doch über seine Lippen.

»Es tut mir Leid, Rhapsody. Ich liebe dich.«

Sie hörte auf zu zittern, drehte sich wieder zu ihm um und verharrte still wie eine Statue.

»Trotz der unglaublichen Ironie in deinen Worten glaube ich, dass du es ernst meinst.«

»So ist es.« In seiner Stimme lag jetzt ein harscher Unterton, der von seiner zweiten Natur kündete.

»Hör auf damit«, sagte sie sanft; ihre Stimme war kaum mehr als ein Wispern. »Du kennst mich nicht einmal mehr, Ashe; ich kenne mich ja nicht einmal mehr selbst. Außerdem bin ich der Meinung, dass die cymrische Dame, die du erwählt hast, deine völlige Treue und Hingabe verdient hat, welche nicht von Gedanken an eine andere Frau getrübt werden sollten. Oder?«

»Ja.«

Etwas in seinen Augen, ein tiefer Schmerz, erregte ihre Aufmerksamkeit. Nun wusste sie, dass er etwas vor ihr verbarg. »Was ist es, Ashe? Was hast du mir noch nicht gesagt?«

Das Atmen fiel ihm immer schwerer. »Bitte frag mich nicht, Rhapsody.«

Ihr Blick wurde ganz klar, und ihr Atem ging sacht und regelmäßig. »Du hast sie gesehen, nicht wahr?«

»Ja.« Er wandte sich ab.

»Sieh mich an«, befahl sie. Ashe schluckte und wandte sich ihr wieder zu. »Hast du ihr einen Heiratsantrag gemacht?«

»Ja.« Was hätte er sonst sagen sollen?

»Hat sie angenommen?«

»Rhapsody...«

»Sag es mir, Ashe«, meinte sie geduldig, aber fest. »Ich habe mehr Lügen gehört, als ich in einem Leben ertragen kann.«

»Ja, sie hat angenommen.«

Sie nickte wieder. Ashes Drachensinne bemerkten die Beschleunigung ihres Herzschlages und die leichte Röte im Gesicht, als sie sich wieder abwandte, sowie den Schweiß auf ihren Handflächen. Ihre Stimme verriet sie jedoch nicht.

»Du bist also verlobt?«

»Nein.«

Rhapsody drehte sich überrascht um. »Nein? Was soll das heißen?«

Ashe überlegte, wie er es vermeiden konnte, ihr die Wahrheit zu sagen, doch der Blick ihrer Augen machte seinen Vorsatz zunichte. »Sie hielt es für keine gute Idee, sich nur zu verloben.«

Es dauerte eine Weile, bis sie seine Worte aufgenommen hatte. Als sie begriff, spürte es sein Drachensinn, auch wenn ihr Gesicht wiederum keine ihrer Regungen verriet. »Du bist verheiratet.«

Ashe hüstelte. »Ja«, flüsterte er. »Rhapsody ...«

Sie lächelte ihn an; es war ein tapferes Lächeln. Hinter ihren Augen erspürte Ashe keine kleine Explosion; es war, als ob feines Kristall zerplatzte. »Es ist in Ordnung, Ashe«, meinte sie tröstend. »Ich bin froh, dass du es mir gesagt hast. Wir haben schließlich beide gewusst, dass es so kommen würde.«

Schließlich fand er seine Stimme wieder. »Rhapsody, es gibt vieles, was du nicht verstehst. Wenn der Dämon tot ist, werde ich dir alles sagen.«

»Das ist weder nötig noch ratsam, Ashe«, sagte sie freundlich. »Du schuldest mir nichts mehr. Du hast es nie getan. Aber du schuldest ihr etwas. Sie hat Anspruch auf deine ganze Aufmerksamkeit. Verschwende sie bitte nicht an mich. Ich brauche sie weder, noch will ich sie haben.«

Er stellte sich so aufrecht hin, wie es ihm möglich war. »Wenn das hier vorbei ist...«

»Wenn das hier vorbei ist, habe ich vor, den cymrischen Rat einzuberufen. Es ist vermutlich das Beste, wenn du ernsthafte Vorbereitungen triffst, um die Regentschaft zu übernehmen, Ashe. Der Rat wird dich zweifellos dazu drängen. Dein Leben wird anders und besser werden.«

»Wenn der Dämon tot und die Ratsversammlung vorbei ist, werde ich dich meiner Frau vorstellen, und dann wirst du es verstehen.«

»Wir werden sehen«, sagte Rhapsody unverbindlich. »Ich bin sicher, dass ich sie früher oder später kennen lernen werde. In der Zwischenzeit gehe ich zurück nach Tyrian. Ich glaube, es wäre gut, wenn ich die verschiedenen lirinschen Gruppen wieder zusammenbringen könnte. Auf deinem Weg zur Ratsversammlung solltest du Halt in Tomingorllo machen. Dort besagt eine Legende, dass die Lirin den cymrischen Herrscher als ihren Regenten anerkennen und sich mit den Cymrern vereinigen werden, wenn es ihm gelingt, die Teile des reinen Diamanten, aus denen nun das Diadem der Lirin besteht, wieder zum Leben zu erwecken. Das wäre gewiss ratsam, wenn du Rassenhass und Grenzstreitigkeiten unterdrücken möchtest.«

Er nickte. »Dann werde ich dich dort treffen.«

»Nein, ich werde schon in Ylorc sein. Sobald ich das Hörn geblasen habe, muss ich in Canrif bleiben, bis der ganze Rat zusammengetreten ist. Ich werde also nicht dort sein, Ashe; es wird für dich und deine Gemahlin nicht peinlich werden.«

Ashe seufzte und sagte einen Moment lang nichts. »Kann ich noch etwas für dich tun, Rhapsody?«

Ein trauriges Lächeln flog über ihr Gesicht. »Ja, ich glaube, da gibt es etwas, das du für mich tun könntest.«

»Was immer es ist, sag es.«

Sie sah ihn nachdenklich an. Der Ausdruck in ihren Augen enthielt weder Wut noch Hass, doch Ashe erzitterte unter der Kälte. Es war ein Blick völliger Resignation.

»Du kannst gehen«, sagte sie nur. »Ich will dich jetzt nicht mehr sehen. Ich will dich nicht mehr sehen, bis der Rat zusammentritt. Und danach will ich dir vielleicht nie wieder begegnen. Ich wünsche dir alles Gute, Ashe; das wünsche ich dir wirklich, und du hast meine besten Wünsche für eine lange und glückliche Ehe, aber bitte geh jetzt.«

Ashes Gesicht wurde länger, als Rhapsody es je bei einem Mann für möglich gehalten hätte.

»Aria, ich ...«

»Hör auf«, sagte sie mit fester Stimme. »Du hast mich gefragt, was du für mich tun kannst, und ich habe es dir gesagt. Es ist mir nicht leicht gefallen. Bitte geh.«

»Ich kann nicht gehen, wenn du so wütend bist, Rhapsody.«

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, doch der Ausdruck ihrer Augen änderte sich nicht.

»Warum nicht? Du machst alles nur noch schlimmer. Ich bin immer noch deine Freundin und Verbündete, und wenn du zum Herrscher gewählt wirst, werde ich deine treue Untertanin sein. Wenn du die Cymrer vereinigen willst, werde ich dir auf jede erdenkliche Weise helfen. Aber im Augenblick erinnert mich dein Anblick nur an all die Lügen und Machenschaften, die die Cymrer in ihren schrecklichen Krieg getrieben haben.

Vielleicht liegt es an der Natur deines Volkes, auch wenn ich mir das nicht vorstellen kann. Die Geschichten, die ich über den Seren-König gehört habe, haben stets seine große Wahrheitsliebe und seine Achtung vor der Einheit hervorgehoben. Vielleicht hat es der Dämon allen unmöglich gemacht, ehrlich zu sein, aber irgendwie glaube ich, der Einzige, der alle entschuldigt, bist du. Inzwischen begreife ich, warum Oelendra angeekelt den cymrischen Hof verlassen hat und für immer bei den Lirin leben wollte. Ihr als Volk seid unfähig, die Wahrheit zu sagen, besonders euch selbst gegenüber.« Sie hielt inne, als der betroffene Ausdruck in seinem Gesicht unerträglich für sie wurde.

»Es tut mir sehr Leid, Ashe«, sagte sie. In ihrer Stimme lag Mitgefühl. »Es tut mir Leid, dass du dazu verdammt zu sein scheinst, ein Leben in ständiger Selbsttäuschung führen zu müssen zusätzlich zu der Täuschung durch die anderen.

Achmed hatte Recht. Es war meine Selbsttäuschung anzunehmen, dass es eine hoffnungsvolle Antwort auf dieses ganze Durcheinander gibt. Ich vermute, ich bin eine echte Cymrerin; mögen die Götter mir helfen. Ich wünschte mir, fern von alledem zu sein. Ich weiß, dass ich keine Benennerin sein könnte, wenn ich kein ehrliches Leben führte, aber da das nicht länger meine Berufung ist, möchte ich den Rest meines Lebens wenigstens ehrenhaft hinter mich bringen. Ich habe alles getan, was in meiner Macht steht, um dir und deinem Vater zu helfen. Jetzt will ich nichts weiter als Frieden. Bitte komm nicht zurück.«

Ashe schluckte die Tränen und die Galle herunter, die wieder in ihm aufstiegen. »Rhapsody, ich hoffe, du weißt, dass ich dich nie verletzen wollte, was immer ich auch getan habe.« Er verstummte, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Dieses Gesicht hatte bei seiner Ankunft unendliche Schmerzen und Sorgen ausgedrückt und war inzwischen zu Ekel und Abscheu übergegangen. Sie hasst mich, dachte er, und einen Moment lang befürchtete er, der Drache in ihm könnte sich erzürnen, doch selbst dieser Teil seiner Seele vermochte ihr nicht das Recht auf ihre Gefühle abzusprechen.

»Was soll ich denn sagen, Ashe? Dass alles in Ordnung ist? Du hast mich verletzt. Ich werde es überleben. Das war das Erste, was Achmed mir beigebracht hat: runter mit dem Kinn, denn man wird dich verprügeln. Erwarte nichts anderes und sei auf der Hut.

Eigentlich ist es meine Schuld. Ich vergesse andauernd, dass der Ausgang unvermeidlich ist, und kümmere mich zu wenig um meine Deckung. Ich denke, du wirst jegliche Achtung vor mir verlieren, wenn ich dir sage, es sei wieder alles in Ordnung. Ich weiß, dass ich auf alle Fälle meine Selbstachtung dabei verlieren würde. Ich will keine einzige Sekunde meines Lebens mehr damit verbringen, dir zuzuhören, wie du dich dafür entschuldigst, dass du mich belogen, gegen die Wand geworfen oder erschreckt hast. Bitte lass es auf sich beruhen, Ashe. Geh zurück zu deiner Frau, damit ich mich erholen kann. Früher oder später wird alles vorbei sein. Bitte geh jetzt.«

»Rhapsody...«

»Geh«, sagte sie sanft. Sie ging zur Treppe und stieg langsam nach oben. »Auf Wiedersehen, Ashe. Möge dein Leben lang und glücklich sein. Bitte schließ die Tür hinter dir.« Sie ging nach oben auf die Turmstube zu.

Ashe sah ihr nach. Er spürte, wie sie sich zum Fenster begab, im Fenstersitz saß und darauf wartete, dass er sein Boot bestieg und Elysian für immer verließ.

Er ging zum Kamin und öffnete die Tür daneben, hinter der das Holz gestapelt war. Rasch machte er Feuer für sie. Er wollte sie nicht allein in dem kalten Haus zurücklassen, dessen eisige Atmosphäre mehr von den Ereignissen in ihrem Leben als von den winterlichen Temperaturen herrührte. Dann hob er Crynellas Kerze vom Boden auf. Sie hatte dieses Erinnerungsstück für ihn mitgebracht. Selbst in ihrer elenden Lage hatte sie an ihn gedacht. Ein Kloß saß ihm in der Kehle, als er zusah, wie das Holz Feuer fing. Rhapsody hatte nicht einmal die Bedeutung dessen erkannt, was sie getan hatte. Trotz Khaddyrs Vermutung, dass alle Amtsgewalt in Llaurons Eichenstab steckte, befand sich diese tatsächlich in dem Schmuckstück, das sich in seinem Gürtel befunden hatte: in dem alten Gemisch aus Feuer und Wasser. Das Amt des Fürbitters lag jetzt bei Ashe.

Als die Flammen aufloderten, verließ er das Haus und ging zum Boot, ohne zurückzusehen. Als er sich schließlich in einiger Entfernung vom Ufer befand, drehte er sich nach Rhapsody um, die ihn von dem Bogenfenster aus beobachtete. Er streckte eine Hand in die Luft und hielt die Wasserkerze hoch. Sie winkte ihm zu, als die Dunkelheit der Kaverne ihn allmählich schluckte. Er atmete flach und konzentrierte sich darauf, seine Wut unter Kontrolle zu halten, bis er die andere Seite des unterirdischen Sees erreicht hatte.

Später in der Nacht erglühte der Himmel über der sorboldischen Ebene in blutigem Licht; es war wie die Ruhe vor einem Sturm. Donner rollte durch das Firmament, und die Bolg, die vom Rand der Zahnfelsen aus zuschauten, suchten hastig Unterschlupf, als das Feuer aus dem Himmel regnete, das Land versengte und die Luft in beißenden Staub verwandelte. Im fernen Wald, in der Bettkammer seiner neuen Behausung, erwachte der Fürbitter Khaddyr schweißgebadet aus einem Traum beruhigender Dunkelheit. Er fühlte die Verheerung des Landes unter dem Atem des Drachens. Der Baum spürte jede knisternde Flamme, die sich auf die Erde stürzte und alles in Brand setzte. Und in seinem Herzen wusste Khaddyr, dass der Drache ihn suchte.

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