Das Gemetzel begann in dem Augenblick, als die Preise für das Schlittenrennen verliehen wurden.
Die Schlittenrennen waren eines der angesehensten und am heißesten umkämpften Ereignisse des Winterkarnevals und beschränkten sich auf die schiere Kraft und Schnelligkeit der vierköpfigen Mannschaften im Wettstreit um die begehrten Preise, als da waren ein ganzes Fass canderianischen Whiskeys, ein gesalzener und gebratener Ochse, ein gehämmertes Goldmedaillon und ein Jagdrecht in ganz Roland.
Die Mannschaften setzten sich anlässlich dieses Ereignisses meistens aus Familienmitgliedern zusammen und bekamen ihre Trophäen von Stephen persönlich in einer humorvollen Zeremonie voller Glanz und Gloria überreicht, gekrönt von einer großartigen Prozession über den gesamten Festplatz. Die Gewinner saßen dabei auf Ehrenplätzen in ihren großen Schlitten und wurden unter dem triumphierenden Klang eines Marsches und etlicher Fanfarenstöße von den Mitgliedern der Verlierer bis vor die Wettrichtertribüne gezogen, wo sie ihre Preise erhielten.
Die Schlittenrennen waren schon seit langem Stephen Navarnes Lieblingswettbewerbe, und so stand er pfeifend und anfeuernd inmitten der Massen, als die Gewinner die Unterlegenen bei ihrem Zug über den Festplatz mit Schneebällen und Heu von ihren hohen Sitzen aus bewarfen. Daraus hatte sich eine freundliche Schneeballschlacht ergeben, und Stephen lachte lauthals, als die unterlegenen Mannschaften die Schlitten hin und her schaukelten und die Gewinner so in den Schnee warfen.
Für Stephen lag etwas ungeheuer Befreiendes darin, ein solches Ereignis zum ersten und einzigen Mal außerhalb seiner neuen Wallanlagen zu beobachten. Die Schutzmauer hatte das Fest behindert und dafür gesorgt, dass der Schnee innerhalb der Einfriedung unter den tausenden Stiefeln festgetreten wurde. Die Schlittenrennen hatten mehr Raum erfordert; also waren die Teilnehmer durch das Osttor vor die Mauer gezogen und befanden sich nun in einem großen, losen Oval, das den jungfräulichen Schnee des Hinterlandes in dem Gebiet hinter der Mauer umgab. Die Frische dieses Ortes war ideal für die Austragung des letzten Wettkampfes. Sobald die Preise vergeben sein würden, würde die Menge hinter die Schutzmauern zurückkehren und das Fest beginnen, das sicherlich im großartigsten von Stephens berühmten Freudenfeuern enden würde.
Stephen lauschte dem fröhlichen Lachen seiner Kinder, das sich mit den verspäteten Freudenrufen der Menge vermischte, und sah einen Augenblick lang auf das Medaillon in seiner Hand. Das Gold fing das Licht der Wintersonne ein und warf es in die große Arena, wo es für einen Moment auf Melisandes Haar spielte und die Zöpfe aufleuchten ließ. Sein Blick wurde wieder auf das Medaillon gezogen, dann auf den gebratenen Ochsen, der in eine grobe Sackleinwand gewickelt war und schwer nach Gewürzen und Holzrauch duftete. Eine kleine Welle des Erstaunens durchströmte ihn. Das Fass Whiskey fehlte.
Der Herzog sah sich nach Cedric Canderre um und entdeckte ihn, als er gerade lachend den Arm um ein Tavernenmädchen legte. Er schüttelte den Kopf und hielt Ausschau nach Canderres Sohn.
»Andrew!«, rief Stephen dem Biergrafen zu. Andrew hörte ihn und wandte sich von dem fröhlichen Schauspiel ab. »Das Fass es ist nicht da.«
Andrew warf von seinem Platz aus, wo er die Spiele beobachtet hatte, einen Blick auf den Stand mit den Preisen und nickte verstehend. Er drehte sich wieder um und rief nach einem seiner Diener, damit dieser das Fass hole, doch alle waren gerade damit beschäftigt, die Teilnehmer der Schneeballschlacht anzufeuern. Sie pfiffen und johlten, als der Schlitten umkippte und das Oberhaupt des Gewinnerklans kopfüber in den Schnee stürzte. Andrew wollte ihr Vergnügen nicht unterbrechen. Lächelnd machte er sich auf den Weg zum Vordertor von Haguefort, wo auf der westöstlichen Durchgangsstraße der Bierwagen abgestellt war.
Stephen war zufrieden, dass der Preis nun auf dem Weg war, und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Schneeballschlacht zu, die sich zwischen den Gewinnern und den Verlierern des Schlittenrennens und deren Familien entspann. Er legte die Hand auf Mellys Schulter und fuhr mit den Fingern durch ihre hellen Locken. Dabei genoss er unbewusst die letzten Augenblicke ihrer Unschuld.
»Hallo, Andrew, warte!«
Andrew seufzte. Dunstins Stimme war schwer vom Trinken Bier, dem hohen Ton nach zu urteilen. Er rief Andrew vom inneren Hof Hagueforts aus.
Andrew war sich deutlich der Tatsache bewusst, dass de Gastgeber des Festes gleich einen Preis verleihen musste, den er noch nicht in der Hand hielt; also behielt er seinen schnellen Schritt bei und winkte dem jüngeren der Baldasarre-Brüder nur zu.
»Keine Zeit, Vetter«, rief er zurück. »Ich muss Stephens Preis für das Schlittenrennen holen.«
»Das Fass?«, schrie Dunstin zurück, während er vergeblich versuchte, zu Andrew aufzuschließen, und dabei über den glatten Hof schlitterte. »Warte doch! Ich helfe dir! Du kannst es allein nicht tragen.«
Andrew lächelte in sich hinein, aber er verlangsamte seinen Schritt nicht. Trotz seiner Schmächtigkeit war er stark und kernig; die schweren Arbeiten, die er regelmäßig in seinen Ställen und Kellern leistete, hielten ihn in Form. Er hörte, wie Dunstin, der als verschwenderischer Bruder eines Herzogs an ein müßiges Leben gewöhnt war, hinter ihm herschnaufte.
»Warte, du Schuft!«, brüllte der jüngere Baldasarre. Schließlich wurde Andrew langsamer, als er das Haupttor erreichte.
Dunstin seufzte gereizt. »Was ist denn los? Hast du Angst, dass ich deinen Whiskey unterschlage? Du Lump! Sehe ich etwa wie ein Straßenräuber aus?«
»Nein, Dunstin, du siehst aus wie ein verdrießlicher, betrunkener Bastard«, entgegnete Andrew und klopfte sich den Schnee ab, der an den Absätzen seiner Stiefel hing. »Es schmerzt mich, wenn ich mir vorstelle, wie viel von meinem guten Bier im Augenblick durch deinen Bauch schwappt.«
Dunstin hatte ihn unter dem Torbogen endlich eingeholt. Sein rotes Gesicht zeigte keine Anzeichen einer Beleidigung durch die zwar sanft ausgesprochenen, aber ungewöhnlich harschen Worte des Grafen.
»Ich bin nicht verdrießlich«, sagte er, stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und beugte sich leicht vor, um Luft zu holen. »Und es ist tatsächlich gutes Bier, das kann ich dir versichern. Zu gut, um es an solche Leute zu verschwenden.« Er neigte den Kopf in Richtung Osten, wo die sonst endlosen Felder Navarnes schwarz vor Menschen waren, und grinste.
»Sollen sie doch Navarnes Bilgenwasser trinken, oder vielleicht das von Bethania. Du solltest sowieso den canderianischen Schnaps den Adligen vorbehalten.«
»Nur wenn die Adligen das Schlittenrennen gewinnen, das diesmal aber, soweit ich weiß, die Familie eines Schmieds aus Yarim für sich entschieden hat«, gab Andrew zurück und betrat die breite, lange Treppe, die hinunter zur Durchgangsstraße führte. Er nickte den Wachen zu, als er durch das Tor schritt. Die Festung und die sie umgebenden Mauern waren verlassen; die gesamte Bevölkerung des Herzogtums befand sich im Hinterland und schaute zusammen mit dem Rest Rolands den Rennen zu. »Übrigens, Dunstin, falls sich noch einmal einer meiner Stallburschen darüber beschweren sollte, dass du seine junge Tochter bespringst, werde ich ihm meinen Segen dazu geben, wenn er dich mit dem glühenden Ende eines Brandeisens aufspießt. Vielleicht halte ich dich dabei sogar noch fest. Irgendwo hat auch Familienloyalität eine Grenze, die du immer weit überschreitest.«
»Ah, jetzt verstehe ich«, sagte Dunstin und trottete hinter dem Grafen die Steinstufen hinunter. »Jecelyn hält dich immer noch hin, nicht wahr? Gräme dich nicht, alter Knabe. Es ist nicht mehr lange bis zur Hochzeit. Willst du nicht sogar noch vor Tristan heiraten, also in etwa einem Monat?«
»Ja«, sagte Andrew knapp. Er blieb am Fuß der Treppe stehen und schaute nach Süden, dann schüttelte er den Kopf und überquerte das breite Feld, das die Schwelle zu Stephens Festung bildete.
»Was ist los?«, fragte Dunstin, der endlich neben ihm war und nun mithielt.
Sie hatten den Bierwagen erreicht, der nur von einem einzelnen Fahrer bewacht wurde. Andrew zuckte die Achseln.
»Ich habe geglaubt, etwas am südlichen Horizont zu sehen.« Er nickte dem Wächter zu und zog die Plane zurück. Dort stand das Fass, mit goldener Farbe bemalt und mit einem Siegel verschlossen. Er schulterte das Fass und wollte soeben wieder das Feld durchqueren, als das ferne Glitzern erneut seine Aufmerksamkeit erregte.
Nun hatte auch Dunstin es gesehen; er starrte in südliche Richtung, und sein rosiges Gesicht wurde plötzlich fahl.
»Was ist das?«, murmelte er mehr zu sich selbst als zu Andrew.
Die helle Sonne leuchtete am blauen Rand des Horizonts, blitzte einen Augenblick lang auf und spiegelte sich tausendfach im aufwirbelnden Schnee wider. Einen Moment später verdunkelte sich der Horizont mit einem ganzen Heer aus sorboldischen Soldaten, Kavalleristen, Infanteristen mit Lanzen und Armbrustschützen, die über den Hügel am Rande der Wiese galoppierten und marschierten und fünf Wagen mit dampfenden Katapulten hinter sich herzogen.
Der Schnee erbebte unter den donnernden Hufen, flog in den Himmel auf und umhüllte das näher rückende Heer mit Wirbeln aus weißen Schleiern. Die Erde unter dem Bierwagen bebte, und die Pferde tänzelten ängstlich.
»Heiliger All-Gott«, flüsterte Andrew, als die zweite Reihe des Heeres am Horizont auftauchte. Die Absicht der Soldaten und ihr Ziel waren unmissverständlich.
Mit voller Geschwindigkeit rannten sie auf den Festplatz außerhalb von Stephens Schutzmauer zu.
Das Fass Whiskey fiel zu Boden, zerschmetterte und bespritzte das Hinterrad des Bierwagens. Gleichzeitig warfen Andrew und Dunstin einen Blick zurück auf die ferne Festung, in der nur eine Hand voll Soldaten Wache hielten; dann sahen sie wieder auf das herannahende Heer. Eine dritte und eine vierte Reihe tauchten nun auf dem Hügel auf und marschierten in Richtung des Hinterlandes. Stephens Mauer würde sie nicht aufhalten und auch den Anschlag mit den brennenden Fässern, die auf den Armen der Katapulte lagen, nicht abwehren können. Sie würden den Angriff nur verschleiern, bis das gesamte Heer herangekommen wäre. Andrew und Dunstin waren zwischen den Sorboldern und der Festung gefangen und schauten gleichzeitig nach Süden. Vor ihnen erhoben sich in einiger Entfernung die beiden Glockentürme von Haguefort, die hauptsächlich dekorativen Zwecken dienten und mit Bannern behängt waren. Die Türme waren Teil einer größeren Schutzwehr aus den Tagen des cymrischen Krieges gewesen. Mit dem Frieden war die Niederlegung des äußeren Verteidigungswalls und die Umwandlung der Wachttürme in schlanke, frei stehende Türme einher gegangen, deren Glocken die Stunden schlugen und bisweilen Musikstücke spielten. Die Türme standen zwischen ihnen und dem heranrückenden Heer.
Die beiden jungen Adligen wechselten einen raschen Blick und nickten mit einem schwachen, grimmigen Lächeln, dann teilten sie sich auf. Dunstin lief nach links, Andrew nach rechts. Sie schössen über die Durchgangsstraße zu dem braunen Schnee, der von den Füßen, Hufen und Karrenrädern der unzähligen Gäste zertrampelt war, und rannten dem Heer entgegen. Andrew rief dem Fahrer des Bierwagens zu: »Zum Tor! Warne die Wachen!«
Sie waren beide tausend Schritte von ihrem Ziel entfernt, als die Sorbolder sie bemerkten. Die linke Flanke der dritten Kolonne schwenkte ab und griff nun die Festung und die Glockentürme an, während das restliche Heer weiter auf den Festplatz zumarschierte. Dunstin hörte das zischende Pfeifen des Pfeils, bevor er ihm in die Schulter drang und ihn zu Boden schleuderte. Der Aufprall warf ihn nach hinten. Er rappelte sich wieder auf und taumelte vorwärts. Mühsam kämpfte er gegen die Schmerzen und die Panik an, die ihn befiel, als der Boden unter ihm schwankte und sich der Horizont verdunkelte.
Im Laufen packte er sich an die Schulter. Das hervorquellende Blut wärmte ihm die Finger. Der Turm war in Sicht; die alten Steine leuchteten in der Morgensonne unter den flatternden Bannern. Er spürte, wie sein Atem ungleichmäßig wurde und die Schmerzen sich in der ganzen Brust ausbreiteten. Der Atemdunst bildete eisige Wolken, die vor seinem Gesicht schimmerten, als er durch sie hindurchlief.
Die Reiter kamen näher. Dunstin schlug einen Haken nach rechts und rannte im rechten Winkel durch ihr Blickfeld. Im Angesicht des Todes kehrte die Erinnerung an seine Ausbildung zurück. Pfeile aus der näher rückenden Linie zischten durch die Luft. Er stolperte und taumelte voran, fing sich wieder und betete, dass Andrew schneller und sicherer auf den Beinen war und seine eigene Nähe zu den Soldaten ihm mehr Zeit verschaffte. Das war nur ein kleiner Gefallen für das, was er nun bezahlen musste.
In dem schwarzen Sturm, der über den Horizont peitschte, hörte er einen festen, metallischen Laut, als ein Katapult gespannt und bestückt wurde. Er hatte den Glockenturm beinahe erreicht; dennoch fuhr ihm das Geräusch durch Mark und Knochen und machte seine Muskeln starr. Wie angefroren blieb er stehen. Der metallische Laut ertönte wieder gegen das Knirschen von gespanntem Holz.
Eine Welle von Energie durchfloss Dunstin. Er schoss nach vorn, rannte mit aller Kraft und hielt die Augen auf den Turm gerichtet, der mit jedem Schritt und jedem schmerzenden Atemzug größer wurde und näher kam. In der hinteren Wand befand sich eine kleine Tür, zweifellos für den Aufseher. Dunstin hielt den Blick darauf gerichtet, er wollte sie unbedingt erreichen. Er kämpfte sich immer weiter voran und versuchte, weder die Schmerzen in Schulter und Brust noch das Blut zu beachten, das daraus hervorquoll.
Seine Hand lag auf der Klinke, und kalter Stahl stach ihm in Handfläche und Finger, als sich die Welt in Feuer und niederstürzenden Steinblöcken auflöste.
Dunstins schwankendes Bewusstsein spürte den Steinregen, als der Turm zersprang, und bemerkte, wie die öligen Flammen ihm die Haut abschälten und ihn verzehrten. Der Staub von den zusammenfallenden Turmmauern, die bald wie Brotkrumen über das frostige Feld verstreut lagen, erfüllte seine blutende Nase, und als die Dunkelheit am Rande seines verschwommenen Blickfeldes herankam, erinnerte er sich an die Schwärze seiner Kindheitsalbträume und wünschte sich, seine Mutter käme mit einer Kerze herbei. Die Gewalt des Sturzes warf Dunstin auf die Seite. Als der Tod den Adligen heimholte, gewährte er ihm zwei letzte Gnaden.
Durch das Bersten der letzten Mauerreste und das Knistern der Flammen hörte er das wilde Tönen der Glocken aus Andrews Turm; es war der Ruf zu den Waffen, der Stephen warnen würde. Trotz der Schmerzen zog Dunstin die geschwärzten Lippen zurück und lächelte über diesen Laut.
Er war aus der Welt geschieden und schon auf dem Weg ins Licht; daher blieb ihm der Anblick des aus dem Turm fallenden Andrew erspart.