8

Arri hatte die Hütte den ganzen Tag über nicht mehr verlassen, nachdem ihre Mutter sie versorgt und ihr die dickere Winterbluse als Ersatz für die zerrissene Sommerbluse herausgesucht hatte. Noch lange - fast bis zum Einbruch der Dunkelheit - hatten sie in zwar unvertrauter, aber sehr wohltuender Nähe nebeneinander gesessen und geredet; nicht nur über das, was Nor von ihnen gefordert hatte, sondern auch über alles mögliche andere: über belanglose Dinge des Alltags genauso wie über weitere aufregende Geschichten aus der Welt, in der Arri zwar geboren war, die sie aber niemals kennen gelernt hatte, oder auch den alltäglichen Klatsch und Tratsch aus dem Dorf, etwas, von dem ihre Mutter stets behauptet hatte, dass es sie nicht kümmere und dass es auch unter ihrer Würde sei, sich wie ein gewöhnliches Weib aus dem Ort das Maul über alles und jeden zu zerreißen; worüber sie aber trotzdem mit großer Begeisterung sprach.

Worüber sie nicht geredet hatten, das waren auf der einen Seite Rahn und sein Verhältnis zu ihrer Mutter und auf der anderen Seite Arris Begegnung mit dem Wolf und dem unheimlichen Fremden. Was den Wolf anging, so war Arri bald zu dem Schluss gekommen, dass ihre Mutter ihr ohnehin nicht glauben würde. Die Schrammen, der einzige Beweis für ihre Begegnung mit dem Untier, waren weit weniger tief, als sie erwartet hatte; und das wohl hauptsächlich deshalb, weil der Wolf sie gar nicht richtig erwischt hatte, sondern abgerutscht war - wofür Arri ihm im Stillen dankbar war. Nein, nach einem Kampf auf Leben und Tod mit einem Raubtier sah die ungewöhnliche Wunde nicht gerade aus, und obwohl ihre Mutter es mit keiner Silbe erwähnt hatte, war Arri doch überzeugt, dass sie ihr sowieso nicht glauben, sondern allenfalls annehmen würde, ihre Tochter hätte sich diese wilde Geschichte ausgedacht, um einer Bestrafung zu entgehen.

Und was den Fremden anging... in gewissem Sinne galt dasselbe auch für ihn. Viel schlimmer aber war, dass Arri irgendwie den Zeitpunkt verpasst hatte, von ihm zu reden, vielleicht weil sie zuvor auch schon die Begegnung mit Sarn im Steinkreis verschwiegen hatte, und, wenn sie ehrlich war, allein in diesem Sommer bereits zig andere Begebenheiten, von denen sie wusste, dass ihre Mutter sie alles andere als ruhig und gelassen hinnehmen würde. Wäre sie gleich am Anfang mit der ganzen Wahrheit herausgeplatzt, hätte ihre Mutter ihr vielleicht noch geglaubt, aber nachdem bereits eine Weile verstrichen war, konnte sie gar nicht anders als annehmen, sie hätte sich diese haarsträubenden Geschichten nur ausgedacht, um von ihrem eigenen falschen Verhalten abzulenken und womöglich ihr Mitleid zu wecken. Und vielleicht war das ja noch nicht einmal verkehrt, vielleicht hatte ihr ihre Phantasie ja tatsächlich einen Streich gespielt.

Auch das war eine Möglichkeit, die Arri immer ernsthafter in Betracht zog, je weiter der Tag fortschritt und je mehr die Erinnerungen an den unheimlichen Fremden mit den sonderbaren Augen verblassten. Möglicherweise hatte sie sich diese Begegnung nur eingebildet. Sie war in Todesangst gewesen, vollkommen in Panik aufgelöst und felsenfest davon überzeugt, im nächsten Augenblick sterben zu müssen. Vielleicht war der Wolf einfach ungeschickt gewesen und hatte sich bei seinem Sprung das Genick gebrochen, und ihre außer Rand und Band geratene Phantasie hatte diesen Fremden einfach erfunden. Schließlich - Geschichten von Kindern, die in gewaltige Gefahr gerieten und im allerletzten Moment von einer geheimnisvollen Macht gerettet wurden, die wie aus dem Nichts erschien und ebenso rasch und spurlos wieder verschwand, hatte sie schon zur Genüge gehört, aber sie wusste eben auch, dass es in den meisten Fällen nur Geschichten waren. Nicht mehr.

Als sie an diesem Abend einschlief - zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit und tatsächlich zum ersten Mal in der Zeit, an die sie sich bewusst zurückerinnern konnte, nicht auf dem Lager neben, sondern in den Armen ihrer Mutter -, nahm sie sich fest vor, ihr spätestens am nächsten Morgen davon zu erzählen, und zuzugeben, warum sie bisher nichts davon gesagt hatte.

Sie tat es auch am nächsten Morgen nicht. Als sie erwachte - sehr früh, noch vor Sonnenaufgang und mit heftigen Kopfschmerzen, die wieder schlimmer geworden waren -, war sie allein. Ihre Mutter hatte die Hütte offensichtlich schon vor Tagwerden verlassen, was ungewöhnlich war; niemand ging vor Sonnenaufgang aus dem Haus, wenn es nicht wirklich einen triftigen Grund dafür gab. Arri war beunruhigt, war aber noch gleichzeitig viel zu müde, um sich tatsächlich Sorgen zu machen. Als sie später dann aufstand, kitzelte sie ein verirrter Sonnenstrahl bereits an der Nase, und sie beeilte sich, um in ihren Garten zu kommen, den sie in letzter Zeit über Gebühr vernachlässigt hatte. Sie pflanzte hier Kohl, Möhren, Erbsen und verschiedene Sorten von Bohnen und Kräutern an und kämpfte einen Kräfte zehrenden Kampf gegen das Unkraut, das vom Waldrand her alles daran setzte, um ihre Anpflanzungserfolge wieder zunichte zu machen.

Auf diese Weise verging der gesamte Tag und auch noch ein guter Teil des darauf folgenden. Ihre Mutter erwies sich als so schweigsam und wortkarg, wie Arri es gewohnt war, und sie ging auch ein paar Mal fort, ohne zu erklären, warum oder wohin, und auch, ohne auf Arris entsprechende Fragen zu antworten, die sie nach ihrer Wiederkehr stellte.

Als ihre Mutter am dritten Tag gegen Abend zurückkam - wieder einmal, ohne dass sie gesagt hatte, wohin sie ging oder warum -, stand Arri auf und eilte ihr entgegen, sobald sie ihre Schritte draußen hörte. Kurz bevor sie die Tür erreichte, blieb sie jedoch stehen, denn sie begriff, dass ihre Mutter nicht allein war. Sie konnte den vertrauten Rhythmus ihrer Schritte erkennen und ihre Stimme hören, doch dann auch noch eine zweite, männliche Stimme, und noch bevor Arri sich umdrehte und zum Guckloch zurückwich, um einem verstohlenen Blick durch das zurückgezogene Biberfell zu werfen, wusste sie, wer es war.

Und trotzdem verfinsterte sich ihr Gesicht, als sie Rahn erkannte.

Es war nicht einmal die Tatsache allein, dass ausgerechnet Rahn ihre Mutter begleitete. Niemand aus dem Dorf kam hierher, wenn er nicht ihrer Hilfe bedurfte oder es irgendeinen anderen wirklich wichtigen Grund gab, und solange sich Arri zurückerinnern konnte, war fast immer sie es gewesen, die neben ihrer Mutter den steil abfallenden Weg vom Dorf herabging. Sie verspürte ein kurzes, aber eindringliches Gefühl einer fast schon lächerlichen Eifersucht. Was ihren Zorn noch schürte und zumindest für einen Moment fast zu etwas wie Hass machte, das war die Art, auf die Rahn neben ihrer Mutter herging. Obwohl fast einen Kopf kleiner, was dem Ganzen schon wieder etwas ungewollt Komisches gab, hatte er den Arm in einer Besitz ergreifenden Geste um ihre Schulter gelegt, und die Finger seiner Hand spielten unentwegt an ihrem Oberarm. Arri konnte das Gesicht ihre Mutter nicht erkennen, aber sie konnte sich gewiss nicht vorstellen, dass ihr das gefiel oder sie es auch nur ertrug. Trotzdem machte sie keine Anstalten, Rahns Arm abzustreifen, zumindest nicht, bis sie in Arris Sichtfeld kamen.

Arri trat rasch vom Guckloch zurück, wandte sich zur Tür und bemühte sich, eine möglichst strafende Miene aufzusetzen, als sie die Schritte ihrer Mutter auf der Stiege hörte. Wenn Lea glaubte, die beiden zurückliegenden Tage hätten irgendetwas an ihrer Meinung über Rahn und das, was sie mit ihm tat, geändert, so irrte sie sich. Ganz egal was die beiden miteinander taten und warum, Arri würde diesen Dummkopf nicht willkommen heißen, nur weil es ihm gelungen war, ihre Mutter irgendwie zu verzaubern.

Lea war jedoch allein, als sie hereinkam. Mit einer unbewussten Bewegung bückte sie sich unter dem Muschelvorhang hindurch, machte einen einzelnen Schritt und blieb dann stehen, um Arri stirnrunzelnd anzublicken. »Hast du irgendetwas?«

Arri schüttelte heftig den Kopf, obwohl sie selbst nicht genau wusste, warum, und sie musste die Gedanken ihrer Mutter nicht lesen, um zu erkennen, wie wenig Glauben sie ihr schenkte. Seltsamerweise ging sie jedoch nicht weiter darauf ein, sondern setzte ihren unterbrochenen Weg fort und sagte in fast beiläufigen Ton: »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir deine Ausbildung wieder aufnehmen. Das Jagd-Ernte-Fest steht bereits vor der Tür, und danach wird es nicht mehr lange dauern, bis der erste Schnee fällt.«

Arri empfand es geradezu als boshaft, dass sie Nors Drohung benutzte, um von Rahn abzulenken. Mit einer fast zornigen Kopfbewegung trat sie an das Guckloch, durch das sie ihre Mutter und Rahn beobachtet hatte. »Du warst wieder mit ihm zusammen.«

Lea blieb abermals stehen, und als sie sich jetzt zu Arri umwandte, verdunkelte Zorn ihr Gesicht. Der scharfe Verweis, auf den Arri wartete, kam jedoch nicht. »Ja«, sagte sie nur. »Aber nicht so, wie du vielleicht glaubst.« Und wäre es so, ginge es dich nichts an. Das sprach sie zwar nicht aus, aber die Worte standen so deutlich in ihren Augen geschrieben, dass Arri sie beinahe zu hören glaubte.

Sie gemahnte sich zur Vorsicht. Ihre Mutter hatte ihr in den letzten Tagen wiederholt klargemacht, dass sie kein Kind mehr war, sondern eine Frau, aber sie kannte sie auch wahrlich gut genug, um zu wissen, dass sie sich ganz gewiss nicht irgendwelche Unverschämtheiten von ihr gefallen ließe oder auch nur etwas, das sie dafür hielt. Trotzdem fragte sie: »Was habt ihr denn dann zusammen gemacht?«

Der Zorn in den Augen ihrer Mutter wuchs noch weiter, aber sie blieb auch jetzt erstaunlich ruhig. »Ich hatte etwas mit ihm zu besprechen. Und mit Grahl. Weißt du, Arianrhod...«, seitdem ihre Tochter mit der Armwunde aus dem Wald zurückgekommen war, nannte sie sie nicht mehr Arri, sondern sprach sie mit ihrem vollen Namen an, wie um auf diese Weise deutlich zu machen, dass sie sie als ebenbürtig akzeptierte, »... in diesem Punkt hätte ich vielleicht auf dich hören sollen. Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, einen anderen Mann aus dem Dorf auszuwählen, damit er für mich arbeitet. Rahn ist ein solcher Dummkopf. Man muss ihm alles fünfmal erklären, und selbst dann macht er es wahrscheinlich noch falsch, wenn man ihm nicht unentwegt auf die Finger schaut.«

»Lenk nicht ab«, erwiderte Arri, und das war nun eindeutig zu viel, wie sie in den Augen ihrer Mutter las. Der erwartete Zornesausbruch kam zwar immer noch nicht, doch als sie antwortete, war ihre Stimme hörbar kühler und schuf eine Distanz zwischen ihnen, die Arri zwar nur zu gut kannte, von der sie aber gehofft hatte, sie endgültig überwunden zu haben.

»Ich sehe, dass du dich von deiner Armverletzung erholt hast«, sagte sie spröde. »Das ist gut. Es ist jetzt wirklich an der Zeit, deine Ausbildung fortzusetzen. Und sei dir sicher: Ab heute werde ich dir des Nachts nicht nur das Kämpfen beibringen, sondern auch das Rechnen und ein paar andere Fertigkeiten, die du dringend benötigen wirst.« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie zur rückwärtigen Wand des Zimmers, nahm das Schwert herunter und warf es Arri ansatzlos und aus dem Handgelenk zu, noch während sie sich wieder zu ihr umdrehte. Arri griff ganz instinktiv zu, und sie bekam die Waffe sogar am Griff zu fassen; allerdings durch nichts anderes als pures Glück und nicht etwa durch eigenes Geschick. Unter dem Gewicht des Schwertes taumelte sie einen Schritt zurück und fand nur mit Mühe ihr Gleichgewicht wieder.

»Was... warum hast du das getan?«

»Damit du dich schon einmal an das Gewicht gewöhnst. Bisher haben wir mit Stöcken gekämpft, aber ich finde, du bist jetzt so weit, auch damit zu üben. Freust du dich schon darauf?«

Arri antwortete gar nicht, sondern starrte ihre Mutter und das mehr als armlange, in einer geheimnisvollen Farbe schimmernde Schwert in ihrer Hand nur verständnislos an. Dieses Schwert war der größte Schatz, den ihre Mutter besaß, vielleicht das einzig wirklich Wertvolle, was sie überhaupt auf der Welt hatte. Sie hatte nie jemandem gestattet, es auch nur anzurühren. Natürlich hatte sich Arri nichts mehr gewünscht, als eines Tages dieses Schwert in der Hand zu halten und vor allem zu lernen, damit so umzugehen wie ihre Mutter, aber sie hatte es niemals auch nur gewagt, diesen Wunsch laut zu äußern. Umso überraschter war sie nun.

Aber vielleicht war sie nicht nur überrascht. Selbstverständlich hatte es ihr Freude bereitet, dass ihre Mutter ihr nicht nur ihr verborgenes Wissen um die geheimen Kräfte der Natur beibrachte, sondern sie auch lehrte, zu kämpfen und sich zu verteidigen, und das auf eine Weise, die sie noch vor wenigen Mondwenden für vollkommen unmöglich gehalten hätte. Bisher aber war es trotz allem nichts anderes als ein großes, aufregendes Spiel für sie gewesen. Trotz aller Einschärfungen ihrer Mutter, gerade das nicht zu tun, hatte sie sich selbstverständlich insgeheim an dem Gedanken erfreut, was für Gesichter die Kinder aus dem Dorf machen würden, wenn sie sie das nächste Mal verspotteten, sie einen arbeitsscheuen Nichtsnutz nannten oder gar angriffen und sie ihnen die eine oder andere unangenehme Überraschung bereiten könnte, und die schönste von all diesen Vorstellungen war selbstverständlich die gewesen, das irgendeines Tages mit Rahn zu tun.

Sie hatte auch davon geträumt, dieses Schwert zu führen, doch jetzt, als sie das überraschend große Gewicht der Waffe in der Hand spürte, war da plötzlich etwas ganz anderes. Vielleicht war es einfach die Erinnerung an das, was ihre Mutter mit diesem Schwert getan hatte. Plötzlich glaubte sie noch einmal zu sehen, wie die Klinge fast ohne Widerstand durch Krons Fleisch und Knochen schnitt und seinen Arm so sauber abrennte, wie sie selbst eine Wildblume pflücken mochte. Wenn ihre Mutter und sie miteinander kämpften, dann taten sie es mit bloßen Händen oder allenfalls mit Stöcken. Sie versuchten sich zu treffen, und mehr als einmal war aus diesem freundschaftlichen Kräftemessen beinahe Ernst geworden - und doch war es ein gewaltiger Unterschied. Ein Stockschlag tat weh und konnte üble Folgen haben, führte im Allgemeinen aber zu kaum mehr als einem blauen Fleck oder allenfalls einem gebrochenen Arm, wenn man sehr viel Pech hatte.

Diese Waffe war dagegen zum Töten da. Ihr Biss zerriss Fleisch und spaltete Knochen. Eine Waffe wie diese gegen einen Menschen zu richten, das hieß nicht, ihn zu verprügeln oder ihn mit einem geprellten Arm oder schlimmstenfalls humpelnd nach Hause zu schicken, wie sie es in ihrer Vorstellung schon zahllose Male mit Osh und den anderen Rabauken aus dem Dorf getan hatte. Dieses Schwert gegen einen Menschen zu richten bedeutete etwas Endgültiges.

»Bist du... sicher?«, fragte sie.

Ihre Mutter nickte. »Wenn du es bist.«

Arri glaubte zu spüren, dass die Antwort darauf wichtig war, und wäre sie ehrlich gewesen, hätte sie spätestens in diesem Augenblick den Kopf geschüttelt und ihrer Mutter die Waffe zurückgegeben. Aber sie hatte nicht den Mut dazu.

Schweigend reichte sie ihrer Mutter das Schwert zurück. Lea nahm die Waffe mit undeutbarem Ausdruck entgegen und zögerte, sie an ihren Platz an der Wand zurückzuhängen, als spüre sie, was in ihrer Tochter vorging. Möglicherweise hätte sie auch eine entsprechende Frage gestellt, doch in diesem Moment erklang draußen vor der Hütte ein lautstarkes Poltern und Scharren, und dann drang Rahns ungeduldige Stimme zu ihnen herein. »Le? Le - wo bleibst du?«

Arri zog fragend die Augenbrauen hoch. Le? Lea war bereits die Abkürzung von Leandriis wirklichem Namen. Wieso kürzte dieser Trottel eine Abkürzung ab?

Ihre Mutter seufzte tief. »Was für ein Dummkopf.«

»Warum gibt du dich dann mit ihm ab?« Arri wusste, dass sie sich jetzt besser mucksmäuschenstill verhalten hätte, aber sie konnte sich die Frage einfach nicht verkneifen.

Die Antwort ihrer Mutter fiel überraschend friedfertig aus. »Weil ich ihn brauche, Arianrhod. Nicht nur, um das Lager mit ihm zu teilen.«

Bedeutete dieses fast unmerkliche Zögern in ihren Worten einen versteckten Tadel? Arri wusste, dass ihre Mutter solche versteckten Hinweise liebte. »Warum?«, fragte sie.

»Weil ich ihn mit dem Wagen ins nächste Dorf schicke«, antwortete Lea. »Es sind zwei, drei Tage hin und noch einmal zwei Tage zurück, mindestens. Wenn dieser Dummkopf sich nicht verirrt, heißt das.«

»Bis zum nächsten Dorf ist es gerade mal ein knapper Tagesmarsch«, begehrte Arri auf.

»Ein Tagesmarsch, du sagst es«, bestätigte ihre Mutter. »Ein Ochsenkarren ist viel langsamer, und er kann nicht durch die Wälder fahren, sondern muss große Umwege machen...«, sie zog eine spöttische Grimasse, »... vor allem, wenn Rahn die Zügel in der Hand hält.«

Vielleicht verirrt er sich ja und kommt gar nicht zurück, dachte Arri hoffnungsvoll. Und da gab es ja auch noch die Wölfe...

Sie sprach auch diesen Gedanken nicht laut aus, aber etwas von ihren Gefühlen musste sich wohl deutlich auf ihrem Gesicht widerspiegeln, denn ihre Mutter zog missbilligend die Augenbrauen zusammen, konnte aber zugleich ein spöttisches Funkeln nicht ganz aus ihrem Blick verbannen. Bevor sie sich umdrehte und die Hütte verließ, wandte sie sich noch einmal ganz dem Schwert zu, das sie wieder an seinem angestammten Platz an der Wand befestigt hatte, und es schien Arri, als dächte sie einen Moment darüber nach, die Waffe wieder herunter- und mitzunehmen. Sie tat es nicht, aber die Bewegung war Arri nicht entgangen, so wenig, wie es ihrer Mutter entgangen sein konnte, dass sie es gemerkt hatte. Als Lea die Hütte schließlich verließ, machte Arri eine ganz instinktive Bewegung, ihr zu folgen, besann sich dann aber eines Besseren und trat wieder an das Guckloch heran, durch das sie Rahn und ihre Mutter vorhin schon beobachtet hatte.

Die beiden hatten sich wieder ein Stück von der Hütte entfernt und standen auf Armeslänge voneinander da. Sie waren nicht nahe genug und sprachen zu leise, als dass Arri hätte verstehen können, was sie redeten, doch dafür war Rahns Körpersprache umso deutlicher: Er fuchtelte unentwegt mit den Händen und hatte Schultern und Kinn kampflustig nach vorne gereckt. Ganz offensichtlich war er nicht mit dem einverstanden, was Lea von ihm verlangte. Was ihm natürlich bei ihrer Mutter nichts nutzte.

Arri sah mit stillem Vergnügen zu, wie der Fischer sich noch eine Weile wand und zierte, bis es ihrer Mutter zu bunt wurde und sie das Gespräch mit einer herrischen Geste beendete. Rahn schwieg einen Moment, dann streckte er die Hände aus, wie um sie zum Abschied noch einmal zu umarmen, doch sie wich mit einer fließenden Bewegung zurück, und Rahn ließ enttäuscht die Schultern sinken und trottete davon. Ihre Mutter blieb reglos und mit hoch erhobenen Haupt stehen und sah ihm nach, bis er am oberen Ende des Weges verschwunden war.

Sie kehrte nicht sofort zurück, sondern machte sich eine Weile irgendwo außerhalb von Arris Blickfeld zu schaffen, und als sie schließlich wieder durch den Vorhang trat, brachte sie eine hastig zusammengestellte, aber reichliche und noch dazu schmackhafte Mahlzeit aus Wildäpfeln, Windenknöterich, Bucheckern und kaltem Fleisch vom Vortag mit. So aufgewühlt, wie sie sich gefühlt hatte, hatte Arri in den zurückliegenden Tagen praktisch nichts gegessen, sodass sie sich beherrschen musste, um nicht alles gierig in sich hineinzustopfen. Sie war noch nicht ganz fertig, da sagte ihre Mutter: »Ich würde dich gern zu einem kleinen Spaziergang einladen.«

»Jetzt?« Arri ließ den halb gegessenen Apfel überrascht sinken. »Wohin gehen wir denn?«

»Ich möchte dir etwas zeigen.« Ihre Mutter wandte sich bereits zur Tür, machte dann aber noch einmal kehrt und nahm zu Arris Überraschung das Schwert wieder von der Wand. »Und das geht nur, solange es hell ist. Komm, beeil dich. Wir haben ein hübsches Stück Weg vor uns.«

Damit hatte sie keineswegs übertrieben. Sie verließen die Hütte und tauchten in das dichte Blätterdach des Waldes ein. Für eine Weile war Arri überzeugt davon, dass sie wieder zur Quelle gehen würden, damit sie ihre Ausbildung - nunmehr bei Tageslicht - fortsetzten. Sie warf dem Schwert, das ihre Mutter trotz seines Gewichts locker in der linken Hand trug, dann und wann einen schrägen Blick zu, aber sie stellte keine entsprechende Frage, schon weil es etwas viel Unangenehmeres auf der Lichtung gab, der sie sich jetzt näherten. Sie versuchte ein paar Mal unauffällig die Richtung zu wechseln, nicht viel, gerade weit genug, dass sie nicht an der Stelle vorbeikommen würden, an der der tote Wolf lag, aber ihre Mutter hielt den einmal eingeschlagenen Kurs stur bei, sodass sich Arri am Schluss insgeheim fragte, ob sie vielleicht längst um das tote Tier wusste - und um alles andere auch, was hier geschehen war.

Doch sie erlebte eine Überraschung. Als sie an der entsprechenden Stelle ankamen - Arri erkannte sie sofort an niedergetrampeltem Unterholz und geknickten Zweigen -, war der Wolf nicht mehr da. Sie konnte mit Mühe ein Aufatmen unterdrücken, doch ihre Erleichterung hielt nur einen winzigen Moment an, denn ihre Mutter blieb plötzlich stehen, wandte mit gerunzelter Stirn den Kopf zuerst nach links, dann nach rechts und ging dann langsam, aber zielsicher genau dorthin, wo der Kadaver des Wolfes gelegen hatte. Behutsam ließ sie sich in die Hocke sinken, rammte das Schwert ohne sichtbare Anstrengung fast eine Handbreit tief in den Boden, um beide Hände frei zu haben, und tastete mit den Fingerspitzen über die Stelle, an der der Wolf von dem Fremden erschlagen worden war. Sie schwieg eine ganze Weile. Schließlich hob sie die Finger der linken Hand ans Gesicht, roch daran und schüttelte kurz den Kopf, wie um sich eine in Gedanken selbst gestellte Frage zu beantworten.

»Hier hat etwas gelegen«, sagte sie, während sie sich an ihrem Schwert hochstemmte und sich zugleich schon wieder zu Arri umdrehte. »Etwas ziemlich Großes. Es ist eine Menge Blut geflossen.«

Irgendwie gelang es Arri, ihrem Blick nicht auszuweichen und auch ansonsten ein möglichst unbeteiligtes Gesicht zu machen. Nicht zu unbeteiligt, selbstverständlich. »Und?«

Lea verzog nachdenklich die Lippen. »Etwas, das ein so großes Tier schlägt, muss ziemlich gefährlich sein. Hat Rahn nicht erzählt, sie hätten die Spuren von Wölfen gefunden?«

Arri nickte hastig. »Vielleicht ist es einfach so gestorben«, sagte sie mit einer Kopfbewegung auf die Stelle hinter ihrer Mutter. Natürlich wusste sie, dass es nicht stimmte. Für einen Moment kam es ihr so vor, als wären die Umrisse des toten Wolfes mit deutlich sichtbaren Linien auf dem Boden zu erkennen. Hatte der Fremde den Kadaver weggeschafft? Wahrscheinlich nicht. Auch wenn die meisten von ihnen so klein waren, dass sie den Menschen allenfalls als Nahrung dienten und keine Gefahr darstellten, so hatte dieser Wald doch eine Menge hungriger Bewohner, für die das tote Tier ein wahres Festmahl dargestellt haben musste.

Ihrer Mutter schüttelte entschieden den Kopf. »Nein. Es ist Blut geflossen. Ziemlich viel Blut.« Einen Moment lang sah sie Arri auf eine Art an, unter der diese sich nun wirklich unbehaglich zu fühlen begann, dann aber tat sie das Ganze mit einem Schulterzucken ab, zog das Schwert wieder aus dem Boden und forderte sie mit einer entsprechenden Kopfbewegung auf, weiterzugehen. Arri atmete innerlich erleichtert auf. Sie war keine besonders begabte Lügnerin. Hätte ihre Mutter auch nur eine einzige weitere Frage gestellt, wäre sehr rasch klar geworden, was hier wirklich geschehen war.

Nach wenigen Augenblicken erreichten sie die Lichtung, aber Arris Mutter machte an der Quelle nur einen Augenblick Halt, um einen Schluck Wasser zu trinken und ihren Durst zu löschen, dann gingen sie weiter. Sie drangen auf der gegenüberliegenden Seite in den Wald ein, in die Richtung, die Arri bisher stets gemieden hatte. Ihr war nicht besonders wohl dabei, aber sie verbot sich selbst jede entsprechende Frage oder Bemerkung und schloss nur ein wenig dichter zu ihrer Mutter auf.

Auch bei Tageslicht unterschied sich dieser Wald von dem, durch den sie hierher gekommen waren. Die mächtigen Eichen und Buchen standen dichter, und das Blätterdach über ihren Köpfen war nahezu vollkommen geschlossen, was dazu führte, dass es hier spürbar kühler und dunkler war, sodass in diesem Wald eine immerwährende, graue Dämmerung herrschte. Unterholz und Gestrüpp wucherten um sie herum. An manchen Stellen hätte es kein Durchkommen gegeben, hätte ihre Mutter nicht dann und wann ihr Schwert zu Hilfe genommen - jetzt wusste Arri wenigstens, warum sie es mitgenommen hatte -, um sich einen Weg durch das braune Gestrüpp zu hacken, und auch der Boden federte nun unter ihren Schritten.

Trotz des dichten Bewuchses aus Bäumen und Gebüsch hatte Arri das Gefühl, immer tiefer in einen Sumpf hineinzugehen. Die Luft wurde nicht wärmer, aber spürbar feuchter, und ein paar Mal blieb ihre Mutter auch stehen, sah sich stirnrunzelnd und mit einem Ausdruck höchster Konzentration auf dem Gesicht um und wechselte dann scheinbar willkürlich ihren Kurs. Zwei- oder dreimal hörte es Arri in dem farbenverzehrenden Grau vor ihnen knacken und rascheln, und mindestens einmal war sie auch sicher, das Geräusch großer Pfoten zu vernehmen, die hastig davonrannten. Nichts davon schien ihre Mutter jedoch zu irritieren oder gar zu ängstigen. Sie setzte ihren Weg unbeirrt, wenn auch nicht in gerader Richtung fort.

Eine ganze Zeit lang marschierten sie auf diese Weise in so zügigem Tempo durch den Wald, wie es das unwegsame Gelände nur zuließ. Und irgendwann wurde es vor ihnen wieder hell. Lea sagte noch immer nichts, beschleunigte ihre Schritte nun aber deutlich, sodass Arri plötzlich alle Mühe hatte, überhaupt noch mit ihr mitzuhalten, und es vergingen nur mehr wenige weitere Augenblicke, bis sie helles Sonnenlicht durch die Bäume hindurchschimmern sah. Noch ein Dutzend rascher Schritte, und sie hatten den Waldrand erreicht. Arri blieb verblüfft stehen und riss die Augen auf.

Der Anblick, der sich ihr bot, kam nicht nur völlig unerwartet, er war auch geradezu phantastisch. Jenseits des Waldes ging der Boden in eine sanft gewellte, von kniehohem, saftigem Gras bewachsene Hügellandschaft über, die sich so weit zog, wie das Auge reichte. Hier und da wuchsen ein paar Bäume, manchmal einzeln, manchmal in kleinen Gruppen, von denen aber keine die Bezeichnung Wald verdient hätte, und weit im Osten konnte sie das von ewigem Weiß gekrönte Grau der Berge erkennen, die mit dem Horizont verschmolzen. Ein lauer Wind, der Arri nach der feuchten Kälte drinnen im Wald wärmer und wohltuender vorkam, als er war, wehte ihnen in die Gesichter und trug ein verwirrendes Durcheinander fremdartiger, aber fast ausnahmslos angenehmer Gerüche mit sich heran.

»Aber... was ist denn das?«, murmelte sie.

In den Augen ihre Mutter erschien ein stolzes Lächeln, als hätte sie ganz allein das hier alles erschaffen. »Das, was ich dir zeigen wollte. Aber nicht nur.«

Arri hörte den letzten Satz gar nicht. »Aber... aber wie kann das sein?«, murmelte sie erstaunt. »Alle anderen sagen doch, dass das Land auf dieser Seite des Waldes zu gefährlich ist! Sarn erzählt, hier gäbe es Ungeheuer und böse Geister.«

»Sarn«, sagte ihre Mutter betont, »ist ein Dummkopf. Allerdings... was die Geister angeht, so hat er vielleicht sogar Recht.« Ihr Lächeln wurde geradezu verschwörerisch, aber es war auch nicht zu übersehen, wie sehr sie sich amüsierte, als sie den plötzlich erschrockenen Ausdruck auf Arris Gesicht gewahrte. »Möchtest du sie sehen?«, fragte sie. Ohne Arris Antwort abzuwarten, trat sie mit einem weiteren Schritt vollends aus dem Wald heraus, hob die Hand und pfiff schrill durch die Finger.

Im allerersten Moment geschah gar nichts. Arri blinzelte ihre Mutter verwirrt an und wollte gerade dazu ansetzen, eine entsprechende Frage zu stellen, als sie etwas hörte. Das Geräusch war ganz leise; am Anfang kaum mehr als ein fernes Donnergrollen, das viel eher zu spüren als wirklich zu hören war und sich aus einer Richtung näherte, die sie nicht genau erkennen konnte. Doch es nahm rasch an Lautstärke zu, und schon bald darauf spürte Arri, dass sie sich nicht getäuscht hatte: Der Boden unter ihren Füßen zitterte tatsächlich, ganz sacht zwar nur, aber eindeutig im Rhythmus des allmählich lauter werdenden Dröhnens und Grollens. Es war, als käme etwas auf sie zu, noch unsichtbar zwar, aber rasend schnell und sehr, sehr groß.

Plötzlich war die Angst wieder da. Ihr Herz begann zu klopfen, und nur mit Mühe konnte sie das Zittern ihrer Hände unterdrücken. Sie wandte sich zu ihrer Mutter um. Auch Lea musste das Geräusch hören, aber sie wirkte nicht im Mindesten beunruhigt, sondern schien sich ganz im Gegenteil über die mittlerweile unübersehbare Furcht ihrer Tochter zu amüsieren.

»Was... was ist das?«, fragte Arri. Sie versuchte vergeblich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

Ihre Mutter hob die Hand. »Warte!«

Und dann sah Arri sie.

Das Dröhnen war mittlerweile zum Geräusch eines Wasserfalls angeschwollen, der unmittelbar hinter ihr eine hundert Mannslängen hohe Felswand hinabstürzte. Arri wich, ganz ohne es zu merken, wieder einen halben Schritt in den Wald zurück, als hinter einem der kleinen Haine eine gewaltige Masse riesiger Kreaturen auftauchte - die Ungeheuer, von denen Sarn gesprochen hatte. Es waren gewaltige, muskulöse Geschöpfe mit schwarzem, weißem und braunem Fell, muskulösen Hälsen und schrecklichen Schädeln und noch schrecklicheren Gebissen und langen Beinen, die in Hufen endeten, welche Ehrfurcht gebietend genug aussahen, um einem Menschen fast beiläufig den Schädel zu zertrümmern.

Nur, dass es keine Ungeheuer waren, sondern Pferde.

Dutzende von Pferden, wenn nicht hunderte. Wie eine einzige, gewaltige Masse schwenkten sie zu dem Waldflecken herum, obwohl Arri sicher war, dass sie ihn mit ihrer schieren Masse einfach hätten niederrennen können. Sie wurden nicht langsamer, sondern schienen im Gegenteil sogar noch an Geschwindigkeit zuzulegen, während sie sich dem Waldrand - und damit auch Arri und ihrer Mutter - näherten. Dennoch rührte sich Lea nicht von der Stelle.

»Mutter?«, fragte Arri. Sie musste fast schreien, um das Dröhnen der zahllosen Hufe zu übertönen. Dennoch schien ihre Mutter sie gehört zu haben, denn sie hob noch einmal die Hand und winkte Arri sogar zu, wieder zu ihr zurückzukommen. Arri reagierte, indem sie noch einen weiteren Schritt in den Wald zurückwich und sich nach einem Baum umsah, auf den sie sich flüchten konnte.

Die Pferde kamen unaufhaltsam näher. Erst im allerletzten Moment, als Arri schon fest davon überzeugt war, dass die Tiere ihre Mutter einfach niedertrampeln würden, wurde die Herde langsamer. Kaum noch eine Armeslänge von Lea entfernt, hielten die Tiere schnaubend und wiehernd inne. Viele von ihnen begannen unruhig auf der Stelle zu tänzeln; manche rannten aber auch sofort wieder davon oder blieben einfach stehen.

»Komm schon«, rief ihre Mutter. »Du brauchst keine Angst zu haben. Sie tun dir nichts!«

Arri machte einen zaghaften Schritt und blieb sofort wieder stehen, als eines der Pferde, ein besonders großes, beeindruckendes Tier mit einem prachtvollen Schädel und einem glänzenden Fell in der Farbe der Nacht, den Kopf wandte und mit einem leisen Schnauben in ihre Richtung sah. Lea lachte, wiederholte ihr Winken und trat gleichzeitig auf das schwarze Pferd zu. Arri riss ungläubig die Augen auf, als sie sah, wie das riesige Geschöpf den Kopf senkte und es nicht nur zuließ, dass ihre Mutter ihm Hals und Nüstern tätschelte, sondern die Berührung auch ganz offensichtlich genoss.

»Komm schon, du Hasenfuß«, sagte Lea lachend. »Das ist Nachtwind. Er wird dir nichts tun.«

»Nachtwind?«, wiederholte Arri verblüfft. »Dieses Ding hat einen Namen?«

Gerade so, als hätte es nicht nur seinen Namen, sondern auch Arris Worte verstanden, drehte das Pferd den Kopf und schien sie missbilligend aus seinen großen, erstaunlich klug wirkenden Augen anzusehen.

Ihre Mutter lachte abermals, aber in ihrer Stimme schwang auch ein sanfter Ton von Tadel mit, als sie antwortete. »Dieses Ding ist kein Ding«, sagte sie betont, »sondern ein Hengst. Er ist der Anführer der Herde und außerdem mein Freund.« Sie wedelte zum dritten Mal mit der Hand. »Komm her! Und du, Nachtwind, sag Arianrhod guten Tag. Sie ist meine Tochter, weißt du? Nimm ihr nicht übel, was sie gerade gesagt hat. Sie weiß es nicht besser, aber sie hat es bestimmt nicht böse gemeint. Sie kennt dich ja noch nicht.«

Der riesige Hengst schnaubte zustimmend, und der Ausdruck in seinen sanften braunen Augen schien plötzlich verständnisvoller zu werden.

Arri rief sich in Gedanken zur Ordnung. So sehr sie der Anblick der gewaltigen stolzen Tiere auch beeindruckte - und erst recht die selbst jetzt nur allmählich aufdämmernde Erkenntnis, dass ihre Mutter offenbar ein ganz besonderes Verhältnis zu ihnen zu haben schien - es blieben Tiere, ganz gewöhnliche Pferde.

Selbstverständlich wusste sie, was Pferde waren. Niemand im Dorf hielt sich ein Pferd, denn sie waren nicht annähernd so stark wie Ochsen, dafür aber viel anspruchsvoller und sehr viel schwieriger zu halten. Arri wusste, dass die Stuten wohlschmeckende Milch gaben und dass auch ihr Fleisch essbar war. Vor zwei Sommern hatten die Jäger ein erlegtes Pferd mitgebracht, und das ganze Dorf hatte sich daran gütlich getan - abgesehen von ihr selbst, denn ihre Mutter hatte ihr verboten, davon zu kosten. Jetzt verstand Arri auch, warum.

»Jetzt komm schon her«, sagte ihre Mutter zum wiederholten Mal, zwar immer noch lächelnd, aber dennoch in einem hörbar veränderten Tonfall, der ihre Aufforderung eher in die Nähe eines Befehles rücken ließ anstelle einer Bitte. Arri setzte sich gehorsam in Bewegung, aber ihr Herz klopfte immer heftiger, und ihre Finger begannen zu zittern, als sie auf einen auffordernden Wink ihrer Mutter hin die Hand hob, um die Nüstern des Hengstes zu streicheln. Nachtwind senkte den Kopf, um es ihr ein wenig leichter zu machen, und sie war überrascht, wie weich und warm er sich anfühlte. Sie hatte erwartet, es wäre wie bei einer Kuh, schlabberig und kalt, aber das genaue Gegenteil war der Fall.

Der Hengst ließ sie kurz gewähren, dann warf er mit einem Schnauben den Kopf in den Nacken, tänzelte ein paar Schritte zurück und sprengte davon, aber nur, um gleich darauf zurückzukommen und mit den Hufen vor ihr im Boden zu scharren.

»Du gefällst ihm«, sagte Lea. »Ich glaube, du hast einen neuen Freund gewonnen.«

Arri bedachte den Hengst mit einem schrägen Blick. Er mochte vielleicht nicht so boshaft und angriffslustig sein, wie der Anblick seines nachtschwarzen Fells und des beeindruckenden Gebisses sie glauben machte, aber er war ein Tier, und ein schrecklich starkes dazu. Ihr Freund?

Die Herde hatte sich mittlerweile zerstreut. Etliche Tiere grasten friedlich, andere tollten mit den Jungtieren herum, von denen Arri eine ganze Anzahl gewahrte, wieder andere standen einfach da und taten gar nichts; vielleicht Wächter, die nach Raubtieren Ausschau hielten, die versuchen mochten, sich im hohen Gras unbemerkt anzuschleichen. Arri sah jetzt auch, dass sie sich kräftig verschätzt hatte, was die Größe der Herde anging. Es waren vielleicht vierzig oder fünfzig Tiere, noch immer eine gewaltige Menge, die aber nicht nach hunderten zählte.

Sie drehte sich wieder zu ihrer Mutter um und wollte etwas sagen, doch da traf sie ein Stoß in den Rücken, der fast sanft war, zugleich aber so kraftvoll, dass sie haltlos zwei, drei Schritte nach vorn stolperte und nur mit Mühe und heftig rudernden Armen ihr Gleichgewicht wieder fand. Empört fuhr sie herum und wich hastig noch einen weiteren Schritt rückwärts gehend zurück, als sie sah, wem sie diesen rüden Stoß zu verdanken hatte. Das Pferd war nicht ganz so groß wie Nachtwind - aber auch nicht wirklich kleiner - und hatte ein schwarzweiß geschecktes Fell, eine lange, strahlend weiße Mähne und einen schwarzen Schweif. Noch während sich Arri völlig verdattert fragte, ob dies nun ein heimtückischer Angriff oder ein Versehen gewesen war, kam es mit zwei Schritten näher, senkte den Kopf und stupste sie mit seiner weichen Schnauze so kräftig vor die Brust, dass sie schon wieder unbeholfen nach hinten stolperte und noch heftiger mit den Armen rudern musste, um nicht zu stürzen.

»He!«, begehrte sie auf. »Was soll denn das?«

Ihre Mutter lachte schallend. »Vielleicht solltest du ihr einfach die Nüstern streicheln oder den Hals. Ich wette, dass sie dann aufhört.«

Arri warf ihrer Mutter zwar einen zweifelnden Blick zu, aber das gescheckte Ungeheuer trabte schon wieder heran, und so beeilte sie sich, ihrem Rat nachzukommen. Hastig streckte sie die Hand aus und tätschelte den schwarzweiß gefleckten Hals des Pferdes, und tatsächlich bekam sie jetzt keinen weiteren Knuff mehr. Ganz im Gegenteil schnaubte das riesige Tier vor lauter Wohlwollen. Arri fuhr zwar noch einmal zusammen, als sich der gewaltige Schädel ihrem Gesicht näherte, doch diesmal beließ es das Ungeheuer dabei, seine Nüstern kurz an ihrer Wange zu reiben; dann drehte es sich plötzlich um und lief ein paar Schritte weit davon, bis es stehen blieb und an den saftigen Grashalmen zu zupfen begann, die die Ebene bedeckten.

»Ich muss mich verbessern«, sagte Lea hinter ihr. »Ich glaube, du hast zwei neue Freunde gewonnen.«

Arri drehte sich halb zu ihr um, sah aber immer wieder zu dem schwarzweißen Schecken. Sie sagte nichts, doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht schien so komisch zu sein, dass ihre Mutter schon wieder in ein leises, spöttisches Gelächter ausbrach.

»Das ist Morgenwind«, sagte sie. »Nachtwinds Tochter.« Ohne Arris Reaktion auf ihre Eröffnung abzuwarten, drehte sie sich zu dem riesigen Hengst um, der mittlerweile wieder an ihre Seite getreten war, tätschelte mit der linken Hand seinen Hals und fuhr ihm mit der anderen fast liebkosend über die Nüstern. »Du hast deiner Tochter gesagt, wer Arianrhod ist, nicht wahr?«, fragte sie. »Das war eine gute Idee. Ich bin sicher, unsere Kinder werden genauso gute Freunde, wie wir es sind.«

Arri wusste im ersten Moment nicht, was sie sagen sollte. Sie fragte sich, ob ihre Mutter nur einen Scherz hatte machen wollen. »Du... du sprichst doch nicht etwa wirklich mit ihnen?«, murmelte sie schließlich hilflos.

»Selbstverständlich tue ich das. Und sie mit mir.«

»Du... du machst dich über mich lustig.« In Arris Stimme war sehr wenig Überzeugung, und obwohl ihre Mutter sich nun wieder zu ihr umdrehte, dauerte es eine ganze Weile, bis sie antwortete; immer noch lächelnd, nun aber mit einem sonderbaren Ernst in der Stimme. »Keineswegs. Nachtwind und die Seinen sind meine Freunde. Vielleicht die besten, die ich jemals hatte.« Sie hob rasch die Hand, als Arri etwas sagen wollte, und fuhr in verändertem Ton fort: »Ich glaube wirklich, dass sie mich verstehen. Nicht die Worte, nicht, was ich sage. Aber sie spüren, dass ich nicht ihr Feind bin, und ich spüre, dass es umgekehrt genauso ist.«

Arri sah sich abermals verwirrt um, antwortete aber trotzdem: »Es sind nur Tiere, Mutter.«

»Nur Tiere?« Lea hörte auf, Nachtwinds Hals zu streicheln, und versetzte ihm stattdessen einen Klaps mit der flachen Hand auf die Flanke. Der Hengst reagierte darauf mit einem enttäuschten Schnauben, drehte sich aber gehorsam um und rannte zu seiner Tochter. Kaum hatte er die gescheckte Stute erreicht, fielen beide in einen leichten Trab und liefen ein gutes Stück weit davon, bevor sie ausgelassen herumtollten.

»Nur Tiere«, sagte Lea noch einmal. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ja, das mag vielleicht sogar stimmen. Aber es sind ganz besondere Tiere. Nicht nur Nachtwind und seine Herde, auch wenn er gewiss ein ganz außergewöhnliches Exemplar ist. Die Menschen hier wissen nicht, was Pferde wirklich sind. Für die allermeisten sind sie nur Wild, dass sie jagen können und deren Fleisch äußerst schmackhaft ist. Einige wenige spannen sie vor Karren und halten sich auch noch für besonders schlau, weil sie diese prachtvollen Tiere eine Arbeit tun lassen, für die die Götter Ochsen und Kühe erschaffen haben.« Sie schüttelte heftig den Kopf, als versetze sie allein die Vorstellung schon in Zorn. »Sie haben ja keine Ahnung.«

»Und... was sind sie wirklich?«, fragte Arri zögernd.

Ein sonderbarer Ausdruck trat in die Augen ihre Mutter, fast so etwas wie Wehmut, vielleicht auch eine sachte Spur von Trauer. Ihre Stimme wurde leiser. »In meiner Heimat...« Sie verbesserte sich. »In unserer Heimat waren Pferde für uns etwas ganz Besonderes. Wir waren für unsere Pferde fast so berühmt wie für das Geschick unserer Seeleute und die Tüchtigkeit unserer Händler. Wir züchteten Tiere, die auf der ganzen Welt begehrt waren. Als ich so alt war wie du, Arianrhod, hat mir mein Vater mein erstes eigenes Pferd geschenkt. Es war ein Fohlen, ein Hengst wie Nachtwind, und auch ebenso schwarz. Er hat mir sein Leben lang treue Dienste geleistet, und als er schließlich starb, da war es wirklich ein Freund, der von mir ging, nicht nur ein Tier. Du wirst mich verstehen, wenn du sie erst einmal ein bisschen besser kennen gelernt hast. Ich glaube, Morgenwind mag dich. Sie ist sonst eher scheu. Ich habe fast ein Jahr gebraucht, um ihr Vertrauen zu erringen. Du kannst sehr stolz darauf sein, dass sie ganz von sich aus zu dir gekommen ist.«

Arri schwieg dazu, schon weil es gar nichts gab, was sie hätte sagen können. Sie war noch immer viel zu überrascht, um sich wirklich eine Meinung über das bilden zu können, was sie sah oder was ihre Mutter ihr erzählt hatte, aber sie musste nur einen einzigen Blick auf Leas Gesicht werfen, um zu begreifen, dass sie sich nicht etwa über sie lustig machte, sondern diese Worte bitter ernst meinte. Und irgendwie konnte sie sie auch verstehen. Nun, wo sie ihren ersten Schrecken überwunden und begriffen hatte, dass ihr von diesen Tieren keine Gefahr drohte, fiel Arri die Schönheit und Anmut dieser großen, kräftigen Geschöpfe mehr und mehr ins Auge. Längst nicht alle waren so muskulös und beeindruckend wie Nachtwind, manche sogar eher klein, nicht viel größer als Kälber, obwohl sie offensichtlich ausgewachsen waren. Doch es ging etwas von ihnen aus, das Arri zwar nicht mit Worten beschreiben konnte, das ganz zweifellos aber genau dem entsprach, was sie in der Stimme ihrer Mutter hörte und in ihrem Blick las.

»Wieso weiß niemand etwas davon?«, fragte sie verwundert.

»Weil die Menschen im Dorf ein abergläubisches Pack sind, denen man nur irgendwelche Geschichten von Geistern, zornigen Göttern und sechsköpfigen Ungeheuern erzählen muss, um ganz sicherzugehen, dass sie niemals hierher kommen werden.«

»Hast du ihnen diese Geschichten erzählt?«, fragte Arri.

»Ich?« Lea schüttelte heftig den Kopf und grinste spitzbübisch. »Warum hätte ich das tun sollen? Sie hätten mir doch sowieso nicht geglaubt. Nein, ich habe es Rahn erzählt, und er hat es Sarn erzählt, und wie es der Zufall will, hat unser geliebter Dorfältester und Schamane des Nachts sonderbare Lichter im Wald gesehen und noch sonderbarere Geräusche gehört, als er eines Tages herkam, um sich mit eigenen Augen vom Wahrheitsgehalt dieser Geschichten zu überzeugen. Nein.« Sie schüttelte noch einmal und heftiger den Kopf und fuhr dann in ernstem Ton fort: »Niemand weiß von dem hier, und das muss auch so bleiben. Wüssten diese Dummköpfe, bei denen wir leben, von Nachtwind und seiner Herde, dann würden sie ihn jagen und abschlachten, um sein Fleisch zu essen. Ich bin die Einzige, die von ihm weiß - und jetzt du.«

»Und du hast mir die ganze Zeit über nichts davon erzählt?«, fragte Arri. Sie war ein wenig enttäuscht. Ihre Mutter hatte ihr gerade ein großes Geheimnis verraten, was sicherlich ein Vertrauensbeweis war, hatte aber im gleichen Atemzug auch gesagt, dass sie dieses Geheimnis lange Zeit vor ihr verborgen gehalten hatte. Warum?

»Ich konnte dir nichts sagen, Arianrhod. Du warst ein Kind.«

»Ich hätte niemandem etwas verraten!«, begehrte Arri auf.

»Sicherlich nicht absichtlich. Aber dieses Geheimnis ist zu groß und zu wertvoll, um es mit irgendeinem anderen auf der Welt zu teilen. Du bist jetzt die Einzige außer mir, die davon weiß, und du musst mir schwören, dass du es niemandem verrätst. Es wäre ihrer aller Tod. Die Leute würden sie fangen und schlachten oder in einen Pferch sperren und sie schwere Arbeiten verrichten lassen. Nachtwind könnte so nicht leben, ebenso wenig wie du oder ich. Versprich mir, dieses Geheimnis in deinem Herzen zu bewahren.«

Arri nickte.

»Das genügt mir«, sagte Lea. Plötzlich lachte sie wieder. »Und jetzt haben wir genug der hehren Worte und gewichtigen Versprechen ausgetauscht. Lass uns den Rest Tageslicht nutzen und ein wenig mit unseren neuen Freunden spielen. Komm ich stelle dir den Rest der Herde vor.«

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