Schon sehr bald war es auch unter dem dichten Blätterdach des Waldes halbwegs hell geworden, doch dafür hatte Arris Verzweiflung eine Düsternis erreicht, die sie sich zuvor nicht einmal hatte vorstellen können. Sie hatte die Spur ihrer Mutter gefunden und wieder verloren, wieder gefunden und noch einmal verloren, und abermals gefunden, vielleicht ein halbes Dutzend Mal oder mehr, und sie war längst nicht mehr sicher, ob es tatsächlich noch die richtige Fährte war, der sie folgte, oder eine der zahllosen anderen Spuren, die sie selbst zusammen mit ihr hinterlassen hatte. Alles war falsch. Jeder Muskel in ihrem Körper tat weh, und der Wald, der bisher ein vertrauter Ort der Zuflucht für sie gewesen war, schien sich in etwas anderes verwandelt zu haben, einen düsteren Ort voller unheimlicher und bedrohlicher Dinge, die ihr Angst machten, statt ihr Schutz zu versprechen. Ihr Bein schmerzte. Jeder Atemzug, den sie nahm, wurde noch immer von einem dünnen Stich begleitet, und manchmal, wenn sie besonders tief einatmete, glaubte sie Blut zu schmecken.
Mittlerweile hatte sie die Lichtung längst hinter sich gelassen und befand sich im verbotenen Wald, in den die Spur ihrer Mutter sie geführt hatte; eine Spur, von der sie nur hoffen konnte, dass es die richtige und keine, die Tage alt war. Vielleicht war ihre Mutter ja zu den Pferden gegangen - auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, warum -, und vielleicht würde sie sie ja einholen, wenn sie nur schnell genug war. Sie musste es. Wenn nicht...
Nicht zum ersten Mal kam Arri in den Sinn, dass sie sich in Lebensgefahr befand. Es war nicht dieser Wald mit seinen unheimlichen Schatten und seinen bedrohlichen Geräuschen - das war eine Furcht, die ganz allein aus ihr selbst kam und die sie in Zaum halten konnte, wenn sie sich nur ein bisschen beherrschte. Zweifellos gab es gerade in diesem Teil des Waldes außer wilden Tieren noch eine ganze Reihe anderer Gefahren, die auf sie lauerten, aber ihre Mutter hatte ihr gezeigt, worauf sie zu achten hatte. So lange sie aufpasste, dass sie nicht in den Sumpf geriet oder gar in Treibsand oder sich an einem giftigen Busch verletzte, war sie nicht wirklich in Gefahr. Aber was, wenn sie sich geirrt hatte und ihre Mutter nicht hier war - oder sie sie einfach nicht einholen konnte?
Arri bemühte sich nach Kräften, den pochenden Schmerz in ihrem Knöchel zu missachten und so rasch auszuschreiten, wie es das dichte Unterholz und der von Wurzeln und gefährlichen Löchern und Fallgruben übersäte Boden nur zuließen, aber sie kam trotzdem nur quälend langsam von der Stelle. Wenn sie ihre Mutter nicht fand, wenn sie ihre Spur verlor oder sie sie schlicht und einfach nicht einholte, dann war sie in Schwierigkeiten; in gewaltigen Schwierigkeiten sogar. Sie konnte nicht zurück. Vielleicht würde sich Rahn wieder beruhigen, wenn sie ihm nur ein bisschen Zeit ließ, aber das kam sogar selbst Arri wie bloßes Wunschdenken vor. Und selbst wenn nicht, so würde er sie jetzt ganz bestimmt nicht mehr beschützen, und wahrscheinlicher war ohnehin, dass er auf Rache für die Demütigung sann, die sie ihm zugefügt hatte. Das Allermindeste, was sie zu gewärtigen hatte, war, dass er sie schikanieren und quälen würde, bis ihre Mutter zurückkehrte. Und an alledem war sie ganz allein schuld, und das war vielleicht das Schlimmste überhaupt.
Trotzdem musste sie jetzt vorwärts denken und nicht rückwärts, ganz wie es ihre Mutter ihr beigebracht hatte. Sie nahm sich vor, bis zur Grasebene zu gehen und sich bis dahin einfach an die Hoffnung zu klammern, dass sie ihre Mutter schon irgendwie finden würde; oder zumindest eine Spur, die deutlich genug war, um sich selbst davon zu überzeugen, dass es die richtige war, nicht nur, um daran zu glauben. Wenn sie sie dort nicht fand... Nein, Arri zog es vor, diesen Gedanken zumindest im Moment nicht weiterzuverfolgen. Löse immer ein Problem nach dem anderen, nicht alle gleichzeitig. Auch das war einer der Lieblingssprüche ihrer Mutter.
Schließlich wurde es wenigstens heller. Arri hatte längst jegliches Zeitgefühl verloren, doch sie spürte trotzdem, dass sie lange unterwegs gewesen war, viel länger als ihr recht war, und auf jeden Fall länger, als ihre Mutter gebraucht haben konnte, um hierher zu gelangen. Auf dem allerletzten Stück wurden ihre Schritte dann doch wieder langsamer, und eine ganz kurze Strecke vor dem Waldrand blieb sie beinahe stehen; vielleicht um den Moment, in dem sie sich selbst eingestehen musste, dass alles vergebens gewesen war, noch ein allerletztes Mal hinauszuzögern. Sie war so dumm gewesen. Alles, was sie erreicht hatte, war ein ebenso sinnloser wie anstrengender Marsch durch den Wald, eine gehörige Tracht Prügel, zerrissene Kleider und ein Rahn, den sie so wütend gemacht hatte, dass sie einfach nur hoffen konnte, dass er ihr nicht gleich die Kehle durchschnitt, wenn sie reumütig ins Dorf zurückkehrte.
Sie ging weiter und blieb nach nur einem einzigen Schritt schon wieder stehen, als sie das helle Lachen ihrer Mutter hörte und einen Moment später ihre Stimme, die irgendetwas rief, das sie nicht verstand. Sprach sie mit jemandem?
Arris Erleichterung hielt nicht einmal so lange vor, wie das glockenhelle Lachen ihrer Mutter brauchte, um in ihren Ohren zu verklingen. Ja, sie war jetzt ganz sicher, dass Lea mit jemandem gesprochen hatte, und das wiederum bedeutete, dass sie nicht allein war. Aber hatte sie nicht gesagt, dass sie allein reisen würde?
Irgendwie hatte Arri plötzlich das sichere Gefühl, dass ihre Mutter nicht begeistert sein würde, sie zu sehen, aber es war auch eindeutig zu spät, um jetzt umzukehren. Vorsichtig ging sie weiter, hielt unmittelbar vor dem Waldrand wieder an und ließ sich halb in die Hocke sinken, um die Deckung eines großen Farns auszunutzen, der dort wuchs.
Der Anblick, der sich ihr bot, war so verblüffend, dass sie für einen Moment mitten in der Bewegung innehielt. Sie hatte sich nicht getäuscht. Ihre Mutter stand tatsächlich nur ein kleines Stück vor ihr, kaum fünf oder vielleicht sechs Schritte entfernt. Sie sprach jetzt nicht mehr und hatte den rechten Arm halb erhoben, wie um jemandem mit einem Wink zu verstehen zu geben, dass er verschwinden sollte, aber sie drehte ihr den Rücken zu. Und sie trug nun nicht mehr den schwarzen Kapuzenumhang, sondern nur noch ihr knöchellanges Kleid, das für die Jahreszeit und vor allem die Witterung viel zu dünn war. Das Haar fiel ihr offen bis weit über die Schultern hinab und in ungebändigten Strähnen fast bis in die Mitte des Rückens, statt zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden zu sein wie am Morgen, als Arri sie das letzte Mal gesehen hatte, und auf den zweiten Blick fiel Arri auch auf, dass sie selbst ihr Schwert abgeschnallt hatte. Das war mehr als ungewöhnlich, denn ihre Mutter trennte sich nie von ihrem Schwert, so lange es nicht an seinem Platz an der Wand neben ihrem Stuhl hing.
Jetzt lehnte es zwei Schritte entfernt an einem Baum. Ihr Umhang und auch die einfachen Schnürsandalen, die sie am Morgen getragen hatte, lagen daneben im Gras. Den erstaunlichsten Anblick aber bot das klobige, vierrädrige Gefährt, das neben ihrer Mutter stand. Bei flüchtigem Hinsehen hätte man es mit dem Ochsenkarren verwechseln können, von dem Rahn vorhin gesprochen hatte, aber dieser Vergleich hätte nicht einmal einem zweiten Blick standgehalten. Der Wagen war flacher und ein Stück länger als der Ochsenkarren, der allen Dorfbewohnern gemeinsam gehörte, hatte aber höhere Seitenwände, und auch die schweren hölzernen Räder entsprangen zwar dem gleichen Grundgedanken, wirkten aber irgendwie eleganter, und vor allem - er hatte vier Räder statt der üblichen zwei. Von den beiden Ochsen, die das Gefährt ziehen sollten, war keine Spur zu sehen.
Arri stand behutsam wieder auf und versuchte noch vorsichtiger, den Farn auseinander zu biegen, um kein verräterisches Geräusch zu machen, aber sie war entweder nicht vorsichtig genug gewesen, oder die Sinne ihrer Mutter waren noch schärfer, als sie ohnehin angenommen hatte.
Vollkommen ansatzlos wirbelte Lea herum, und noch bevor sie die Bewegung ganz zu Ende gebracht hatte, wurde aus ihrem gelösten Dastehen die sprungbereite Haltung einer Raubkatze. Die Überraschung verschwand so schnell, wie sie gekommen war und machte blankem Zorn Platz. »Arri?«, murmelte sie. »Also habe ich mich doch nicht getäuscht. Du bist nachlässig. Ich habe dich gehört und deinen Schritt erkannt, da warst du noch nicht ganz aus dem Wald herausgetreten.« Ihre Stimme wurde härter. »Was hast du hier zu suchen, Arianrhod?«
Arri gab ihren ohnehin sinnlos gewordenen Versuch auf, möglichst lautlos durch den Farn zu treten, und machte einen entschlossenen Schritt ganz aus dem Wald heraus, und beinahe wäre es ihr sogar gelungen, sich selbst davon zu überzeugen, dass das Zittern ihrer Knie tatsächlich an dem anstrengenden Weg hierher lag.
»Ich habe dich gefragt, was du hier...«, setzte Lea ein weiteres Mal an und in noch schärferem Ton, brach aber dann mit einem erschrockenen Laut ab, und ihr Gesichtsausdruck änderte sich abermals und noch gründlicher, als sie sah, in welchem Zustand ihre Tochter war. Sie machte einen Schritt auf sie zu, blieb dann aber stehen und warf einen hastigen Blick über die Schulter in die Richtung, in die sie zuvor gesehen und auch gewunken hatte, dann ging sie weiter, und für einen Moment wünschte sich Arri nichts mehr, als dass sie sie einfach in die Arme schließen und festhalten würde. Aber sie kannte ihre Mutter auch gut genug, um zu wissen, dass sie es nicht tun würde.
»Was ist passiert?«, fragte Lea. »Wer hat das getan? Woher weißt du, dass ich hier bin?«
»Deine Spur«, antwortete Arri. »Ich bin einfach deiner Spur gefolgt. Es war leicht. Du warst nicht besonders vorsichtig.«
»Ist dir jemand gefolgt?« Leas Blick tastete aufmerksam über den Waldrand hinter Arri und kehrte dann wieder zu ihrem Gesicht zurück. Jetzt, nachdem ihr erster Schrecken verstrichen war, sollte sich eigentlich Sorge um sie oder doch wenigstens Erleichterung auf ihren Zügen bemerkbar machen, aber Arri suchte vergebens nach irgendeinem Anzeichen dafür. Ihre Mutter wirkte nur zutiefst verwirrt und in die Enge getrieben, fand sie.
»Was ist passiert?«, fragte Lea noch einmal. »Wer hat das getan?«
Vielleicht war das der Moment, vor dem sich Arri bisher am allermeisten gefürchtet hatte. Ihre Mutter trat mit zwei raschen Schritten ganz auf sie zu, streckte die Hand aus und fasste sie fast grob am Kinn, um ihren Kopf zur Seite zu drehen. Arri sog schmerzerfüllt die Luft zwischen den Zähnen ein, aber das schien ihre Mutter gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Sie zwang sie, den Kopf auf die andere Seite zu drehen, und musterte ihr Gesicht kritisch und aus eng zusammengekniffenen Augen.
»Jemand hat dich verprügelt«, sagte sie. »Wer?«
Arri schwieg noch immer. Es wäre so leicht, Rahn die ganze Schuld an allem zu geben. Die Geschichte, die sie sich auf dem Weg hierher zurechtgelegt hatte, klang überzeugend, gerade weil sie sich nicht allzu weit von der Wahrheit entfernte, aber sie brachte sie plötzlich nicht mehr über die Lippen. Sie verstand selbst nicht, warum. Sie hatte nicht den allermindesten Grund, Rücksicht auf Rahn zu nehmen.
»Rahn«, sagte ihre Mutter schließlich und ließ ihr Gesicht los. Sie trat einen Schritt zurück. »Habe ich Recht?«
Arri schwieg noch immer. Sie gewann ein paar Augenblicke damit, die Hand zu heben und sich übertrieben behutsam über das Kinn zu streichen, so als hätte ihr der Griff ihrer Mutter sehr viel mehr wehgetan, als er es wirklich hatte, aber sie wusste natürlich, dass sie Leas Frage auf Dauer nicht ausweichen konnte. »Ja«, sagte sie schließlich, »aber...«
»Bist du verletzt?«, unterbrach sie ihre Mutter.
»Nein«, antwortete Arri. »Jedenfalls nicht schlimm.«
»Und dir ist auch wirklich niemand gefolgt?«, wollte Lea wissen.
Arri schüttelte abermals den Kopf, und Lea fuhr auf dem Absatz herum, sagte: »Warte hier. Ich bin gleich zurück.« Sie lief mit schnellen Schritten um den Wagen herum und verschwand nur ein kleines Stück dahinter im Wald. Arri verstand nun überhaupt nichts mehr. Von allen Reaktionen ihrer Mutter, die sie vorausgesehen, erhofft oder auch befürchtet hatte, war diese die sonderbarste.
Bevor sie sich auch nur einigermaßen wieder beruhigt hatte, glaubte sie Stimmen zu hören, nicht nur die ihrer Mutter, sondern auch die von einem oder mehreren Männern. Ihre Ungeduld wuchs, und sie war drauf und dran, ihrer Neugier freien Lauf zu lassen und auf den Wald zuzueilen, verwarf diesen Gedanken aber augenblicklich wieder, als sie erst ein Rascheln hörte und dann Schritte, die direkt auf sie zuhielten. Ihre Mutter tauchte im Unterholz auf, und wenn sie im Wald mit jemandem gesprochen hatte, dann ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Im Vorbeigehen nahm sie ihr Schwert auf und band es sich um, ohne im Schritt innezuhalten. Arri war beunruhigt. Sie hatte diese einfachen Bewegungen schon so oft gesehen, dass sie für sie ebenso zur Selbstverständlichkeit geworden waren, wie sie ihrer Mutter in Fleisch und Blut übergegangen sein mussten. Und doch war mit einem Male etwas vollkommen Neues, schwer in Worte zu Fassendes, Bedrohliches daran. Zum allerersten Mal hatte sie das Gefühl, dass ihre Mutter das Schwert nicht nur um die Hüfte band, weil es auf diese Weise einfacher zu transportieren war, sondern sich zum Kampf rüstete.
»Mit wem hast du gesprochen?«, fragte sie.
»Gesprochen?«, wiederholte Lea, und diesmal hatte Arri das sichere Gefühl, dass sie es jetzt war, die diese Frage nur stellte, um Zeit zu gewinnen.
»Als ich gekommen bin«, antwortete sie. »Und gerade jetzt wieder. Du hast mit jemandem geredet.«
»Oh, das.« Lea machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe die Pferde gerufen.«
Arri trat einen halben Schritt zur Seite und sah sich mit einer fast schon übertriebenen Geste in der Runde um. Die wellige Grasebene lag vollkommen leer vor ihr. Weder von Nachtwind noch von seiner Herde war irgendetwas zu sehen, und sie hätte es auch gewusst, wären die Pferde noch vor einigen Augenblicken hier gewesen. Als sie Nachtwind das letzte Mal zusammen mit ihrer Mutter besucht hatte, hatte es Tage gedauert, bis der nicht einmal unangenehme, aber durchdringende Geruch, der den Tieren anhaftete, völlig aus ihren Kleidern und ihrem Haar verschwunden war.
»Also, was ist passiert?«, fragte Lea noch einmal, jetzt ruhiger, aber auf eine bestimmende Art, die keine Ausflüchte mehr zulassen würde. »War das Rahn? Warum?«
»Ja«, antwortete Arri. Der Blick ihrer Mutter verfinsterte sich, und Arri hörte sich beinahe zu ihrer eigenen Überraschung und sehr hastig fortfahren: »Aber es war nicht seine Schuld.«
»Nicht seine Schuld?« Leas Augenbrauen zogen sich fragend zusammen. »Was soll das heißen? Hast du ihn vielleicht darum gebeten, dich grün und blau zu schlagen?«
Arri suchte vergebens nach einer Antwort. Sie war mindestens ebenso überrascht von dem, was sie gesagt hatte, wie es ihre Mutter sein musste, und wahrscheinlich noch viel mehr. Dass ausgerechnet sie Rahn in Schutz nahm, das wäre ihr selbst noch vor einem Atemzug wie ein Ding der Unmöglichkeit vorgekommen. Schließlich sagte sie: »Es war... ich habe ihn gereizt. Ich weiß, ich hätte das nicht tun sollen. Ich war dumm. Es war meine Schuld, wirklich. Schließlich kenne ich Rahn lange genug und hätte wissen müssen, wie weit ich gehen kann.«
Vielleicht waren auch diese Worte nicht besonders klug gewählt. Lea wirkte alles andere als überzeugt, und in Arri breitete sich ein sachtes Gefühl von Panik aus, während sie sich fragte, was sie wohl antworten sollte, wenn ihre Mutter sie nach Einzelheiten fragte. Sie würde sich zweifellos sofort in Widersprüche und Ungereimtheiten verstricken.
»Und dann bist du hierher gekommen, um nach mir zu suchen?«, vergewisserte sich ihre Mutter, noch immer in gleichermaßen ungläubigem wie zweifelndem Ton. »Wieso?«
»Rahn hat mir gesagt, dass du den Ochsenkarren nicht genommen hast«, antwortete Arri. »Deshalb bin ich deiner Spur durch den Wald gefolgt.« Sie deutete auf den sonderbaren, vierrädrigen Karren. »Woher kommt dieser Wagen?«
Lea tat, als hätte sie die Frage gar nicht gehört. »Rahn ist ein verdammter Dummkopf. Ich sollte zurückgehen und ihm die Kehle durchschneiden. Was hast du getan, um ihn so wütend zu machen?«
»Wenn ich das wüsste«, antwortete Arri ausweichend. »Ein Wort hat das andere gegeben, und ich war so wütend, und...« Sie hob hilflos die Schultern.
»Und dann bist du einfach davongerannt«, vermutete ihre Mutter. Ihre Miene wurde noch finsterer. »Ich sollte dir eine gehörige Tracht Prügel verabreichen, aber das hat Rahn ja anscheinend schon erledigt...« Sie stutzte. Aus dem Ärger auf ihrem Gesicht wurde ein eher nachdenklicher, dann misstrauischer Ausdruck, während ihr Blick an Arri hinabwanderte und an einem Punkt dicht über ihren Füßen hängen blieb. Arris Blick folgte dem ihren, und sie fuhr zusammen, als ihr klar wurde, dass ihre Mutter den Riss in ihrem Rock entdeckt hatte.
»Das ist auf dem Weg hierher passiert«, sagte sie hastig und hätte sich im nächsten Moment am liebsten selbst geohrfeigt, das überhaupt gesagt zu haben. Sie hatte eine Frage beantwortet, die ihre Mutter gar nicht gestellt hatte, und damit aus einem möglicherweise einfach nur neugierigen Blick einen Verdacht gemacht, den sie ja gerade hatte zerstreuen wollen. Das Misstrauen in den Augen ihrer Mutter loderte auch prompt höher auf, und sie war sichtlich dicht davor, eine Frage zu stellen, die Arri nun vermutlich endgültig in Bedrängnis gebracht hätte. Aus ihrer unterschwelligen Panik war längst wirkliche geworden, und sie verstand sich selbst immer weniger. Wieso verteidigte sie Rahn?
Zu ihrer Erleichterung gab sich ihre Mutter jedoch mit dieser wenig überzeugenden Erklärung zufrieden, auch wenn ihre Laune eher noch tiefer zu sinken schien. »Was hast du dir nur dabei gedacht, hierher zu kommen?«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Ich bin einfach deiner Spur gefolgt, und...«
»Das meine ich nicht, und das weißt du auch ganz genau, mein liebes Kind.« Lea machte eine ärgerliche Handbewegung. »Weißt du eigentlich, dass mich deine Gedankenlosigkeit einen ganzen Tag kostet? Wie gesagt - hätte Rahn es nicht schon getan...«
»Was meinst du damit: Es kostet dich einen ganzen Tag?«, fragte Arri.
»Der Weg zurück ins Dorf«, antwortete Lea. »Bis ich wieder hier bin, ist es viel zu spät, um noch aufzubrechen.« Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ich hätte dich für klüger gehalten. Jetzt muss ich zurückgehen und noch mehr Zeit damit vergeuden, diesen Dummkopf wieder zu beruhigen.«
»Nein!«, entfuhr es Arri erschrocken.
»Was - nein?« Lea legte den Kopf schräg und sah sie aus schmaler werdenden Augen an, und Arri verspürte schon wieder das heftige Bedürfnis, sich selbst zu ohrfeigen. Es war nicht das Wort, welches das Misstrauen ihrer Mutter schürte, sondern ihr Ton.
»Ich... ich gehe nicht zurück«, antwortete sie stockend. »Das will ich nicht.«
»So, das willst du nicht«, wiederholte Lea mit sonderbarer Betonung. »Und du meinst, das wäre Grund genug für mich, meine Pläne zu ändern?«
»Ich meine: Ich... ich kann nicht zurück«, antwortete Arri hastig. »Rahn war... er war wirklich sehr wütend, und... und ich weiß nicht... ich glaube nicht, dass er sich wieder beruhigt.«
Ihre Mutter sagte einige Augenblicke lang gar nichts, aber ihr Blick tastete noch einmal und auf nun andere Weise über ihr Gesicht und ihre Arme, so als überlege sie misstrauisch, woher diese Verletzungen wohl wirklich stammen mochten.
»Ich kann nicht zurück«, sagte Arri noch einmal. »Bitte. Ich... ich will...«
»Was?«, fragte Lea.
»Ich will mit dir gehen«, stieß Arri hervor. »Ich will nicht bei Rahn und den anderen bleiben - und schon gar nicht bei Achk. Er ist ein widerlicher alter Mann, der mir Angst macht.«
»Er ist vor allem ein blinder alter Mann, der Hilfe braucht«, antwortete Lea. Es klang nicht wirklich überzeugt, sondern eher wie etwas, das sie sich zurechtgelegt hatte. »Du kannst ihn nicht einfach allein lassen.«
»Er ist auch bis jetzt ganz gut allein zurecht gekommen. Die anderen werden sich schon um ihn kümmern. Und ich... ich will nicht zurück. Lass mich mit dir gehen.«
»Das ist unmöglich«, antwortete Lea. »Es wäre viel zu gefährlich. Du...«
»Ich gehe nicht zurück«, unterbrach Arri sie. Sie schrie fast, und wäre ihre Mutter nicht ohnehin schon misstrauisch gewesen, so hätte allerspätestens der Ton, in dem sie diese Worte hervorstieß, sie es werden lassen.
»Und das ist also alles, was du zu sagen hast?«, fragte Lea kühl. »Du gehst nicht zurück?«
Arri schwieg verstockt. Sie kannte ihre Mutter wahrlich gut genug, um zu wissen, dass sie mit ihrem Schweigen alles nur noch schlimmer machte, aber das galt zumindest in diesem Augenblick auch für jedes Wort, das sie hätte anbringen können.
»Was ist wirklich geschehen?«, fragte ihre Mutter plötzlich.
Arri schwieg weiter, auch wenn sie nicht einmal selbst genau wusste, warum. Ihre Mutter konnte kaum wütender werden, als sie es ohnehin schon war, und allerspätestens nach ihrer Rückkehr ins Dorf würde sie ohnehin erfahren, was sie getan hatte, und ob das noch heute oder in etlichen Tagen geschah, machte vermutlich keinen Unterschied. Aber sie brachte es einfach nicht über die Lippen. Sie stand einfach da, starrte ihre Mutter an und war sich selbst sehr genau bewusst, dass sie sich wie ein verstocktes kleines Kind benahm, aber es half nicht.
»Wie du willst«, sagte ihre Mutter schließlich, nachdem sie eine geraume Weile ebenso vergeblich wie mit wachsender Ungeduld auf eine Antwort gewartet hatte. Sie drehte sich mit einem Ruck herum, hob im Vorbeigehen ihren Umhang und die Sandalen auf und verschwand mit schnellen Schritten im Wald.
Sie blieb nicht sehr lange fort, aber trotzdem lange genug, um Arri Zeit zu lassen, ihren Entschluss, hierher gekommen zu sein, hundertmal zu bedauern und ganz ernsthaft mit dem Gedanken zu spielen, einfach kehrtzumachen und ins Dorf zurückzulaufen, um sich Rahns Zorn zu stellen und allem anderen, was dort vielleicht noch auf sie warten würde. Hatte sie sich tatsächlich eingebildet, dass sie nur hierher zu kommen brauchte, um ihre Mutter von ihrem einmal gefassten Entschluss abzubringen? Sie sollte sie eigentlich gut genug kennen, um zu wissen, wie lächerlich diese Vorstellung war.
Vielleicht hätte sie es sogar wirklich getan, hätte der sonderbare Wagen, der unmittelbar vor ihr stand, ihre Aufmerksamkeit nicht erneut geweckt. Bisher war sie viel zu aufgeregt und zu verstört gewesen, um dem fremdartigen Gefährt mehr als einen flüchtigen Blick zu schenken - und sich vielleicht ein ganz kleines bisschen zu wundern, wo er überhaupt herkam. Auch jetzt war diese Frage von keinem wirklich großen Interesse für sie - nicht in diesem Augenblick - aber sie näherte sich ihm trotzdem und stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick über die hohe Seitenwand auf die Ladefläche zu werfen.
Überrascht runzelte sie die Stirn. Der Wagen war nicht leer, wie sie erwartet hatte. Auf der Ladefläche lagen mehrere Bündel, die ganz offensichtlich Kleider, Decken, und eine überraschend große Menge an Nahrungsmitteln enthielten. Auch wenn ihre Mutter am Morgen mit leeren Händen in den Wald gegangen war, so schien sie ihre Reise doch sorgfältig geplant und noch sorgfältiger vorbereitet zu haben. Das allein war nichts, was Arri hätte überraschen dürfen; ihre Mutter tat selten etwas ohne Grund, und noch seltener, ohne sich gut vorzubereiten, doch mit einem Male fielen ihr (neben der Kleinigkeit seiner bloßen Existenz) noch etliche andere Besonderheiten an dem Wagen auf. Obwohl er auf den ersten Blick plumper wirkte als die ganz ähnlichen Gefährte, die sie bisher gesehen hatte, wirkte er bei genauerem Hinsehen doch um einiges gefälliger.
Die einzelnen Teile waren mit großer Kunstfertigkeit gebaut und auf eine Weise zusammengefügt, die Arri noch nie gesehen hatte. Doch es war und blieb das, was sie auf der Ladefläche sah, was sie am allermeisten aufwühlte. Als sie die Schritte ihrer Mutter hinter sich hörte, drehte sie sich um und fragte: »Warum hast du ihn nicht mitgebracht?«
»Wen?«, fragte Lea.
Arri machte eine zornige Handbewegung auf den Wald hinter ihr. »Den Mann, mit dem du gesprochen hast, als ich gerade gekommen bin.«
»Ich habe mit niemandem gesprochen, und...«, begann ihre Mutter, aber Arri machte nur eine ärgerliche Geste und unterbrach sie, lauter und in fast schon vorwurfsvollem Ton.
»Das war er, nicht wahr? Der Mann, mit dem ich dich im Wald gesehen habe. Wer ist er?«
»Du hast uns...«, begann Lea, biss sich auf die Unterlippe und sah sie einen Moment lang so verstört an, als hätten sie plötzlich die Rollen getauscht, als wäre sie es, die sich verteidigen musste und Arri diejenige, die einen Grund hatte, empört zu sein. Dann aber erinnerte sie sich wieder daran, dass Arri ihre Tochter war, und aus dem Ausdruck ertappter Betroffenheit auf ihrem Gesicht wurde Zorn. »Ich wüsste nicht, was dich das anginge. Oder warum ich eine so unverschämte Frage überhaupt beantworten sollte.«
Arri entging der drohende Unterton in ihrer Stimme so wenig wie das nur noch mühsam zurückgehaltene Funkeln in ihren Augen, aber sie war so aufgebracht, so verletzt und so zornig, dass es ihr vollkommen gleich war. »Du wolltest mich nicht mitnehmen, weil du schon einen anderen Begleiter für die Reise hattest, nicht wahr?«, fragte sie. »Du hast gesagt, ich würde dich nur aufhalten, und es wäre viel zu gefährlich, aber in Wahrheit wolltest du, dass ich hier bleibe, weil du mit ihm allein sein wolltest.« Ihre Mutter setzte zu einer Antwort an, aber Arri schnitt ihr erneut und mit einer noch zornigeren Geste das Wort ab und deutete aus der gleichen Bewegung heraus auf den Wagen. »Das sind Vorräte und Decken für zwei. Du hast mich nicht zurückgelassen, weil es zu anstrengend oder zu gefährlich für mich wäre, sondern weil du mich nicht gebrauchen konntest, habe ich Recht?«
Lea starrte sie an. Sie hatte die Kiefer so fest aufeinander gepresst, dass Arri ein leises Knirschen zu hören glaubte, mit dem ihre Zähne aufeinander mahlten, und ihre rechte Hand schloss sich mit aller Kraft um den Schwertgriff. Sie sagte nichts, aber Arri spürte auch, dass das einzig und allein daran lag, dass sie in diesem Augenblick nur die Wahl hatte, überhaupt nichts zu sagen oder schlichtweg zu bersten. Aber ihr selbst erging es kaum anders. Ein Teil von ihr war fast entsetzt über den geradezu unglaublichen Ton, den sie ihrer Mutter gegenüber anschlug, und doch war es ihr zugleich nicht möglich innezuhalten. Sie war empört; empört und verletzt wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Ihre Mutter hatte sie unter einem Vorwand bei Rahn und diesem widerlichen alten Mann zurückgelassen, um ein paar Tage allein mit diesem fremden Mann zu sein. Offensichtlich war ihr das eigene Leben wichtiger als das ihrer Tochter.
Fast noch lauter und in herausforderndem, beinahe schon herrischem Ton fuhr sie fort: »Wer ist er? Kommt er aus dem Nachbardorf? Oder ist es einer von Nors Kriegern? Kenne ich ihn? Ich meine: Ist es vielleicht der, dem ich zuvor im Wald begegnet bin? Ich hoffe doch, ihr habt euch gut unterhalten, als er dir erzählt hat, dass mich der Wolf beinahe umgebracht hätte.«
Ihre Mutter sagte noch immer nichts, aber in ihrem Blick erschien plötzlich ein neuer Ausdruck, der zwischen immer noch wachsendem Zorn und Betroffenheit schwankte und dem ohnehin schalen Triumph, den Arri bei ihren eigenen Worten empfand, einen noch schlechteren Beigeschmack verlieh. Keine Überraschung. Ihre Vermutung, die ihr tatsächlich erst in genau diesem Moment gekommen war, war offensichtlich richtig: Ihre Mutter wusste von ihrer unheimlichen Begegnung im Wald und auch von dem Zwischenfall mit dem Wolf - was ihre Frage im Grunde ja schon beantwortete.
Dennoch blieb das Gefühl von gerechtem Zorn, das sie erwartete, aus. Sie war wütend, sie war verletzt und furchtbar enttäuscht, und trotzdem spürte sie zugleich, wie ungerecht das war, was sie gesagt hatte, und wie ichbezogen. Aber sie war auch zumindest jetzt einfach zu stolz, um irgendetwas davon zurückzunehmen. Es wäre auch zu spät gewesen. Ihre Mutter starrte sie noch einen Augenblick lang auf diese sonderbare Weise an, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und rannte regelrecht davon. Aber es war keine Flucht, und wenn, dann eine vor sich selbst oder dem, was sie vielleicht getan hätte, wenn sie geblieben wäre.
Arri taten ihre eigenen Worte bereits wieder Leid, und wäre ihre Mutter auch nur eine Winzigkeit langsamer gewesen, wäre sie ihr nachgelaufen oder hätte ihr zumindest etwas zugerufen. Doch so war sie schon wieder im Wald verschwunden, noch ehe Arri die Bewegung auch nur wirklich bemerkte, und zum zweiten Mal blieb sie allein und niedergeschlagen zurück. Das kurze Gefühl von Triumph, mit dem es sie erfüllt hatte, ihrer Mutter die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern, war vergangen, und zurück blieben Leere und Niedergeschlagenheit, die ihr fast die Tränen in die Augen steigen ließen.
Für einen Moment hasste sie sich beinahe selbst. Sie kam sich vor, als läge mit einem Mal ein Fluch auf ihr, der alles, was sie anfing, in einer Katastrophe enden ließ.
Vielleicht aus keinem anderen Grund als reinem Trotz drehte sie sich wieder dem Wagen zu, kletterte nach kurzem Zögern auf die Ladefläche hinauf und tat etwas, das eben noch geradezu unvorstellbar für sie gewesen wäre: Sie begann die Sachen zu durchwühlen, die ihre Mutter darauf abgeladen hatte. Bei den allermeisten handelte es sich, genau wie sie angenommen hatte, um Lebensmittel, genug für zwei Personen und mindestens acht oder zehn Tage, aber es gab auch Felle und Decken, einen Umhang, der nicht ihrer Mutter gehörte, und allerlei Dinge des täglichen Bedarfs, die sie ebenfalls noch nie in Leas Besitz gesehen hatte. Auf den ersten Blick schien nichts Außergewöhnliches daran, doch auf den zweiten war es dasselbe wie mit dem Wagen - alles war zugleich vertraut und bekannt, wie auch auf schwer in Worte zu fassende Weise fremd; als wäre der grundsätzliche Gedanke, der dahinter stand, vielleicht derselbe, die Handwerkskunst, die all diese Dinge hervorgebracht hatte, aber eine vollständig andere.
Zwei der großen Felle, die sie fand, waren seltsam - bei dem einen vermutete sie, dass es sich um das Fell eines Wolfes handelte, war aber nicht ganz sicher, das andere war ihr gänzlich unbekannt und stammte offensichtlich von einem Tier, das sie noch nie gesehen hatte. Statt wassergefüllter Schweinsblasen fand sie einen aus Leder gefertigten, prall gefüllten Wasserschlauch, dessen Nähte so fein und kunstfertig waren, dass nicht einmal ein einziger Tropfen daraus entwich, und einen wuchtigen Dolch, dessen Klinge aus Stein gefertigt war und nicht aus Bronze; sie war dennoch so scharf, dass sich Arri daran schnitt, als sie behutsam mit dem Finger darüber strich. Darüber hinaus entdeckte sie eine Kette, an der eine große Anzahl bedrohlich aussehender Raubtierzähne aufgefädelt war, und einen kleinen Lederbeutel, dem ein sonderbarer Geruch entströmte, von dem sie nicht sagen konnte, ob er nun besonders angenehm oder besonders abstoßend war. Als sie ihn öffnete und einen neugierigen Blick hinein warf, gewahrte sie jedoch nichts anderes als einige kleine Knochen und ein feines grünes Pulver, das sie lieber nicht anrühren wollte. Sorgsam knotete sie den Beutel wieder zu, legte ihn und alles andere zurück an seinen Platz und verschnürte das Bündel gerade noch rechtzeitig, bevor sie die Schritte ihrer näher kommenden Mutter hörte.
Ihre Zeit reichte nicht mehr aus, vom Wagen zu steigen, bevor Lea aus dem Wald heraustrat und sie sah, doch wenn ihre Mutter daran Anstoß nahm, so verlor sie zumindest kein Wort darüber. Schweigend wartete sie, bis Arri - sehr viel umständlicher, als sie hinaufgekommen war - wieder von dem Wagen herunterstieg und ihr entgegentrat.
»Du wirst mich begleiten«, sagte sie. »Aber glaub nicht, dass die Sache damit erledigt ist. Du kannst es mir jetzt sagen, oder ich werde nach unserer Rückkehr ins Dorf herausfinden, was wirklich vorgefallen ist.« Trotz der nun wirklich nicht mehr zu überhörenden Drohung in ihrer Stimme schnitt sie Arri mit einer zornigen Bewegung das Wort ab, als diese etwas erwidern wollte, und nahm den Umhang von den Schultern. Mit einer schwungvollen Bewegung warf sie das Kleidungsstück auf den Wagen, verfuhr auf die gleiche Weise mit ihrem Schwert und machte dann eine befehlende Geste hin zum Kutschbock. »Warte hier«, sagte sie, während sie sich bereits wieder umdrehte. »Ich bin bald zurück. Rühr dich nicht von der Stelle.«
Zum dritten Mal binnen kurzer Zeit verschwand ihre Mutter im Unterholz und kehrte diesmal schon nach wenigen Augenblicken zurück, war jedoch nicht mehr allein. Arri wandte sich erwartungsvoll zum Waldrand um, als sie das Geräusch schwerer Schritte und das Brechen von Zweigen hörte, doch sie erlebte eine Überraschung: Als ihre Mutter aus den Schatten des Waldes heraustrat, tat sie es nicht in Begleitung des schwarzhaarigen Fremden, wie Arri erwartet hatte. Stattdessen hielt sie in jeder Hand einen Strick, den sie um Hals und Kopf zweier Pferde gebunden hatte. Arri riss erstaunt die Augen auf, als sie sah, wie friedlich und gehorsam diese riesigen, starken Tiere hinter ihrer Mutter hertrotteten; und ein einziger Blick genügte, um ihr klarzumachen, dass die beiden Pferde durchaus gewohnt waren, am Zügel geführt zu werden. Anscheinend gab es da doch noch das eine oder andere, was ihre Mutter ihr nicht erzählt hatte. Von dem Mann, auf den Arri wartete, war keine Spur zu sehen, und als sie zur Seite trat, um ihrer Mutter Platz zu machen und lauschte, hörte sie auch keine Schritte.
»Hilf mir«, befahl Lea unwirsch.
Arri beeilte sich, an ihre Seite zu treten, und ihre Mutter drückte ihr wortlos den Strick eines der beiden Pferde in die Hand. Arri griff gehorsam zu, tat dann aber einen erschrockenen Satz zurück, als das Pferd den Kopf in den Nacken warf und ein unwilliges Schnauben ausstieß.
»Halt den Zügel ruhig«, sagte Lea scharf. »Es tut ihm nichts, solange du es nicht erschreckst.«
Arri hatte rein gar nichts anderes getan, als einfach nur den Strick festzuhalten, aber sie schluckte die Antwort, die ihr auf der Zunge lag, vorsichtshalber herunter. Das Tier scheute noch einmal und sogar noch heftiger, beruhigte sich dann aber binnen eines einzigen Augenblicks und begann an dem saftigen Gras zu seinen Füßen zu zupfen, als wäre nichts geschehen. Arri hielt den Strick gehorsam fest, wich aber trotzdem so weit an sein Ende zurück, wie es nur ging, und beäugte das Tier weiter misstrauisch aus den Augenwinkeln. Sie war verwirrt, auch wenn sie schon mehrmals zusammen mit ihrer Mutter hier gewesen war, um Nachtwind und seine Herde zu besuchen oder auch mit den Tieren zu spielen, was ihr allerdings nur mit sehr wenigen wirklich gelungen war. Die allermeisten zeigten zwar keine wirkliche Angst, wohl aber so etwas wie eine natürliche Scheu vor Menschen und erlaubten es nicht, ihnen wirklich nahe zu kommen oder sie gar anzufassen.
Dieses Tier hier war anders; ebenso wie das zweite, das ihre Mutter nun am Zügel zum vorderen Ende des Wagens führte, schien es die Nähe von Menschen durchaus gewohnt zu sein und sie auch zu akzeptieren. Arri war plötzlich sicher, diese beiden Pferde noch nie bei Nachtwinds Herde gesehen zu haben. Jetzt fiel ihr auch auf, dass auf den Rücken der beiden Tiere große Felle lagen, deren Zweck ihr nicht klar war. Neugierig und mit wachsendem Staunen sah sie zu, wie ihre Mutter das Pferd mit einem zwar aus groben Stricken, dennoch aber kunstvoll geflochtenen Geschirr an den Wagen anspannte. Arri hätte erwartet, dass es sich sträubte, doch es schien überhaupt nichts dagegen zu haben und fing ganz im Gegenteil friedlich und scheinbar vollkommen gleichmütig an zu grasen, während ihre Mutter noch damit beschäftigt war, die Leinen und Stricke festzuknoten.
Als sie fertig war, gebot sie Arri mit einer wortlosen Geste, das andere Tier herbeizubringen. Arri gehorchte und sah weiter zu, wie ihre Mutter die Prozedur wiederholte und ihr Werk anschließend kritisch begutachtete, so als wüsste sie zwar, was sie tat, hätte aber nicht allzu viel Übung darin, sodass sie es vorzog, ihre eigene Arbeit noch einmal zu kontrollieren. Auch eine Konstruktion wie diese hatte Arri noch nie zuvor gesehen. Im Grunde ähnelte sie der Deichsel, mit der auch die Ochsen vor den Karren gespannt wurden, hatte aber kein Joch, sondern nur eine große Schlaufe, die über Hals und Brust der Pferde gelegt wurde und zusätzlich mit weichen Blättern umwickelt war, vermutlich, damit sich die Tiere nicht wund scheuerten.
»Woher kommen diese Pferde?«, fragte sie.
Ihre Mutter sah nicht einmal in ihre Richtung, geschweige denn, dass sie geantwortet hätte, sondern fuhr wortlos fort, das Geschirr zu überprüfen.
»Sie gehören nicht zu Nachtwind und seiner Herde, habe ich Recht?«, bohrte Arri weiter. Auch jetzt schien es im allerersten Moment so, als wolle Lea einfach nur weiter beharrlich schweigen, dann aber deutete sie zumindest ein Kopfschütteln an und rang sich zu einem einsilbigen »Nein« durch.
»Dann gibt es noch mehr als diese eine Herde?«, fragte sie.
Ihre Mutter war endlich fertig damit, den festen Sitz des Geschirrs zu überprüfen. Sie ging in weitem Bogen um den Wagen herum, tätschelte im Vorbeigehen die Nüstern eines der Tiere, was dieses mit einem zufriedenen Schnauben quittierte, und stieg dann mit einer raschen Bewegung auf die schmale Sitzbank am vorderen Ende des Gefährts. »Sie gehören Dragosz«, antwortete sie mit einiger Verspätung und in unwilligem Ton auf Arris Frage. Zugleich machte sie eine knappe Handbewegung auf den freien Platz neben sich.
»Dragosz?«, wiederholte Arri, während sie gehorsam zu ihrer Mutter hinaufkletterte. Immerhin wusste sie jetzt schon seinen Namen. Er klang sonderbar, fand sie. Ganz anders als die Namen der Männer aus dem Dorf. Aber wenn sie versuchte, sich an sein Gesicht zu erinnern, dann musste sie zugeben, dass er auch irgendwie sonderbar ausgesehen hatte, wenngleich sie nicht in der Lage war, diesen Unterschied genau in Worte zu fassen.
»Und wer ist er?«, fragte sie.
Ihre Mutter warf einen langen, aufmerksamen Blick in die Runde, vielleicht, weil sie sich überzeugen wollte, dass sie nichts vergessen oder zurückgelassen hatte, eher aber wohl, weil sie nach jemand ganz Bestimmten Ausschau hielt... Arris Augen schweiften aufmerksam über das nahe Unterholz, und dann setzte sich der Wagen auch schon mit einem sanften Ruck in Bewegung und riss sie aus ihren aufgewühlten Gedanken.
»Jemand, den du nicht kennst. Und den du auch nicht kennen gelernt hättest, wenn es nach mir ginge. Wenigstens jetzt noch nicht.«
»Aber...«, begann Arri, aber Lea unterbrach sie sofort und in unwilligem Ton. »Schweig jetzt«, sagte sie. »Ich will jetzt nicht reden. Wir haben noch Zeit genug dazu. Wir haben einen langen Weg vor uns.«