Und dann schien plötzlich alles gleichzeitig zu geschehen. Arri fuhr herum. Runa prallte einen Schritt zurück und zur Seite, um der zupackenden Hand auszuweichen, mit der der Mann unversehens nach ihr griff, aus dem drohenden Knurren des Wolfes wurde etwas anderes, und das Tier stieß sich ansatzlos aus dem Stand ab und sprang mit geöffneten Fängen nach dem ausgestreckten Arm, der nach Runa grabschte. Hätten sich seine gewaltigen Kiefer um das Handgelenk des Mannes geschlossen, hätten sie ihm die Hand vermutlich einfach abgebissen.
Aber er erreichte sein Ziel nicht. Auch der andere Arm des Mannes kam plötzlich hoch, und seine Hand war nicht mehr leer, sondern hielt einen faustgroßen, glatten Stein umklammert, den er unter dem Umhang verborgen getragen haben musste und den er nun mit aller Kraft auf den Schädel des Wolfes herunterkrachen ließ.
Den Bruchteil eines Atemzuges, bevor sich die Fänge des Raubtiers in sein Fleisch rammen konnten, zerschmetterte der Stein dessen Schädel, und noch bevor der Wolf zuckend ins nasse Gras fiel, beendete die andere Hand des Mannes ihre Bewegung und riss das Mädchen von den Füßen. Runa fiel keuchend zu Boden. Arri hörte etwas hinter sich rascheln, deutete eine Bewegung nach rechts an und warf sich dann blitzartig nach links. Es gelang. Die zupackende Hand verfehlte sie so knapp, dass die Fingernägel des Mannes ihre Bluse zerrissen und eine brennende Spur auf ihrer Haut hinterließen, aber sie verfehlte sie; statt sie herumzureißen und festzuhalten, brachte sie sie nur zum Straucheln.
Arri kämpfte mit wild rudernden Armen um ihr Gleichgewicht, spürte, dass sie diesen Kampf so oder so verlieren würde, und warf sich stattdessen mit ausgestreckten Armen nach vorn. Etwas zischte so dicht über ihrem Hinterkopf entlang, dass sie den Luftzug spüren konnte. Vielleicht die Faust des Angreifers, vielleicht auch seine Waffe, mit der er nach ihr schlug, dann prallte sie auf und schlidderte ein gutes Stück weit über das nasse Gras davon. Noch ehe sie ganz zur Ruhe gekommen war, warf sie sich instinktiv herum und versuchte den Schwung ihrer eigenen Bewegung zu nutzen, um auf die Füße zu kommen, was ihr nicht gelang. Statt hochzuspringen, kippte sie gleich wieder nach hinten und schlug der Länge nach hin, entging auf diese Weise aber einem stampfenden Fußtritt, mit dem Nors Krieger ihren Kopf in den Boden zu rammen versuchte. Er meinte es wirklich ernst.
Sie rollte sich über die Schulter ab, genau wie es ihre Mutter ihr gezeigt hatte, sah einen weiteren gemeinen Fußtritt auf sich zukommen und riss unwillkürlich beide Arme vors Gesicht. Diesmal konnte sie dem Tritt nicht mehr ausweichen, aber sie hatte aus der Beinahe-Katastrophe mit Rahn gelernt. Statt den Tritt einfach nur abzufangen, was ihr möglicherweise die Handgelenke gebrochen hätte, ließ sie sich unter der brutalen Wucht des Angriffs zwar nach hinten kippen, packte aber auch gleichzeitig mit beiden Händen das Fußgelenk des Mannes und nutzte seine eigene Kraft, um ihn mit einem harten Ruck aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ihr Gegner keuchte vor Überraschung, tanzte einen Moment lang geradezu komisch auf einem Bein herum und stürzte schließlich nach hinten.
Arri bemerkte aus den Augenwinkeln, dass sich der zweite Mann auf Runa gestürzt hatte und den Stein, mit dem er den Wolf erschlagen hatte, nun nach ihrem Gesicht schwang. Im letzten Moment warf Runa den Kopf zur Seite, riss gleichzeitig das Knie in die Höhe und zerkratzte dem Krieger mit den Fingernägeln beider Hände das Gesicht. Der Mann grunzte vor Wut und Schmerz und schlug mit umso größerer Wucht zu, aber sein Hieb ging fehl; der Stein grub sich mit einem dumpfen Laut nur einen Fingerbreit neben Runas Kopf in den Boden, und bevor er zu einem zweiten Hieb ausholen konnte, sprang Arri auf die Füße und rammte ihm die Schulter in den Rücken.
Das Ergebnis war nicht so beeindruckend, wie sie es sich gewünscht hätte, aber es reichte: Der Angreifer kippte mit einem überraschten Laut von Runa herunter, und das Mädchen half noch ein wenig nach, indem es ein zweites Mal mit dem Knie zustieß. Diesmal traf sie. Aus dem wütenden Schnauben des Kriegers wurde ein atemloses Keuchen, und er krümmte sich am Boden.
Arri streckte hastig die Hand aus, um Runa auf die Füße zu helfen; das Mädchen versuchte, danach zu greifen, und erstarrte dann mitten in der Bewegung. Ihre Augen wurden groß. Vielleicht war es tatsächlich eine Spiegelung auf ihren Augäpfeln, vielleicht hörte Arri auch ein verräterisches Geräusch - oder es war einfach nur Glück. Im allerletzten Moment ließ sie sich auf das rechte Knie fallen, krümmte den Rücken und spannte sämtliche Muskeln. Diesmal war das Ergebnis beeindruckend: Der Mann prallte in vollem Lauf und mit solcher Wucht gegen sie, dass ihr die Luft aus den Lungen getrieben wurde, als sie zu Boden fiel; der Angreifer aber verlor plötzlich den Boden unter den Füßen und segelte in hohem Bogen durch die Luft; und um das Maß voll zu machen, prallte er gegen seinen Kameraden, der sich in diesem Augenblick mit schmerzverzerrtem Gesicht hochzustemmen versuchte. Die Folge war ein zweizüngiger Schmerzensschrei und ein wahres Gewirr von ineinander verstrickten Gliedmaßen und Leibern.
Arri versuchte zu atmen. Sie konnte es nicht. Ihre Rippen fühlten sich an, als wären sie in unzählige kleine Stücke zersprungen - und zwar jede einzelne -, und jeder Atemzug schien zwar keine Luft, dafür aber flüssiges Feuer in ihre Lungen zu treiben. Dennoch sprang sie auf die Füße, griff nach Runas Arm und riss sie in die Höhe.
»Weg!«, keuchte sie; womit sie nicht nur ihren allerletzten Atem verschwendete, sondern auch einen weiß glühenden Schmerzpfeil tief in ihren Brustkorb hineinjagte. Für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen, und es war Runa, die sie am Arm ergriff und herumzerrte, nicht umgekehrt.
Schmerzgepeinigt und mit zusammengebissenen Zähnen torkelte sie los. Hinter ihnen randalierten die beiden Männer mittlerweile laut genug, dass man sie eigentlich noch auf der anderen Seite des Tales hören musste - zumindest ihre Mutter und Dragosz mussten sie doch einfach hören! -, und Arri verlor für einen Moment vollends die Orientierung. Sie konnte immerhin wieder atmen, auch wenn sie ganz und gar nicht sicher war, dass das wirklich eine Gnade war, und auch ihr Blick klärte sich langsam wieder. Obwohl sie in dieser Umgebung vollkommen fremd war, war sie doch ziemlich sicher, dass sie sich vom Haus entfernten, statt in die einzige Richtung zu laufen, in der sie Hilfe erwarten konnten.
»Wohin...«, stieß sie atemlos hervor.
»Lauf!«, unterbrach sie Runa. Gleichzeitig beschleunigte sie ihre Schritte noch mehr, sodass Arri einen Moment ernsthaft fürchtete, das Gleichgewicht zu verlieren, bevor es ihr gelang, ihren Rhythmus dem des Mädchens anzupassen. Hinter ihnen wurden die wütenden Stimmen der beiden Männer noch lauter, und dann hörten sie das Stampfen schwerer Schritte, die in erschreckender Schnelligkeit näher kamen. Wo war ihre Mutter?
Der Boden, über den sie rannten, veränderte sich plötzlich und war jetzt nicht mehr nass und kalt und rutschig, sondern mit scharfkantigen Steinen übersät, und Arri begriff gerade noch rechtzeitig, was Runa mit »Pass auf!«, meinte, um den Kopf einzuziehen, als es rings um sie herum schlagartig noch dunkler wurde. Sie berührte ihn nicht, aber sie streifte den harten Fels, der einen Fingerbreit über ihrem Hinterkopf entlangstrich. Sie befanden sich in einer Höhle. Das musste die Mine sein, von der Runa gesprochen hatte. »Wohin laufen wir?«, keuchte sie dennoch.
»Nicht so laut!«, gab Runa gehetzt zurück. »Die Mine. Wir verstecken uns in den Stollen. Da finden die uns nie!«
Das Geräusch näher kommender, stampfender Schritte schien das genaue Gegenteil zu beweisen, aber nur einen Augenblick später verkündeten ein dumpfer Schlag, ein schmerzerfülltes Keuchen und ein zweiter, schwerer Aufprall, dass zumindest einer ihrer Verfolger den Kopf nicht schnell genug eingezogen hatte. Arri verzog die Lippen zu einem dünnen, schadenfrohen Grinsen, aber sie machte sich nichts vor: Wenn der Kerl nicht so freundlich gewesen war, sich tatsächlich den Schädel einzurennen, würde er jetzt nur noch wütender sein.
Sie stolperten noch ein paar Schritte durch vollkommene Dunkelheit, dann gewahrte Arri einen braunroten, matten Schimmer irgendwo vor sich; kaum mehr als ein Hauch, den sie unter gewöhnlichen Umständen nicht einmal wahrgenommen hätte. Jetzt schien dieses Licht die Rettung zu bedeuten, denn wo Licht war, da waren im Allgemeinen auch Menschen. Noch ein paar Schritte, und sie wären gerettet.
Trotzdem machte ihr Herz einen erschrockenen Satz in ihrer Brust, als sie sah, wie niedrig der Gang tatsächlich war, durch den sie hetzten - und dann einen zweiten und noch heftigeren, als sie die gefährlichen Felszacken und -spitzen erkannte, die in unregelmäßigen Abständen aus der Decke herauswuchsen. Runa wich diesen Hindernissen mit schlafwandlerischer Sicherheit aus, aber sie selbst hatte schließlich nicht ihr ganzes Leben hier unten verbracht, und sie verfügte auch nicht über den unterirdischen Orientierungssinn eines Maulwurfs. Ein einziger falscher Schritt, und es wäre um sie geschehen.
Wenn sie sich nicht selbst umbrachte, indem sie gegen eines dieser Hindernisse lief, würden ihre Verfolger sie unweigerlich einholen, sollte sie auch nur ein einziges Mal ins Stolpern geraten oder gar fallen. Ihr einziger Trumpf war die Enge des Stollens. Selbst Runa und sie konnten sich nur gebückt darin bewegen - für die beiden groß gewachsenen Fremden musste es nahezu unmöglich sein, anders als auf allen vieren von der Stelle zu kommen. Dass sie es trotzdem taten, bewies das hastige Scharren und Poltern hinter ihnen; es kam nicht wirklich näher, aber es kam Arri eindeutig so vor.
Runa ließ endlich ihre Hand los, lief aber nur noch schneller und winkte sie mit beiden Armen zu sich herüber. Arri versuchte ihrer Aufforderung zu folgen, allerdings mit dem einzigen Ergebnis, dass sie nun endgültig ins Stolpern geriet und auf Hände und Knie herunterfiel. Sofort rappelte sie sich auf und griff nach Runas Hand, die sie gleich wieder mit sich zog. Das rotbraune Licht war mittlerweile stärker geworden; nicht viel, nicht, dass es wirklich die Bezeichnung Helligkeit verdient hätte, doch es reichte immerhin aus, um Arri erkennen zu lassen, dass der Stollen vor ihnen womöglich noch tiefer und schmaler wurde. Waren die Wände am Anfang der Strecke noch einigermaßen behauen und glatt gewesen, so sah der Tunnel nun vollends aus wie eine auf willkürliche Weise entstandene Höhle, und auch die Decke senkte sich mehr und mehr herab, sodass Runa und sie schließlich auf Händen und Knien - und auf dem letzten Stück sogar auf dem Bauch - kriechen mussten.
Doch gerade als der Punkt erreicht war, an dem sich Arri eingestand, dass sie ganz eindeutig an Platzangst litt, wichen Wände und Decke wieder zurück, und sie fanden sich fast unversehens in einer acht oder zehn Schritte messenden, unregelmäßig geformten Höhle wieder, deren Decke hoch genug war, um gebückt darin zu stehen. Runa ließ ihr jedoch nicht einmal die Zeit, um sich ganz aufzurichten, sondern packte sie unverzüglich wieder am Arm und zerrte sie grob auf ein finsteres Loch zu, das an der gegenüberliegenden Wand der Höhle im Boden gähnte.
Das obere Ende einer grob zusammengezimmerten Leiter ragte daraus hervor, und erst jetzt sah Arri, dass diese Öffnung auch die Quelle des blassroten, flackernden Lichtes war, das die Höhle erfüllte und sie mit seinem unheimlichen Spiel von braunen Schatten zu etwas Angstmachendem werden ließ. Ein sonderbarer, ebenso fremdartiger wie unangenehmer Geruch drang aus der Tiefe zu ihnen empor, und nachdem Runa sich ohne zu zögern auf die Leiter geschwungen hatte und mit erstaunlichem Geschick und noch erstaunlicherer Schnelligkeit nach unten zu steigen begann und Arri sich vorbeugte, um ihr nachzusehen, wurde ihr fast auf der Stelle schwindelig. Sie konnte nicht sagen, wie tief der Schacht war, aber er war auf jeden Fall sehr tief.
Doch sie hatte keine Wahl. Hinter ihr kamen die Schritte und die schnaubenden Atemzüge der Verfolger näher, und auch wenn sie vermutlich noch weiter entfernt waren, als ihre eigene Angst sie glauben machen wollte, waren sie trotzdem bereits nahe. Sie warf einen letzten, zögernden Blick über die Schulter zurück, dann griff sie entschlossen nach der Leiter, tastete mit dem Fuß nach der obersten Sprosse und hätte um ein Haar das Bein mit einem erschrockenen Laut zurückgezogen, als sie spürte, wie das gesamte Gebilde unter ihrem Gewicht zu wanken begann. Aber sie hatte keine Wahl. Hier bleiben konnte sie nicht. Irgendetwas sagte ihr, dass ein Sturz in die Tiefe - und sei er tödlich - der Möglichkeit, diesen beiden Männern in die Hände zu fallen, allemal vorzuziehen war.
Runa hatte fast die Hälfte der Entfernung nach unten überwunden, und auch die Geräusche der Verfolger waren nun hörbar näher gekommen, bis Arri genug Mut zusammengekratzt hatte, um ein zweites Mal nach der Leiter zu greifen und einen Fuß auf die oberste Sprosse zu setzen. Was sie schon einmal erlebt hatte, wiederholte sich, und ihre schwache Hoffnung, es wäre nur Einbildung gewesen, erwies sich als falsch: Die mit Lederriemen festgebundene Sprosse ächzte hörbar unter ihrem Gewicht, und sie konnte spüren, wie die gesamte Leiter bebte und einen Moment später ein bedrohliches, tiefes Knarren und Ächzen ausstieß. Aber sie ging über ihre Furcht kurzerhand hinweg, tastete mit dem anderen Fuß nach der zweiten Stufe und kletterte dann Hand über Hand in die Tiefe.
Runa erreichte den Boden des scheinbar nicht enden wollenden Schachtes zwar ein gutes Stück vor ihr, aber Arri hatte dennoch aufgeholt. Ihr Abstand betrug allenfalls noch fünf oder sechs Stufen, und sie war beinahe selbst erstaunt, mit welcher Schnelligkeit und Sicherheit sie die letzten Leitersprossen überwunden hatte. Dennoch zitterten ihre Knie so stark, dass sie sich für einen Moment gegen die hölzerne Konstruktion lehnen musste, um wieder zu Kräften zu kommen. Der sonderbare Geruch, den sie oben wahrgenommen hatte, war mittlerweile zu etwas geworden, das stark genug war, ihr fast den Atem zu nehmen. Vielleicht war es nicht einmal der Geruch. Runa drehte sich zwar ungeduldig zu ihr um und winkte fast verzweifelt mit beiden Händen, aber Arri blieb trotzdem noch einige schwere Herzschläge länger an die Leiter gelehnt stehen und sah sich um.
Sie befanden sich in einem Raum, der sich kaum von dem unterschied, in dem der Schacht seinen Anfang genommen hatte, nur dass es hier gleich vier Ausgänge gab: zwei nicht ganz mannshohe, aber schmale Stollen, die schon nach zwei Schritten in vollkommener Dunkelheit endeten, und zwei weitere, wesentlich niedrigere Gänge, von denen einer so eng war, dass schon der Gedanke, sich dort hineinzuquetschen, Arri einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ.
Selbstverständlich war es auch der, auf den Runa deutete.
»Das... das kann ich nicht«, flüsterte Arri. Schon der Anblick des - wie es ihr vorkam - kaum handbreiten Risses im Fels schnürte ihr schier die Kehle zu. Sie hatte enge Räume nie gemocht, war aber im Grunde auch noch nie wirklich in die Verlegenheit gekommen, sich in einem solchen aufzuhalten, aber plötzlich wurde ihr klar, dass ihr allein der Gedanke, in einem Raum eingesperrt zu sein, in dem sie kaum die Hände, geschweige denn Arme und Beine bewegen konnte, panische Angst einflößte. Sie schüttelte noch einmal und heftiger den Kopf, doch Runa war ganz offensichtlich nicht gewillt, irgendeine Rücksicht darauf zu nehmen.
Sie warf einen raschen Blick an Arri vorbei zum oberen Ende der Leiter, dann zuckte sie mit den Schultern und drehte sich aus der gleichen Bewegung heraus um. »Du kannst ja hier bleiben«, sagte sie, ließ sich auf Hände und Knie hinabsinken und kroch dann, ohne auch nur einen Atemzug länger zu zögern, in den schmalen Felsspalt hinein.
Es wurde noch dunkler, denn ein gut Teil des blassen Lichtes, das die Höhle erhellte, war aus diesem Spalt gekommen; der andere stammte von einer nahezu heruntergebrannten Fackel, die in einer kupfernen Halterung steckte, welche jemand in die Wand getrieben hatte. Es vergingen nur wenige Augenblicke, bis nicht nur Runas Körper und Beine, sondern schließlich auch ihre Füße in dem niedrigen Stollen verschwunden waren, und nur noch ein winziger weiterer, bis Arri feststellte, dass es durchaus ein Gefühl gab, das schlimmer war als das, in einem engen Raum eingesperrt zu sein: nämlich das, vollkommen allein zu sein.
Panik drohte sie zu übermannen. Gerade noch war ihre Angst vor dem schmalen Stollen so groß gewesen, dass sie es allen Ernstes vorgezogen hätte, hier zu bleiben und darauf zu hoffen, dass vielleicht alles doch nur ein Missverständnis gewesen war und die beiden Männer tatsächlich nur mit ihr reden wollten (was für ein Unsinn!), doch dann begann die Leiter, an der sie noch immer lehnte, unter dem Gewicht des ersten Verfolgers zu erzittern, und Arri musste nicht nach oben sehen, um zu begreifen, dass sie ungleich schneller herabstiegen, als sie es getan hatte. Angst oder nicht - sie stieß sich von ihrem Halt ab, ließ sich auf die Knie fallen und kroch mit angehaltenem Atem hinter Runa in den Tunnel hinein.
Es war nicht so schlimm, wie sie erwartet hatte. Es war schlimmer. Wände und Decke waren so niedrig und eng, dass sie fast auf dem Bauch kriechen musste und ihre Schultern rechts und links am rauen Fels entlangschrammten. Die Luft schien schlagartig schlechter zu werden, kaum dass sie in den schmalen Spalt eingedrungen war, und obwohl vor ihr ein blassrotes Licht flackerte, hatte sie zugleich das Gefühl, in eine allumfassende, erstickende Schwärze gehüllt zu sein. Der unangenehme Geruch, den sie schon vorhin wahrgenommen hatte, wurde schier übermächtig, und schon nach den ersten Atemzügen spürte sie, wie die Luft in ihrer Kehle brannte und ihr schwindelig wurde. Vielleicht würde sie in diesem engen Schacht, tief unter der Erde, nicht zerquetscht werden, wie ihr ihre immer noch außer Rand und Band geratene Phantasie vorzugaukeln versuchte, aber es bestand durchaus die Gefahr, dass sie einfach erstickte.
Gerade als sie tatsächlich glaubte, ersticken zu müssen, wurde es vor ihr wieder heller - nicht, weil sie der Quelle des Lichts wirklich näher gekommen wäre, sondern weil plötzlich etwas nicht mehr da war, das es bisher blockiert hatte -, und dann griff eine schmale, aber überraschend kräftige Hand nach ihrem Arm und zerrte sie kurzerhand das letzte Stück über den rauen Boden. Endlich wichen Wände und Decke wieder zurück, und endlich hatte Arri das Gefühl, wieder frei atmen zu können. Mit einem Keuchen, das eher einem kraftlosen Schrei glich, richtete sie sich auf Hände und Knie auf und japste mit weit geöffnetem Mund nach Luft.
»Nicht so laut!«, zischte Runa erschrocken. »Sie dürfen uns nicht hören.«
Arri nahm einen weiteren, keuchenden und tiefen Atemzug, der sie allerdings nur zu der Überzeugung brachte, dass mit der Luft hier drinnen etwas ganz und gar nicht stimmte, denn in ihrem Kopf begann sich alles zu drehen, und sie spürte, wie eine leichte Übelkeit aus ihren Eingeweiden heraufzukriechen begann. Für einen Moment schloss sie die Augen und versuchte mit einer bewussten Anstrengung, nicht nur das Durcheinander hinter ihrer Stirn, sondern auch ihren Herzschlag einigermaßen zur Ruhe zu bringen - eines von beidem gelang ihr eindeutig nicht -, dann ließ sie sich wieder nach vorn sinken. Schwer stützte sie sich mit beiden Händen auf dem rauen Boden auf. Als sie die Augen wieder öffnete, schien es noch schlimmer zu werden. Die Wände stürzten aus allen Richtungen und zugleich auf sie ein, und für einen Moment bekam sie überhaupt keine Luft mehr.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Runa. Die Sorge in ihrer Stimme klang echt; was nichts daran änderte, dass Arri dies für die mit Abstand dümmste Frage hielt, die sie jemals gehört hatte.
»Nein. Wo sind wir?«
»In unserem Schacht«, zischte Runa. »Und bei allen Göttern: Sei ruhig.«
Arri verstummte zwar, drehte sich aber halb um und maß den Schacht, aus dem Runa sie gerade herausgezerrt hatte, mit einem ebenso langen wie bezeichnenden Blick. Auch wenn der Stollen nicht ganz so eng war, wie ihre überreizten Nerven ihr weisgemacht hatten, so war er doch auf jeden Fall zu eng, als dass sich ihre breitschultrigen Angreifer selbst mit aller Gewalt durch dieses Loch quetschen konnten. Auch wenn Arri es dem Mädchen noch immer ein wenig übel nahm, sie durch dieses schreckliche Loch gezerrt zu haben, so waren sie doch zweifellos in Sicherheit.
Runa schien das jedoch anders zu sehen. »Wir müssen still sein«, flüsterte sie gehetzt. »Es gibt einen zweiten Eingang. Wenn sie wissen, wo wir sind, ist es aus!«
Arri maß sie mit einem zweifelnden Blick, beschloss dann aber zu schweigen und sah sich stattdessen in der halbrunden Höhle um, in der sie sich befanden. Auch hier verbreitete eine fast heruntergebrannte Fackel mehr Schatten als wirkliche Helligkeit, doch Arri konnte immerhin erkennen, dass sie sich in einem unregelmäßig verlaufenden, kaum brusthohen Gang aufhielten, in dessen Wänden sich zahlreiche Nischen und Vertiefungen befanden; manche nur flache Dellen, kaum tief genug, um eine Hand hineinzulegen, andere so tief, dass es sich vielleicht um weitere Stollen handelte, ähnlich dem, aus dem sie soeben gekommen waren. Im schwachen, flackernden Licht der Fackel konnte sie die Spuren von Meißeln und anderen Werkzeugen erkennen, und ganz plötzlich wurde ihr klar, wo sie war: an dem Ort, an dem Runas Familie das Erz aus dem Felsen brach.
Arri verspürte ein kurzes, aber eisiges Frösteln, als sie sich vorzustellen versuchte, wie es sein musste, Morgen für Morgen hier hinabzusteigen, um sein Tagewerk zu verrichten. Der Stollen war so niedrig, dass man allerhöchstens auf den Knien arbeiten konnte, und hier und da wohl auch nur auf dem Bauch liegend, und es war vielleicht die schwerste aller nur vorstellbaren Arbeiten; ein Steinbruch tief unter der Erde, ohne Licht und fast ohne Luft.
»Und wohin jetzt?«, fragte sie - wohlweislich im Flüsterton, wenn auch eher, um Runa zu beruhigen, und nicht weil sie glaubte, in direkter Gefahr zu schweben. Zwischen ihnen und ihren Verfolgern lagen mindestens zehn Schritte massiver Fels und ein Loch, das kaum groß genug war, um den Kopf hindurchzuschieben.
Runa zögerte; sie wirkte so verwirrt, als wäre sie selbst nicht ganz sicher, wo sie überhaupt war - aber das war nur Arris allererster Eindruck. Dann wurde ihr klar, wie unrecht sie dem Mädchen tat. Runa war nicht verwirrt, sondern kämpfte mit aller Gewalt um ihre Beherrschung. Plötzlich regte sich Arris schlechtes Gewissen. Ganz gleich, ob Runa sie nun belogen hatte oder nicht, das Mädchen litt Todesangst, und das hatte sie ganz gewiss nicht gewollt. Irgendwie beherrschte sich Runa noch, aber in ihren Augen schimmerten Tränen, und sie hockte vermutlich nur so verkrampft da, damit Arri nicht sah, dass sie am ganzen Leib zitterte. »Und wie geht es weiter?«, flüsterte sie.
Es verging ein Moment, bis Runa antwortete, und wieder tat sie es in diesem sonderbaren, gehetzten Ton, der Arri vielleicht mehr alarmierte als alles andere: als hätte Runa Mühe, sich darauf zu besinnen, wo sie überhaupt war. »Wir warten«, flüsterte sie. »Vielleicht... finden sie den Weg nicht. Sie kennen sich hier nicht aus.«
Das hörte sich allerhöchstens nach etwas an, das sie fast verzweifelt glauben wollte, dachte Arri, aber nicht nach wirklicher Hoffnung. Was immer sie von den beiden Fremden hielt - sie hatten ihr nicht den Eindruck gemacht, dumm zu sein. Und schon gar nicht den, schnell aufzugeben. Dennoch behielt sie ihre Meinung für sich und konzentrierte sich ganz darauf zu lauschen. Die Stimmen der beiden Männer drangen verzerrt und aller hohen Töne beraubt durch den schmalen Schacht, durch den Runa und sie gekrochen waren; zu leise, um die Worte zu verstehen, aber sie hörten sich eindeutig nach einem Streit an. Arri hatte keine Ahnung, ob das ein gutes Zeichen oder ein schlechtes war - aber sie wusste, dass sie hier schleunigst weg mussten, wenn sie überleben wollten. »Wohin führt dieser Gang?«, flüsterte sie.
Runa machte eine vage Geste hinter sich. »Tiefer in den Berg hinein. Aber es gibt einen Schacht, der zum Haus hinaufführt.«
»Worauf warten wir dann noch?«
Runa starrte stumm an Arri vorbei. »Sie... sie haben ihn umgebracht«, murmelte sie plötzlich. »Er... er hat ihn... einfach erschlagen.«
Es dauerte einen Moment, bis Arri überhaupt begriff, dass sie von dem Wolf sprach; und noch einen zweiten, deutlich längeren, bis ihr klar wurde, dass der Schmerz in Runas Stimme tatsächlich dem toten Tier galt. Es gelang ihr nicht ganz, den Ausdruck von Verständnislosigkeit aus ihrem Blick zu verbannen, als sie Runa ansah. Es war doch nur ein Tier gewesen! Nach allem, was sie gesehen hatte, sollte das Mädchen heilfroh sein, überhaupt noch am Leben zu sein.
»Er hat ihn... einfach erschlagen«, murmelte Runa. Ihre Stimme klang flach, auf eine so unheimliche Weise tonlos, dass es Arri einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. »Ich... ich habe ihn fast so lange gehabt, wie ich mich erinnern kann«, fuhr sie fort. »Er war mein Freund, und... und er hat mich beschützt, aber er... er hat ihn einfach... erschlagen.« Ihre Stimme brach, und ihre Augen füllten sich endgültig mit Tränen.
»Um ein Haar hätte er dich erschlagen«, sagte Arri leise. Die Worte waren als Trost gemeint, ohne jeden Vorwurf, aber für einen winzigen Moment blitzte es in Runas Augen fast hasserfüllt auf. »Ja«, zischte sie zitternd, »und dafür wird mein Vater sie töten!«
Und wenn nicht er, dann meine Mutter bestimmt, fügte Arri in Gedanken hinzu.
Was sie wieder zu der Frage brachte, wo Lea überhaupt war.
Nun, hier unten jedenfalls nicht. Sie warf Runa einen auffordernden Blick zu, auf den das Mädchen jedoch nur mit einem stummen Kopfschütteln und einem Blick auf den Schacht hinter Arri antwortete, aus dem noch immer die verzerrten Stimmen der beiden Männer drangen. Kurz darauf erscholl ein gedämpftes Scharren und Ächzen, und Arri konnte regelrecht vor ihrem inneren Auge sehen, wie sich einer der breitschultrigen Männer vergeblich in den schmalen Schacht zu quetschen versuchte. Vielleicht tat er ihnen ja den Gefallen und erstickte in der Enge des Ganges.
»Was haben sie dir gesagt, damit du mich nach draußen lockst?«, fragte sie leise.
»Nichts anderes als dir«, antwortete Runa trotzig. »Dass es ihnen Leid tut und sie mit dir reden wollen, damit du bei deiner Mutter ein gutes Wort für sie einlegst.«
Und das hast du geglaubt?, dachte Arri, hütete sich jedoch, auch diesen Gedanken laut auszusprechen, aber Runa schien ihn wohl so deutlich von ihrem Gesicht abzulesen, als hätte sie es getan, denn der Ausdruck in ihren Augen wandelte sich nun von reinem Trotz in Feindseligkeit. »Sie haben behauptet, dass sie nur mit dir reden wollen«, wiederholte sie stur. Ihre Stimme bebte immer heftiger, und die Tränen liefen jetzt ungehemmt über ihr Gesicht.
Arri entschuldigte sich in Gedanken bei dem Mädchen. Ganz zweifellos hatte Runa nicht geglaubt, dass die beiden Fremden nur mit ihr reden wollten. So einfältig konnte sie nicht sein. Aber ebenso zweifellos hatte das Mädchen nicht erwarten können, was nun wirklich geschah - schließlich hatten die beiden ja auch versucht, sie umzubringen, und sie hatten ihren Wolf getötet. Eben noch war Arri fast sicher gewesen, dass Runas Erschütterung über den Verlust des Wolfes zum allergrößten Teil dem Umstand galt, dass sie sich seines Schutzes beraubt sah. Nun aber begriff sie, dass das ganz und gar nicht stimmte. Das Mädchen hatte den Wolf geliebt, sicherlich auch, aber ganz und gar nicht nur wegen seiner Stärke und Wildheit und dem Schutz, den beides für sie bedeutete. Er war ihr Freund gewesen.
»Wie lange müssen wir noch hier bleiben?«, fragte sie, größtenteils nur, um Runa auf andere Gedanken zu bringen.
Das Mädchen lauschte wieder, dann machte es eine Kopfbewegung hinter sich, tiefer hinein in die bedrohliche Dunkelheit, die den Durchgang ausfüllte. Worin der Unterschied bestand, war Arri nicht ganz klar, denn die Stimmen auf der anderen Seite der Wand waren immer noch zu hören, aber sie musste wohl oder übel darauf vertrauen, dass Runa wusste, was sie tat. Schließlich ging es auch um ihr Leben.
Auf Händen und Knien folgte sie Runa. Der Stollen wurde schon nach wenigen Schritten wieder so niedrig, dass sie ein gutes Stück weit auf dem Bauch kriechend zurücklegen mussten, und Arris Platzangst meldete sich prompt zurück; obwohl zwischen ihrem Rücken und der Decke noch eine gute Handbreit Luft war, bildete sie sich trotzdem ein, das Gewicht der Felsen zu spüren, die auf ihr lasteten und es ihr immer schwerer und schwerer machten zu atmen.
»Wieso sind diese Gänge so niedrig?«, keuchte sie. »Kein Mensch kann doch hier drinnen arbeiten!«
»Wir folgen den Erzadern im Gestein«, antwortete Runa aus der Dunkelheit vor ihr. »Es ist unnötig, so viel Felsen wegzubrechen, der kein Erz enthält.«
»Wie um alles in der Welt arbeiten dein Vater und die anderen hier drinnen?«, keuchte Arri. »Kratzen sie das Erz mit den Fingernägeln aus dem Stein?« Sie redete im Grunde nur, um ihre Angst zu bekämpfen, während sie sich Stück für Stück über den rauen Boden zog. Der Fels war so scharfkantig, dass ihre Fingerspitzen und Handflächen längst wund gescheuert waren und bluteten, und wie ihre Knie und Zehenspitzen aussahen, wagte sie sich gar nicht erst vorzustellen. Zweifellos hatte sie sich ihre Kleider zerrissen, worüber ihre Mutter sehr zornig sein würde.
Der Gedanke war so absurd, dass sie beinahe laut aufgelacht hätte. Ihre Mutter würde froh sein, sie noch einmal lebend wiederzusehen, und sie erleichtert in die Arme schließen - falls sie noch am Leben war, hieß das.
»Die Erwachsenen bauen die größeren Flöze ab«, antwortete Runa aus der Dunkelheit auf ihre Frage. »Die niedrigeren Gänge sind für meine jüngeren Geschwister und mich.«
»So wie der Gang, durch den wir entkommen sind?«
»Den habe ich ganz allein gegraben«, antwortete Runa mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme.
Arri dachte einen Moment lang zweifelnd über diese Behauptung nach. Auch wenn ihr der Schacht, fahrig und wahnsinnig vor Angst, wie sie gewesen war, zweifellos viel länger vorgekommen war, als er in Wahrheit sein konnte, musste er doch mindestens zehn oder zwölf Schritte messen - wenn Runa die Wahrheit sagte, dann hatte sie praktisch ihr gesamtes bisheriges Leben damit verbracht, ihn zu graben.
Arri versuchte vergeblich, sich vorzustellen, wie es sein musste, ein ganzes Leben hier unten zu verbringen. Der schreckliche Geruch, den sie gleich zu Anfang wahrgenommen hatte, war noch immer da, auch wenn sie sich allmählich daran gewöhnte und ihn mittlerweile als nicht mehr ganz so quälend empfand - aber er war da, und was immer ihn verursachte, machte ihr das Atmen zur Qual. Was er ihren Lungen antun mochte, wollte sie lieber gar nicht wissen; und schon gar nicht, was er den Menschen antat, die Jahr um Jahr hier unten zubrachten und dabei auch noch körperlich schwer arbeiteten. Die Ausbeute dieser Mine sicherte Targan und seiner Familie zweifellos ein gutes Auskommen, aber Arri fragte sich, ob der Preis, den sie dafür zahlten, nicht zu hoch war.
Endlich wurde der Stollen wieder höher, sodass sie sich auf Hände und Knie aufrichten und nach einigen weiteren Schritten sogar aufstehen konnten. Vor ihnen flackerte ein blassrotes Licht, und in die staubige Luft mischte sich der vertraute Geruch von brennendem Holz. Sie glaubte Stimmen zu hören, aber als sie mit einem erleichterten Aufatmen weitergehen wollte, hielt Runa sie zurück. »Du musst...«, begann sie zögernd, »... mir noch eine Frage beantworten.«
»Ja?«
Runa wich ihrem Blick aus. »Deine Mutter«, sagte sie unsicher. »Was... was will sie wirklich hier?«
Arri verstand nicht einmal die Frage. Sie sah Runa nur verwirrt an.
»Ich meine: Warum... warum seid ihr wirklich gekommen?«
»Um Erz einzutauschen«, antwortete Arri, »und Werkzeuge. Unsere Schmiede ist abgebrannt, und...«
»Der Fremde hat etwas anderes behauptet«, unterbrach sie Runa.
Arris Gesicht verdüsterte sich. »Du hast also doch mit ihnen gesprochen.«
Runa zuckte verlegen mit den Schultern, zwang sich aber dann, Arris Blick standzuhalten, und atmete hörbar ein. »Ja. Und sie sagen, dass deine Mutter etwas im Schilde führt. Etwas, das uns alle verderben wird.« Sie atmete noch einmal und tiefer ein, als fiele es ihr schwer fortzufahren, und als sie weitersprach, war in ihrer Stimme ein hörbares Zittern. »Sie sagen, dass deine Mutter zu den Fremden gehört, die über die Berge kommen und unser Land erobern wollen. Sie behaupten, ihr seid nur hier, um uns auszuspähen. Ist das wahr?«
Das war ein solch haarsträubender Unsinn, dass Arri am liebsten laut aufgelacht hätte. Ausgerechnet ihre Mutter sollte den Untergang dieser Menschen planen? Sie schüttelte heftig den Kopf und setzte zu der scharfen Antwort an, die dieser unsinnige Gedanke zweifellos verdiente, aber dann konnte sie es plötzlich nicht. Ob sie es wollte oder nicht, sie musste wieder an ihre Mutter und Dragosz denken, an die geheimen Treffen im Wald und daran, wie wichtig es Dragosz gewesen war, dass niemand von seiner Anwesenheit erfuhr. Natürlich war das Unsinn. Ihre Mutter hatte praktisch ihr ganzes Leben der Aufgabe gewidmet, den Menschen hier zu helfen und ihr hartes Dasein wenigstens ein bisschen erträglicher zu machen. Allein der Verdacht war schon lächerlich... und doch: Jetzt, wo sie darüber nachdachte, erinnerte sie sich wieder, dass Lea ihr nicht auf alle ihre Fragen geantwortet hatte. Sie hatte das für Zufall gehalten, und möglicherweise war es das auch... Was, wenn Kron und seine Brüder die Wahrheit gesagt hatten, was ihr Zusammentreffen mit den Fremden anging? Aber das war einfach nur...
Unsinn!
Sie hatte mit ihrer Antwort gerade lange genug gezögert, um nicht mehr wirklich glaubwürdig zu klingen, das sah sie Runa trotz des schwachen Lichtes deutlich an. Das Mädchen sagte zwar nichts mehr, aber ihr Blick blieb wachsam. Irgendeinen Grund mussten die Fremden schließlich haben, um hierher zu kommen.
»Und selbst wenn es so wäre? Warum sollten sie dann dich umbringen?«
Sie selbst hätte nur einen Augenblick gebraucht, um diesen fadenscheinigen Einwand zu entkräften, aber Runa schien er zu überzeugen; wenigstens fürs Erste. Sie sah Arri noch einen Atemzug lang zweifelnd an, aber dann ließ sie es mit einem Schulterzucken gut sein und wandte sich um. »Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt«, sagte sie, während sie gebückt weitergingen.
»Bedankt?«
»Du hast mir das Leben gerettet«, erklärte Runa. »Der Kerl hätte mich glatt erschlagen.«
»Nicht der Rede wert«, antwortete Arri und rieb sich die schmerzenden Rippen. Bei all der Aufregung und Angst hatte sie den gemeinen Kniestoß, den der Krieger ihr versetzt hatte, fast vergessen, aber Runas Worte hatten sie nachhaltig wieder daran erinnert, dass mindestens eine ihrer Rippen angeknackst war, wenn nicht gebrochen.
»Ich habe noch nie ein Mädchen gesehen, das so kämpft wie du«, fuhr Runa unbeeindruckt fort. »Du hast es dem Kerl ganz schön gezeigt. Hat deine Mutter dir das beigebracht?«
»Was?«, fragte Arri miesepetrig. »Mich verprügeln zu lassen?«
Runa schüttelte heftig den Kopf. Der Gang war mittlerweile so hoch geworden, dass sie es tun konnte, ohne Gefahr zu laufen, sich an der Decke den Schädel zu rammen. Vor ihnen war jetzt deutlich ein rotes Licht zu erkennen, das von oben kam, und Arri konnte sehen, dass die Decke hier mit schweren und sorgfältig verkeilten Balken abgestützt war. Sie war jetzt auch sicher, gedämpfte Geräusche zu hören: möglicherweise Stimmen, das gleichmäßige Zetern eines Säuglings, das sie früher an diesem Abend schon einmal gehört hatte. Hatte Runa nicht gesagt, dass einer dieser Stollen direkt im Haus endete? Ein Gefühl vorsichtiger Erleichterung breitete sich in ihr aus. Vielleicht würde ja doch noch alles gut werden. Wenn sie erst einmal im Haus waren, konnte ihnen nichts mehr passieren.
»Zu kämpfen wie ein Mann«, antwortete Runa. »Man erzählt sich wahre Wunderdinge über sie, und ich habe auch noch nie eine Frau gesehen, die ein Schwert trägt, aber um ehrlich zu sein, habe ich nicht alles geglaubt, was ich gehört habe. Ich meine... eine Frau, die ein Schwert führt und wie ein Mann redet?«
»Was ist daran ungewöhnlicher als an einem Kind, das auf dem Bauch durch die Erde kriecht und mit Hammer und Meißel Erz aus dem Felsen bricht?«, fragte Arri. »Jeder tut das, was er am besten kann.«
Runa warf ihr einen verstörten Blick zu, der Arri klarmachte, dass sie mit dieser Antwort nicht wirklich etwas anfangen konnte, und ging dann schweigend vor ihr her. Sie hatten jetzt vielleicht noch ein Dutzend Schritte, dann war dieser Albtraum vorüber. In dem blassen Licht, das durch einen rechteckigen, anscheinend weit nach oben führenden Schacht fiel, war eine grob gezimmerte Leiter zu erkennen, ganz ähnlich der, durch die sie auch in die Mine herabgestiegen waren, aber deutlich massiver, und nur ein kurzes Stück weiter zweigten zwei weitere Tunnel vom Hauptgang ab, die allerdings nicht beleuchtet waren. Offensichtlich bestand die Mine aus einem ganzen Labyrinth unterirdischer Gänge und Stollen. Runa stockte unmerklich im Schritt und maß die beiden Gänge gerade lange genug mit misstrauischen Blicken, um Arri unruhig zu stimmen, dann ging sie weiter, blieb aber unmittelbar vor der Leiter noch einmal stehen und drehte sich abrupt um.
»Meine Frage wirst du mir aber noch beantworten, bevor wir nach oben gehen«, sagte sie.
Arri war über diese Verzögerung alles andere als begeistert - sie musste nach oben und sehen, wo ihre Mutter war! -, stimmte aber dennoch mit einem widerwilligen Nicken zu und blieb ebenfalls stehen. Wahrscheinlich ging es am schnellsten weiter, wenn sie Runas Wunsch nachkam, statt sich auf einen weiteren endlosen Wortwechsel einzulassen. »Welche?«
»Deine Mutter«, sagte Runa, »ist sie tatsächliche eine...?«
»Wie?«, machte Arri verblüfft, aber Runa nickte nur und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Die Leute sagen, sie hätte Zauberkräfte«, beharrte sie. »Ist das wahr? Und wenn, beherrschst du sie dann auch?«
Arri lachte... und aus der Schwärze hinter Runa löste sich eine hoch gewachsene Gestalt in einem Umhang aus struppigem Wisentfell, umklammerte sie von hinten mit den Armen und hielt ihr mit einer Hand Mund und Nase zu, und noch bevor Arri auch nur wirklich begriff, was geschah, geschweige denn einen Schrei ausstoßen konnte, wurden auch hinter ihr Schritte laut, und sie fühlte sich auf die gleiche Weise gepackt und zurückgerissen. Eine riesige, übel riechende Hand presste sich ihr auf Mund und Nase und schnürte ihr den Atem ab, und gleichzeitig fühlte sie sich mit unwiderstehlicher Kraft von den Füßen gerissen und herumgezerrt. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Runa mit den Beinen strampelte und den Arm des Angreifers mit den Fingernägeln zerkratzte, wovon sich der Mann aber nicht im Geringsten beeindruckt zeigte. Rasch und fast mühelos trug er das aufbegehrende Mädchen davon, und auch Arri wurde trotz ihrer heftigen Gegenwehr wieder in die Richtung zurückgeschleift, aus der sie gekommen waren.
Arri trat immer verzweifelter um sich. Sie spürte, dass sie traf, hart traf, aber es nutzte nichts. Sie wurde bis zu der Stelle zurückgezerrt, an der die Decke sich zu tief herabsenkte, um aufrecht stehen zu können, dann wirbelte der Mann sie herum und warf sie so fest gegen die Wand, dass ihr die Sinne zu schwinden drohten, zog die Hand aber nicht von ihrem Gesicht weg. Allmählich wurde die Atemnot quälend. Arri drängte den Schleier aus schwarzen Spinnweben zurück, der ihre Gedanken verkleben wollte, bekam irgendwie eine Hand frei und tastete mit den Fingern über das Gesicht des Kerls, um ihm die Augen auszukratzen. Der Mann lachte nur roh und warf den Kopf zurück, aber seine Hand glitt für einen Moment von ihrem Gesicht, sodass sie wenigstens einen einzelnen, gierigen Atemzug nehmen konnte, bevor sich die schwere Hand erneut auf ihren Mund und ihre Nase presste.
»Wirst du still sein?«, sagte der grobe Kerl. »Wenn du atmen willst, dann musst du mir versprechen, nicht zu schreien, wenn ich dich loslasse.«
Sie konnte nicht antworten. Aber immerhin brachte sie ein schwächliches Nicken zustande, das der Mann wohl auch sah, denn er nahm die Hand wenigstens von ihrer Nase, wenn auch nicht von ihrem Mund. Sie konnte wieder atmen; nicht besonders gut, aber sie bekam Luft.
Runa hatte weniger Glück. Der andere Mann hatte sie auf die gleiche Weise gepackt wie sein Kamerad Arri, und er machte keinerlei Anstalten, sie los - oder auch nur atmen zu lassen. Runa wand sich und zappelte verzweifelt, strampelte mit den Beinen und versuchte, den Kopf hin- und herzuwerfen, aber natürlich war der Mann viel zu stark für sie, und Runas Bewegungen wurden sichtbar schwächer.
»Was tun wir mit ihr?«, fragte der Krieger.
Arri konnte das Schulterzucken des Mannes, der sie gepackt hielt, spüren. »Wir brauchen sie nicht mehr. Sorg dafür, dass sie still ist.«
Der Krieger tat gar nichts - aber er ließ Runa auch nicht los. Ihr Strampeln und Sichaufbäumen wurde noch einmal so heftig, dass der Mann alle Mühe hatte, sie zu halten, aber dann wurden ihre Bewegungen ganz plötzlich schwächer und hörten schließlich ganz auf. Doch auch jetzt ließ der andere Angreifer sie noch nicht los, sondern presste die Hand noch eine ganze Weile mit aller Kraft auf ihr Gesicht, bevor er endlich zufrieden war und das Mädchen einfach fallen ließ. Runas Körper sank schlaff zu Boden, und der Krieger versetzte ihr noch zwei, drei derbe Fußtritte; vielleicht nicht einmal wirklich, um sich davon zu überzeugen, dass sie tot war, sondern einfach, weil es ihm Spaß machte.
»Wenn du nicht willst, dass es dir genauso ergeht, dann gibst du keinen Laut von dir, wenn ich dich jetzt loslasse«, grollte die Stimme des zweiten Mannes an ihr Ohr. »Hast du das verstanden?«
Arri konnte nicht antworten. Sie starrte in fassungslosem Entsetzen auf das tote Mädchen hinunter, und ein Teil von ihr weigerte sich einfach zu glauben, was sie sah. Trotzdem zog sich die Hand schließlich von ihrem Gesicht zurück, wenn auch nicht weit und jederzeit bereit, sofort wieder zuzupacken, wenn sie auch nur an Widerstand denken sollte.
Aber Arri hätte nicht einmal schreien können, wenn sie gewollt hätte. Ihr Mund war wieder frei, doch sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und es war ihr unmöglich, den Blick vom reglosen Körper des Mädchens loszureißen. Sie konnte nicht einmal mehr richtig denken. Runa... konnte nicht tot sein! Sie hatte noch vor einem Augenblick mit ihr geredet. Sie hatten miteinander gescherzt, und jetzt war sie tot, vollkommen grund- und sinnlos umgebracht, nur weil sie sie (was hatte der Mann gesagt?) nicht mehr brauchten?!
Und plötzlich brandete eine Woge reiner, lodernder Wut in ihr hoch. Mit einer Bewegung, die selbst für ihren aufmerksamen Bewacher zu schnell kam, riss sie sich los, fuhr herum und schlug mit beiden Fäusten auf Runas Mörder ein, so schnell und hart, dass der Mann mit einem überraschten Grunzen zurücktaumelte und wahrscheinlich gestürzt wäre, wäre er nicht gegen die Stollenwand geprallt. Dann traf sie selbst ein Schlag, den sie nicht einmal kommen sah, und die Welt versank in einem Strudel aus erstickendem Nebel und Übelkeit.
Das Nächste, was sie bewusst wahrnahm, war der Umstand, dass sie auf Händen und Knien hockte, eine starke Hand ihren Nacken umschloss und ihren Kopf mit erbarmungsloser Kraft nach vorn drückte, sodass ihre Stirn fast den Boden berührte. Seit ihrem ebenso überraschenden wie sinnlosen Angriff auf Runas Mörder konnte kaum Zeit vergangen sein, denn der Mann kämpfte sich genau in diesem Moment mit wild fuhrwerkenden Armen wieder in die Höhe und machte Anstalten, sie zu treten; wahrscheinlich hätte er es sogar getan, hätte sein Kamerad ihn nicht mit einer zornigen Bewegung mit dem freien Arm zurückgescheucht.
»Lass das!«, sagte er grob. An Arri gewandt und in scharfem, drohendem Ton fuhr er fort: »Und du versuchst das besser nicht noch einmal, hast du verstanden? Wir brauchen dich nicht unbedingt lebend, das solltest du besser nicht vergessen!« Der Druck auf Arris Nacken wurde nun so stark, dass sie die Zähne zusammenpresste und trotzdem vor Schmerz aufstöhnte, aber der Krieger drückte nur noch fester zu und fragte: »Hast du mich verstanden?«
Arri konnte nicht reden. Sie bekam kaum noch Luft. Alles, was sie zustande brachte, war ein angedeutetes, hastiges Nicken, das dem Krieger allerdings auszureichen schien, denn er ließ ihren Hals zwar nicht los, lockerte seinen Griff aber zumindest so weit, dass sie wieder atmen und sogar den Kopf ein wenig heben konnte. Allerdings gestattete er ihr nicht aufzustehen.
»Geh und schau nach, ob jemand was gehört hat«, wandte er sich an seinen Kameraden. »Und bring eine Fackel mit. Diese Dunkelheit ist mir nicht geheuer.«
Der andere zögerte. Arri konnte ihm ansehen, dass er sehr viel lieber geblieben wäre und etwas ganz anderes getan hätte, aber dann warf er ihr einen drohenden Blick zu, der ihr wohl klarmachen sollte, dass aufgeschoben in diesem Fall ganz und gar nicht aufgehoben bedeutete, schürzte trotzig die Lippen und eilte davon. Arri wartete darauf, dass sein Kamerad nun endlich ihren Nacken losließ, und das tat er auch, allerdings nur, um sie praktisch im gleichen Augenblick grob am Arm zu packen und in die Höhe zu zerren. Sie wurde so unsanft gegen die Wand gestoßen, dass ihr Hinterkopf gegen den harten Fels prallte und sie schon wieder das Gefühl hatte, in einen bodenlosen Schacht aus Schwärze zu stürzen. »Versuch nur keine Dummheiten«, warnte er. »Du hast gesehen, was dir dann passiert.«
Arri hatte gesehen, was ihr wahrscheinlich auf jeden Fall passieren würde - so dachte sie -, allenfalls ein wenig später, wenn sie tat, was die Männer von ihr verlangten. Aber sie war sich sicher, dass sie sie nicht am Leben lassen würden. Nicht nach dem, was sie gerade mit angesehen hatte. Dennoch presste sie die Lippen aufeinander, damit ihr auch nicht der geringste Laut entschlüpfte, der ihrem Gegenüber vielleicht als Vorwand dienen konnte, sie abermals zu schlagen oder ihr etwas Schlimmeres anzutun. Sie versuchte die bunten Lichtblitze und Schleier wegzublinzeln, die vor ihren Augen wogten; ihr Blick klärte sich nur ganz allmählich, und selbst nachdem er es getan hatte, war sie nicht sicher, ob sie wirklich sehen wollte, was sie sah. Der Mann stand nur einen halben Schritt vor ihr und blickte ihr aufmerksam ins Gesicht, und was sie in seinen Augen las, das bestätigte ihre Vermutung nur. Er würde sie nicht am Leben lassen.
»Warum... warum habt ihr das getan?«, flüsterte sie mit leiser, bebender Stimme. »Warum habt ihr sie umgebracht? Sie... sie hat niemandem etwas getan!«
Ihr Gegenüber zog es vor, die Frage nicht zu beantworten. Stattdessen trat er einen halben Schritt zurück und maß sie mit einem neuerlichen, sehr aufmerksamen Blick von Kopf bis Fuß, und ein hässliches Lächeln und ein Ausdruck böser Vorfreude traten in seine Augen, die Arri schaudern ließen. »Du bist ganz und gar die Tochter deiner Mutter. Du kämpfst wie eine Wildkatze. Wenn du ein paar Jahre älter wärst, hättest du uns wirklich Schwierigkeiten machen können, weißt du das?«
Arri hielt seinem Blick stand, dann aber senkte sie den Kopf und sah wieder auf Runas leblosen Körper hinab. Für einen einzigen, winzigen Moment kam es ihr so vor, als bewege er sich, aber ihre verzweifelte Hoffnung, dass vielleicht doch noch eine Spur von Leben in ihr sein könnte, verblasste so schnell, wie sie gekommen war. Es war nur das Spiel von Licht und Schatten gewesen, das ihr diese vermeintliche Bewegung vorgegaukelt hatte.
»Warum habt ihr sie umgebracht?«, fragte sie noch einmal. Sie bekam auch diesmal keine Antwort, aber plötzlich fühlte sie, wie ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Keine Tränen der Angst oder des Schmerzes, sondern einer kalten, hilflosen Wut, die fast schlimmer war als körperlicher Schmerz. Es war so sinnlos gewesen. Runas Tod war schrecklich, aber viel entsetzlicher noch erschien ihr die Beiläufigkeit, mit der der Mann sie umgebracht hatte; einzig und allein aus dem Grund, dass sie von keinem Nutzen für ihn war und er sichergehen wollte, dass sie nicht schrie.
Die Schatten an den Wänden erwachten zu hektischem, flackerndem Leben, als der zweite Mann zurückkam und dabei die Fackel mitbrachte, die am Ende des Stollens gebrannt hatte. Sein Kamerad warf ihm einen fragenden Blick zu, ohne Arri dabei allerdings gänzlich aus den Augen zu lassen, erntete aber nur ein unwilliges Kopfschütteln. »Es ist alles ruhig. Niemand hat etwas gehört.«
»Gut.« Der andere drehte sich wieder ganz zu Arri um. »Und das gilt auch für dich. So lange du keinen Lärm machst oder zu fliehen versuchst, bleibst du am Leben.«
Und so lange sie sie noch brauchten, dachte Arri bitter. Mühsam riss sie ihren Blick von Runas leblosem Körper los und sah dem Mann vor sich so fest in die Augen, wie sie nur konnte. »Was wollt ihr von mir?«, fragte sie.
Der Mann antwortete nicht, aber sein Kamerad verzog die Lippen zu einem hässlichen Grinsen. »Da würde mir schon das eine oder andere einfallen. Du bist zwar abgrundtief hässlich und die Tochter einer Hexe, aber ich wüsste schon etwas mit dir anzufangen...« Er grinste noch breiter und sah dabei seinen Kumpanen ebenso fragend wie auffordernd an; der andere schien ernsthaft über seinen unausgesprochenen Vorschlag nachzudenken, schüttelte dann aber den Kopf.
»Dafür ist keine Zeit«, sagte er in leicht bedauerndem Ton. »Geh und such nach ihrer Mutter. Sag ihr, dass wir ihre Tochter haben und dass ihr kein Leid geschieht, wenn sie ihre Waffe ablegt und mit dir kommt.«
»Und wenn sie mir nicht glaubt?« Der Blick des anderen tastete abermals und diesmal ganz eindeutig gierig über Arris Gestalt.
»Dann ist es wohl besser, wenn du ihr einen Beweis mitbringst«, erwiderte sein Kumpan. Arris Augen wurden groß vor Schrecken, als seine Hand unter den Umhang glitt und mit einem kurzen, scharf geschliffenen Dolch wieder zum Vorschein kam. Keuchend versuchte sie, zurückzuweichen oder wenigstens den Kopf zur Seite zu werfen, doch der andere war schneller. Seine Hand grub sich in ihr Haar, riss ihr den Kopf nach hinten, und dann trennte der Dolch ihr eine gut handlange, dicke Strähne ihres hellen Haares ab. Arri stieß erleichtert die Luft zwischen den Zähnen aus und wich vorsichtshalber einen Schritt zur Seite, als der Mann sie endlich losließ und sich wieder zu seinem Begleiter umwandte. »Hier«, sagte er, während er ihm die Strähne hinhielt, »gib ihr das. Das wird sie überzeugen. So sonderbares Haar hat außer ihr selbst und ihrer Tochter hier niemand.«
Der Mann nahm die Haarsträhne zögernd entgegen. Er machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung, hob aber schließlich nur die Schultern und händigte dem anderen die Fackel aus, bevor er sich umdrehte und davonging.
»Warum tut ihr das?«, murmelte Arri. »Was... was haben wir euch denn getan?«
Statt ihre Frage zu beantworten, trat der Mann wieder dichter an sie heran und hob die Fackel, um sie in ihrem flackernden roten Licht noch einmal zu betrachten, und vielleicht war der Blick, mit dem er sie nun maß, schlimmer als alles andere zuvor. Arri versuchte, weiter vor ihm zurückzuweichen, aber hinter ihr war nur harter Fels. Ihr Herz jagte.
»Warum wir das tun?« Der Mann beendete seine Musterung und schien einige Mühe zu haben, sich wieder auf ihr Gesicht zu konzentrieren. »Das fragst du auch noch? Tust du so, oder hast du wirklich keine Ahnung?«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, antwortete Arri. »Ich habe euch nichts getan. Und meine Mutter auch nicht.«
»Du lügst. Aber das wird dir auch nichts mehr nutzen, Hexenkind. Deine Mutter hat mit ihren Zauberkräften lange genug Unheil über uns gebracht. Und jetzt sei still. Du kannst noch früh genug reden, aber erst, wenn deine Mutter dabei ist.«
»Meine Mutter«, antwortete Arri leise, »wird dich töten. Und deinen Freund auch. Und wenn nicht sie, dann Runas Vater.«
»Kaum«, antwortete der Mann. »Er wird uns dankbar sein, wenn er erst einmal erfährt, welch heimtückisches Spiel deine Mutter mit ihm und seiner Familie gespielt hat.«
»Aber sie hat doch nur...«, begann Arri.
Der Mann schlug sie warnungslos und blitzschnell und so hart, dass ihr Kopf schon wieder gegen den Stein schlug und ihre Unterlippe aufplatzte. »Du sollst still sein, habe ich gesagt!«, fauchte er.
Arri hob zitternd die Hand an ihr Gesicht, verbiss sich aber jeden Laut; und sei es nur, um ihm nicht die Genugtuung zu gönnen, sie wimmern zu hören. Sie schmeckte Blut, und ihre Lippe schwoll so rasch an, dass sie es spüren konnte. Trotzdem straffte sie nach einem Moment die Schultern und starrte ihn ebenso trotzig wie herausfordernd an - was vermutlich ein Fehler war, denn sie konnte dem Krieger ansehen, wie schwer es ihm jetzt fiel, sich nicht endgültig auf sie zu stürzen und mit Fäusten auf sie einzuschlagen.
Stattdessen trat er plötzlich wieder einen Schritt zurück, lehnte die Fackel so gegen die Wand, dass sie aufrecht stehen blieb und trotzdem weiter brannte, und zog abermals den Dolch unter dem Umhang hervor. Arri gab sich alle Mühe, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen, als er erneut näher trat, und es gelang ihr auch einigermaßen, aber sie konnte ihren Blick nicht daran hindern, sich an der schimmernden Klinge festzusaugen. »Hast du Angst?«, fragte er lächelnd. »Das brauchst du nicht. Ich tu dir nicht weh - falls du mich nicht dazu zwingst, heißt das.«
Arri presste sich mit verzweifelter Kraft gegen den rauen Stein. Ihre Fingernägel kratzten über den Fels, und sie drückte sich so eng an die Wand, als könne sie sich hineinpressen, aber es gab keine Nische mehr, wohin sie noch flüchten konnte, und der Krieger kam langsam und unaufhaltsam näher.
Das Messer näherte sich ihrem Gesicht, strich fast sanft über ihre Wange, näherte sich ihrem linken Auge und schwebte einen grässlichen Moment lang so dicht davor, dass sie die Spitze nur noch verschwommen sehen konnte. Für einen einzelnen, aber furchtbaren Atemzug war sie sicher, dass er ihr das Messer einfach ins Auge stoßen würde, aber dann zog er die Klinge wieder ein kleines Stückchen zurück und ließ die Messerspitze den gleichen Weg wieder nach unten wandern, den sie gerade genommen hatte: über ihre Wange, den Mundwinkel und ihre aufgeplatzte Unterlippe und weiter über das Kinn hinab zu ihrer Kehle und noch weiter hinunter, bis sie über den besudelten Stoff ihrer Bluse strich, der Wölbung ihrer Brust darunter folgte und abermals einen Moment darauf verharrte, ehe sie noch weiter wanderte, über ihren Leib und schließlich bis zu ihrem Schoß glitt, wo sie endgültig verharrte. Arris Herz hämmerte. Sie wusste nicht genau, was der Mann vorhatte, aber was immer es war, in diesem Moment wäre es ihr beinahe lieber gewesen, er hätte sie getötet.
»Hast du Angst, Mädchen?«, fragte er. Arri hätte sich lieber die Zunge abgebissen, statt zu antworten, aber der Mann hätte schon blind sein müssen, um ihre Angst nicht zu sehen. »Das brauchst du nicht«, fuhr er fort. »Ich habe nicht vor, dir wehzutun. Im Gegenteil. Du wirst sehen, es wird dir gefallen.«
Das Messer machte eine plötzliche, blitzschnelle Bewegung, aber der brennende Schmerz, auf den sie wartete, kam nicht. Stattdessen zerteilte die Messerklinge ihre Bluse bis zum Hals hinauf.
Arri sog erschrocken die Luft ein, als der Stoff auseinander fiel und von ihren Schultern zu rutschen drohte. Sie wollte ihn festhalten, aber das Messer bewegte sich blitzschnell ein Stück weiter und berührte nun ihre Kehle, sodass sie gezwungen war, den Kopf in den Nacken zu legen. Als sie trotzdem die Arme hob, um wenigstens ihre Blöße zu bedecken, schlug er ihre Hände mit solcher Kraft beiseite, dass sie vor Schmerz keuchte. »Lass das!«, sagte er scharf. »Ich will dir nicht wehtun.« Ohne die Messerspitze von ihrer Kehle zu nehmen, trat er ein kleines Stück zurück und maß ihren zitternden Körper mit langen, gierigen Blicken. »Eigentlich bist du gar nicht so hässlich, wie alle sagen. Vielleicht ein bisschen dürr, aber sonst...«
Plötzlich zog er das Messer doch zurück, griff dann blitzschnell mit der anderen Hand zu und warf sie mit einer so brutalen Bewegung zu Boden, dass sie vor Schmerz wimmerte und ihre Zähne hart aufeinander schlugen, bis sie Blut schmeckte. Noch bevor der grelle Schmerz verebbte, warf er sich auf sie, drückte sie mit seinem ganzen Körpergewicht auf den felsigen Untergrund und grapschte mit der freien Hand nach ihrer linken Brust. Die andere hielt immer noch das Messer, das er nun seitlich gegen ihren Hals drückte.
Arri bäumte sich verzweifelt auf, aber gegenüber dem starken Mann war sie hoffnungslos unterlegen. Mühelos presste er sie nieder, zwängte ihre Beine mit einer brutalen Bewegung auseinander und grapschte weiter so fest an ihrer Brust herum, dass ihr der Schmerz schon wieder die Tränen in die Augen trieb. Arri dachte weder an das Messer an ihrem Hals noch an alles andere, was er ihr angedroht hatte, sondern bäumte sich verzweifelt auf und schlug mit den Fäusten auf seine Schultern und seinen Kopf ein, aber das schien den Kerl nur noch weiter anzustacheln. Sein Gesicht war ihr jetzt so nahe, dass sie seinen Atem spüren konnte, der übel roch und mit einem Mal fast so schnell ging wie ihr eigener, dann klirrte das Messer neben ihrem Gesicht zu Boden, als er mit der Hand nach unten griff, um sein Wickelgewand hochzuschieben. Arri hämmerte weiter wie von Sinnen mit den Fäusten auf seinen Kopf ein, und anscheinend musste sie ihm nun doch wehgetan haben, denn er drehte plötzlich und mit einem unwilligen Schnauben den Kopf zur Seite, ließ ihre Brust los und schlug sie hart mit dem Handrücken ins Gesicht.
Arri wimmerte vor Schmerz und Angst und sackte halb besinnungslos zurück, und er griff abermals nach unten. Als er in sie einzudringen versuchte, gelang es ihm nicht, aber es tat entsetzlich weh. Arri kreischte vor Schmerz und trat um sich, ohne ihn auch nur einen Deut weit von sich herunterschieben zu können. Der Krieger versetzte ihr einen weiteren, noch härteren Schlag ins Gesicht, presste sich mit einem unwilligen Schnauben noch fester gegen sie und hielt ihr mit der linken Hand den Mund zu, während er mit der Rechten wieder nach unten griff und seinen Bemühungen mit den Fingern nachzuhelfen versuchte. Arri warf sich verzweifelt herum, versuchte ihn zu beißen und ihn irgendwie von sich herunterzustoßen, doch das einzige Ergebnis war, dass der Schmerz noch unvorstellbarer wurde.
Ihre strampelnden Beine stießen gegen die Fackel, und sie fiel um. Die Flammen strichen heiß an ihrem Gesicht entlang und waren verschwunden, ehe sie ihr wirklich Schmerz zufügen konnten. Fast ohne darüber nachzudenken, was sie tat, griff sie nach der Fackel. Sie bekam das brennende Ende zu fassen, und diesmal tat es weh, aber der Schmerz war nichts gegen die grausame Qual, die in ihrem Schoß wühlte, und das Entsetzen, das ihre Sinne zerreißen wollte. Statt loszulassen, glitt ihre Hand an dem glühenden Holz entlang, bis sie eine Stelle fand, die ihr nicht das Fleisch von den Knochen brannte, schloss sich fester darum - und dann stieß sie dem Mann die brennende Fackel mit aller Kraft ins Gesicht!
Der Angreifer schrie vor Schmerz und Wut. Plötzlich stank es durchdringend nach verschmortem Haar und versengtem Fleisch, und Arri schlug noch einmal und noch fester zu, obwohl die Flammen auch ihr Haar und ihre Augenbrauen versengten. Der Mann bäumte sich auf, versuchte ihr die Fackel aus der Hand zu schlagen und verfehlte sie, und Arri stieß ihm das brennende Holz ungeschickt in den Nacken. Der Gestank nach verschmortem Haar wurde noch schlimmer und seine Schreie wütender. Arri warf sich herum, schraubte sich irgendwie unter seinem schweren Körper hervor und war plötzlich frei; wenn auch nur für einen Moment. Hastig wollte sie davonkriechen, kam aber nur einen Schritt weit, bevor seine Hand nach ihr griff und sich in ihren Rock krallte. Das Gewebe aus unendlich fein gesponnenen Nesselfasern riss mit einem hässlichen Laut und wurde ihr fast bis zu den Hüften vom Leib gezerrt. Arri fiel auf die Seite, krümmte sich und trat unwillkürlich nach seinem Gesicht - und diesmal traf sie so hart, dass der Mann mit einem Keuchen nach hinten stürzte und schwer gegen die Wand prallte.
Arri kroch hastig einen weiteren Schritt vom ihm fort, setzte sich auf und zog bibbernd die Knie an den Leib, während sie mit beiden Händen versuchte, den zerrissenen Rock irgendwie um sich zu wickeln und ihre Blöße zu bedecken. Das war vollkommener Unsinn. Ein winziger Teil von ihr, der trotz allem noch zu folgerichtigem Denken fähig war, versuchte ihr zuzuschreien, dass sie nur diese eine winzige Gelegenheit hatte davonzukommen, dass er gleich wieder über sie herfallen und ihr Dinge antun würde, die noch viel unvorstellbarer waren als die, die er gerade getan hatte, und dass sie weg musste. Aber sie war nicht in der Lage, auf sie zu hören. Sie schämte sich so sehr, dass es wehtat.
Und dann war es zu spät. Der Mann stemmte sich mit einem würgenden Laut in die Höhe, und Arri konnte sehen, was die Fackel seinem Gesicht angetan hatte: Nahezu das gesamte Haar und sein Bart auf der rechten Seite, da, wo ihn das brennende Holz getroffen hatte, waren zu schwarzer Schlacke verschmort, die auf seiner Haut klebte wie schmieriges Pech. Seine Lippe war aufgeplatzt und blutete, die Haut war so heftig gerötet wie nach einem schlimmen Sonnenbrand und mit kleinen, nässenden Stellen übersät, und wo sein rechtes Auge gewesen war, gähnte ein blutiges Loch, aus dem Schleim und eine wässrige Flüssigkeit über seine verbrannte Wange liefen. Im Fell seines Wisent-Umhangs nisteten Dutzende winziger rot glühender Funken, und der Gestank war jetzt so schlimm, dass sie kaum noch atmen konnte. Zitternd stemmte er sich an der Wand entlang in die Höhe, sank mit einem wimmernden Laut zurück und versuchte es abermals. Die brennende Fackel lag neben ihm. Eine blutige, ebenfalls mit nässenden Stellen aus rohem Fleisch übersäte Hand streckte sich nach ihr aus und verfehlte sie, als Arri im letzten Moment den Kopf zurückwarf.
Die hastige Bewegung ließ sie endgültig das Gleichgewicht verlieren. Arri stürzte ungeschickt nach hinten, aber diesmal schlug sie nicht auf dem steinernen Boden auf, weil etwas Weiches und Warmes ihren Sturz aufhielt. Keuchend vor Entsetzen rollte sie herum und schrie im nächsten Augenblick gellend, als sie in Runas weit offen stehende, leere Augen blickte. Es war der Körper des Mädchens, der ihren Sturz aufgefangen hatte.
Und es war die tote Runa, die sie vielleicht das Leben kostete, denn als Arri ihren Schrecken endlich überwunden hatte und sich aufrichten wollte, schloss sich eine entsetzlich starke Hand um ihren linken Fuß und zerrte sie zurück. Unwillkürlich trat sie mit dem anderen Fuß zu und traf einmal, zweimal, dreimal und so hart, dass ein stechender Schmerz durch ihr Gelenk schoss, aber die Hand ließ ihren Fuß trotzdem nicht los, sondern zerrte sie im Gegenteil immer weiter und weiter zurück. Verzweifelt krallten sich Arris Hände in die Schultern des toten Mädchens, aber es nutzte nichts; Runa wurde einfach zusammen mit ihr zurückgeschleift, und dann war da plötzlich noch eine zweite Hand, die nach ihrem anderen Knöchel grapschen wollte. Arri warf sich herum, trat noch einmal nach dem Gesicht des Mannes und traf ihn so hart, dass sie spüren konnte, wie seine Zähne splitterten.
Der Kerl heulte vor Schmerz und spuckte Blut. Dann wurde sie mit einem so brutalen Ruck herum und auf den Rücken geworfen, dass ihre Hände von Runas Schultern glitten und zwei oder drei ihrer Fingernägel abbrachen, aber sie nahm diesen neuerlichen Schmerz kaum noch wahr, so schlimm er auch sein mochte. Blind vor Angst, wie sie war, landete sie einen letzten, noch härteren Tritt in das zerstörte Gesicht des Angreifers, dann hatte er auch ihr anderes Fußgelenk gepackt, richtete sich endgültig auf die Knie auf und zerrte sie mit einem derben Ruck zu sich heran. Sein Haar schwelte noch immer, und auch die roten Glutfunken in seinem Umhang waren nicht erloschen, sondern schienen eher noch mehr geworden zu sein.
Sein verbliebenes Auge funkelte mit mörderischem Hass auf sie herab. Er würde sie nicht einfach nur töten, sondern ihr etwas Unbeschreibliches antun. Und er begann in diesem Moment damit.
Sein Gewand war noch im Weg, als er sie endgültig an sich heranzog. Wütend schlug er ihr rechtes Bein zur Seite und griff aus der gleichen Bewegung heraus nach unten, um das um seinen Leib gewickelte Gewand anzuheben. Arri angelte nach der mittlerweile nur noch schwelenden Fackel, zog sie zu sich heran und hielt ihr Ende an den Umhang des Angreifers. Im allerersten Moment züngelte nur ein winziges, heftig qualmendes Flämmchen aus dem struppigen braunen Fell, dann explodierte das Feuer regelrecht. Eine zischelnde Stichflamme schoss in die Höhe, züngelte gierig nach Armen und Schultern des Kriegers und leckte über seine verbrannte Gesichtshälfte.
Arri bemerkte mit fassungslosem Entsetzen, dass er es gar nicht zu spüren schien; vielleicht war er nicht mehr fähig, Schmerz zu empfinden, oder seine Wut war einfach zu groß. Seine Hand machte sich irgendwo an ihrem Schoß zu schaffen, und der Schmerz kam zurück, schlimmer und grausamer als zuvor - aber dann schrie er gellend auf, warf sich zurück und stürzte rücklings und brennend zu Boden.
Arri trat noch einmal nach ihm, warf sich herum und kroch hastig auf Händen und Knien ein Stück weit davon, bevor sie sich wimmernd aufrichtete und mit der linken Hand ihren zerrissenen Rock zusammenraffte - als gäbe es hier unten jemanden, vor dem sie sich verhüllen müsste! Zitternd drehte sie sich um, und der Anblick, der sich ihr bot, raubte ihr trotz allem schier den Atem.
Der Mann war zu Boden gestürzt, rappelte sich aber genau in diesem Moment wieder auf. Sein Umhang brannte. Flammen leckten an seiner gesamten rechten Seite empor, züngelten nach seinem Haar und seinem Gesicht, und ein wahrer Regen winziger glühender Funken stob aus dem schwelenden Fell und schien ihn zu umtanzen wie ein Schwarm unheimlicher Glühwürmchen, die in immer größerer Anzahl zum Angriff ansetzten. Auch in seinem Gewand und dem, was noch von seinem Haar und seinem Bart geblieben war, nisteten unzählige winzige rote Funken, doch der Gestank nach brennendem Haar war endgültig dem von verschmorendem Fleisch gewichen. Schreiend taumelte der Mann auf die Füße, schlug mit den Händen nach den Flammen und versuchte vergeblich, seinen mittlerweile lichterloh brennenden Umhang auszuziehen, bevor er, blind vor Angst und Schmerz, wie er sein musste, gegen die Wand prallte und abermals in die Knie brach.
Arri hatte genug gesehen. Taumelnd machte sie einen ersten Schritt und wäre um ein Haar wieder gestürzt, als sich ihr Fuß in Runas Kleid verfing. Sie riss sich mit einem spitzen Schrei los. Vielleicht war das das Schlimmste bisher überhaupt: Für einen Moment war es ihr, als versuche das tote Mädchen, nach ihr zu greifen, wie um sie doch noch festzuhalten, damit sie ihr Schicksal teilte. Runas Kopf rollte haltlos herum, und ihre leeren Augen schienen sie vorwurfsvoll anzustarren. Hinter ihr wurden die Schreie des brennenden Mannes lauter und spitzer. Der Gestank war unerträglich. Flackernder roter Lichtschein erfüllte den Stollen und verwandelte ihn in etwas, das eine schreckliche Ähnlichkeit mit dem Ort der Verdammnis hatte, den Sarn in so glühenden Schreckensfarben zu beschreiben verstand.
Endlich riss sie sich von dem furchtbaren Anblick los und stolperte weiter. Obwohl sie sich von dem brennenden Mann entfernte, schienen seine Schreie immer noch lauter und durchdringender zu werden, und sie spürte die Hitze des brennenden Umhangs selbst über die größer werdende Entfernung hinweg. Warum starb er nicht endlich? Warum starb er nicht endlich?
Mehr torkelnd als rennend hetzte sie auf das Ende des Stollens zu, fiel auf die Knie, rappelte sich wieder hoch und fiel abermals, bevor sie den Schacht und die Leiter erreichte und mit zitternden Fingern nach den groben Sprossen griff. Die Schreie hinter ihr wurden immer noch lauter, und als Arri in die Höhe zu klettern versuchte, glitten ihre Finger im ersten Moment ab, denn sie waren glitschig von ihrem eigenen Blut.
Erst beim zweiten Anlauf gelang es ihr, festen Halt zu finden und sich mühsam in die Höhe zu ziehen. Die rechteckige Öffnung am oberen Ende des Schachtes schien endlos weit entfernt; sie musste sich viel tiefer unter der Erde befinden, als sie angenommen hatte.
Hand über Hand, immer langsamer werdend und blutige Abdrücke auf den Leitersprossen hinterlassend, kletterte Arri weiter in die Höhe, auf einer Leiter, die durch einen bösen Zauber im gleichen Maße länger zu werden schien, in dem sie sie erklomm. Immer wieder glitten ihre Finger von ihrem unsicheren Halt ab, und mehr als einmal war sie fest davon überzeugt, im nächsten Moment abzustürzen und auf dem tief unter ihr liegenden Boden zerschmettert zu werden.
Das geschah nicht, aber kurz vor dem Ziel verließen sie endgültig die Kräfte, sodass sie innehalten und sich an die Sprossen klammern musste, um wieder zu Atem zu kommen. Mit klopfendem Herzen sah sie nach unten und stellte fest, dass das, was ihr wie eine schiere Endlosigkeit vorgekommen war, in Wahrheit geradezu lächerlich kurz war: kaum ein Dutzend Sprossen, die noch dazu nicht annähernd so weit auseinander lagen, wie sie gemeint hatte. Roter Feuerschein flackerte unter ihr, und sie glaubte noch immer, Schreie zu hören, weit entfernt und schrill und spitz, doch von unendlicher Qual erfüllt. Aber das konnte nicht sein. Der Mann war längst tot oder starb spätestens in diesem Augenblick.
Arri gab noch einen Moment zu, bis sie wenigstens halbwegs sicher war, die letzten beiden Sprossen überwinden zu können, dann griff sie mit zusammengebissenen Zähnen nach oben und zog sich keuchend ins Freie.
Die Leiter endete in einem winzigen, spärlich beleuchteten Raum, der von Schatten und zahllosen Umrissen erfüllt war und kaum Platz für den rechteckigen Ausschnitt im Boden bot, unter dem der Schacht in die Tiefe führte. Mit letzter Kraft ließ sich Arri zur Seite kippen, rollte ein Stück weit von dem gähnenden Abgrund fort und rang keuchend nach Atem. Plötzlich spürte sie, wie erschöpft und ausgelaugt sie war. Sie hatte überall Schmerzen, und selbst das Atmen schien ihr mit einem Male so große Mühe zu bereiten, dass es einer bewussten Anstrengung bedurfte, um ihre Lungen mit Luft zu füllen.
Aber es war noch nicht vorbei. Da war noch immer der zweite Mann, Nors Krieger, der Runa getötet hatte und der in diesem Augenblick vielleicht auf der Suche nach ihrer Mutter war, um auch sie umzubringen oder ihr etwas vielleicht noch viel Schlimmeres anzutun. Sie musste Lea finden und sie warnen!
Arri blieb trotzdem noch einige weitere Augenblicke reglos und mit geschlossenen Augen auf dem Rücken liegen, bis sich ihr hämmernder Puls einigermaßen beruhigt hatte und sie wieder halbwegs zu Atem gekommen war, dann stemmte sie sich mühsam und auf zitternden Händen und Knien in die Höhe. Jetzt, wo sich ihre Augen an das veränderte Licht gewöhnt hatten, erkannte sie, dass der Raum nicht so winzig war, wie sie zuerst geglaubt hatte, sondern ganz im Gegenteil erstaunlich groß - nur war er derart mit allen möglichen Dingen und Werkzeugen voll gestopft, dass er drückend eng wirkte; ein Eindruck, den die niedrige, von schweren Balken gestützte Decke noch verstärkte. Es gab nur eine einzige, halb offen stehende Tür, durch die rötlicher Lichtschein und gedämpfte, aber aufgeregt durcheinander redende Stimmen drangen. Das Kind schrie noch immer, und noch immer auf die gleiche, fast unheimlich regelmäßige Weise.
Arri machte einen Schritt auf die Tür zu und knickte ein. Hastig streckte sie den Arm aus, fand an irgendetwas Halt und erschrak, als sie an sich herabsah. Sie war praktisch nackt. Ihr Rock, den sie krampfhaft mit einer Hand umklammert hielt, hing schief herunter, und die Bluse, vom Saum bis zum Halsausschnitt aufgeschnitten und zusätzlich überall zerrissen, wollte ihr wie ein zerfetzter Umhang immer wieder von den Schultern rutschen; und sie war über und über mit Blut besudelt, ihrem eigenen Blut, aber auch dem des Mannes, den sie getötet hatte.
Ihr kam erst jetzt wirklich zu Bewusstsein, was geschehen war, und ein sonderbares Gefühl von Bitterkeit breitete sich in ihr aus. Sie fühlte sich schuldig, und auch der Gedanke, dass dieses Gefühl einfach nur widersinnig war, änderte daran gar nichts. Sie hatte keine Wahl gehabt. Der Mann hätte sie umgebracht, wenn sie sich nicht gewehrt hätte, ganz gleich, was sie auch gesagt oder getan hätte, daran bestand nicht der mindeste Zweifel. Er hätte ihr auf unvorstellbare Weise Gewalt angetan und sie danach umgebracht, oder vielleicht auch gewartet, bis sein Kamerad zurück gewesen und über sie hergefallen wäre, und sie dann umgebracht, aber umgebracht hätte er sie auf jeden Fall, und wahrscheinlich auf allergrausamste Weise. Sie hatte es tun müssen. Dennoch empfand sie keinen Triumph. Der Mann hatte den Tod verdient, schon wegen dem, was sein Kamerad Runa angetan hatte, aber es war trotzdem ein schreckliches Gefühl, einen Menschen getötet zu haben, getötet mit den eigenen Händen.
Vorsichtig löste sie die Hand von ihrem Halt und lauschte in sich hinein. Ihre Knie fühlten sich so wackelig an, als hätten sich ihre Knochen in weichen Brei verwandelt, und auch der Schmerz in ihrem Schoß war wieder da - er war niemals weg gewesen, aber für eine Zeit hatte sie sich in einer Welt bewegt, in der Schmerzen und Furcht keine Macht mehr hatten -, so schlimm, dass sie sich nur mit vorsichtigen kleinen Schritten und weit nach vorn gebeugt bewegen konnte. Aber sie konnte sich bewegen, und das allein zählte.
Mit zusammengebissenen Zähnen schlurfte sie auf die Tür zu, stieß sie gänzlich auf, indem sie sich schwer mit der Schulter dagegen lehnte, und fiel mehr hindurch als sie ging.
Unversehens fand sie sich in dem großen Raum wieder, in dem sie am Abend zusammen mit ihrer Mutter und Targan gewesen war, nicht einmal weit von der Stelle entfernt, an der sie die drei Fremden das erste Mal gesehen hatte, von denen zwei nun tot waren; und der dritte würde nur allzu bald sterben, dafür würde sie sorgen, dachte sie grimmig. Seltsam, auf welch absonderlichen Wegen sich ihre Gedanken bewegten. Das Wissen, den Mann unten in der Mine getötet zu haben, machte ihr immer noch zu schaffen, und doch verspürte sie zugleich eine grimmige Entschlossenheit, auch seinen Kameraden tot zu sehen.
Sie machte einen weiteren, taumelnden Schritt und blieb wieder stehen, als sie ihre Mutter und Targan erblickte, die am anderen Ende des Raumes standen und aufgeregt mit einem dritten Mann sprachen, der verfilztes langes Haar hatte und einen schmutzstarrenden Wisentmantel trug; der Streit, den sie schon unten gehört zu haben glaubte. Niemand hier im Raum schien mehr zu schlafen. Die meisten hatten sich halb auf ihren Lagern aufgerichtet und folgten dem lautstarken Streit zwischen Lea und dem Fremden, manche waren auch halb aufgestanden, und Arri bemerkte, dass sich die eine oder andere Hand nach einer Waffe oder einem Knüppel ausstreckte. Die Spannung, die in der Luft lag, war fast mit Händen greifbar.
Arri machte einen weiteren, taumelnden Schritt und blieb wieder stehen. Die Tür, durch die sie hereingekommen war, fiel mit einem hörbaren Klacken hinter ihr zu, und der eine oder andere Kopf flog mit einem Ruck herum. Bisher hatten weder ihre Mutter noch Targan etwas von ihrem Eintreten bemerkt, denn sie waren viel zu sehr auf ihr Gespräch konzentriert, aber das änderte sich, als Arri einen weiteren Schritt machte und sie die Kräfte verließen. Hilflos fiel sie auf die Knie, stützte sich mit der linken Hand ab und versuchte mit der anderen, ihren zerrissenen Rock zusammenzuhalten, und was dann geschah, ging fast zu schnell, als dass sie hinterher genau hätte sagen können, wie es geschah und in welcher Reihenfolge: Targan und ihre Mutter hoben mit einem Ruck die Köpfe und sahen in ihre Richtung. Leas Augen wurden groß, und ein Ausdruck von Verblüffung und Schrecken erschien in ihrem Blick, und auch der Fremde wirbelte herum, und der Ausdruck auf seinem Gesicht wandelte sich im Bruchteil eines Atemzuges von Unglauben zu maßlosem Entsetzen. Dennoch reagierte er erstaunlich schnell. Bevor er sich gänzlich umgedreht hatte, zuckte seine rechte Hand bereits unter den Umhang und schloss sich um den Griff des Schwertes, das er darunter trug.
Doch so schnell er auch war, es reichte nicht.
Noch während er sich umdrehte, versuchte er seine Waffe unter dem Umhang hervorzuzerren, aber er hatte die Klinge nicht einmal ganz aus dem Gürtel gezogen, als Leas Schwert regelrecht in ihre Hand zu springen schien. Arri sah weder, dass sie ausholte, noch wirklich den Hieb, mit dem die Klinge aufblitzte und den Mann so mühelos enthauptete, wie die Sense eines Bauern durch trockenes Stroh fährt. Der kopflose Torso führte die begonnene Bewegung noch fast zu Ende, als hätte der Leib, seines Gehirns beraubt, nicht begriffen, dass er längst tot war, und selbst das Schwert glitt noch ein gutes Stück weiter aus seiner Scheide heraus, bevor er ganz langsam in die Knie brach und dann nach vorn kippte. Der abgeschlagene Schädel prallte mit einem dumpfen Laut auf dem Boden auf und rollte davon wie ein hässlich bemalter Kürbis, den Mund zu einem Schrei geöffnet, der nie mehr über die Lippen kommen sollte. Noch bevor er gänzlich zur Ruhe gekommen war, stürmte Lea bereits auf Arri zu, während Targan einfach wie gelähmt dastand und aus hervorquellenden Augen auf den enthaupteten Leib zu seinen Füßen starrte.
Arri versuchte, in die Höhe zu kommen, aber ihre Knie gaben einfach unter dem Gewicht ihres Körpers nach. Sie hatte keine Kraft mehr. Alles war vorbei. Sie war gerettet und in Sicherheit, und es schien, als sei diese Erkenntnis genug, um ihr den Zugriff auf die verborgenen Reserven zu verwehren, die ihr bisher die Kraft gegeben hatten, immer noch irgendwie weiterzumachen. Alles drehte sich um sie, und sie wäre vollends gestürzt, wäre ihre Mutter nicht mit wenigen, weit ausgreifenden Schritten neben ihr erschienen, um sie im letzten Moment aufzufangen.
»Arianrhod!«, keuchte sie entsetzt. »Arianrhod, bei der großen Göttin - was ist geschehen? Wer hat das getan?« Sie ließ das Schwert fallen, schloss Arri in beide Arme und drückte sie einen Herzschlag lang mit solcher Kraft an sich, dass ihr der Atem wegblieb, dann schob sie sie auf halbe Armeslänge von sich, um sie anzusehen. In das Entsetzen auf ihrem Gesicht mischte sich jähe Wut. »Wer hat das getan?«, wiederholte sie. »Arianrhod, sprich! Was ist geschehen?«
»Runa«, murmelte Arri. Tränen liefen ihr über das Gesicht, ohne dass sie es auch nur merkte. »Runa ist... ist tot.«
»Runa ist...«, keuchte ihre Mutter. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Einen Herzschlag lang starrte sie Arri aus ungläubig aufgerissenen, fast schwarzen Augen an, dann drehte sie mit einem Ruck den Kopf und sah zu Targan. Der große Mann stand noch immer wie gelähmt neben dem enthaupteten Krieger, sah aber nun in ihre Richtung, und auch der Ausdruck auf seinem Gesicht begann sich ganz allmählich zu ändern. Aus ungläubigem Schrecken wurde Furcht, und dann etwas anderes, fast, als hätte er ihre Worte verstanden, obwohl das über die Entfernung hinweg schlichtweg unmöglich war. Vielleicht war das, was er in Leas Augen las, einfach zu eindeutig.
»Bist du sicher?«, wandte sich Lea wieder an Arri. Ihre Stimme bebte, wurde schärfer. »Was ist passiert? Wer... wer hat das getan?« Sie machte eine Kopfbewegung zu Targan und dem Toten zu seinen Füßen hin, aber Arri konnte nicht antworten, nicht einmal mehr mit einem Nicken.
Alles begann unwirklich zu werden. Die Stimme ihrer Mutter schien plötzlich wie von weit, unendlich weit her zu dringen, und ihr Gesicht begann sich vor ihren Augen zu verzerren. Sie verlor die Sinne, und sie konnte es spüren. Alle Kraft schien wie Blut aus einer klaffenden Wunde aus ihr herauszufließen, und eine sonderbar warme Dunkelheit griff nach ihren Gedanken und lullte sie langsam, aber auch unaufhaltsam ein. Aber sie durfte nicht ohnmächtig werden. Nicht jetzt. Sie musste ihrer Mutter sagen, was passiert war, und Targan...
»Arianrhod!« Lea ergriff sie bei den Schultern und schüttelte sie. »Was ist passiert? Antworte!«
Arri wollte es ja, aber sie konnte es nicht, und dann musste sie es auch nicht mehr.
Die Tür, durch die sie gerade selbst gestolpert war, flog mit einem Knall auf und gegen die Wand, und ein brennender Mann stürmte herein.
Es war, als hätte sie einen Blick direkt in den tiefsten Schlund der Hölle getan. Was sie sah, konnte nicht die Wirklichkeit sein! Der Mann war tot, vor ihren Augen verbrannt... und nun war er zurückgekommen, um sie zu holen und sie für das zu bestrafen, was sie ihm angetan hatte; vielleicht war es auch gerade anders herum, und die Unterwelt hatte ihn wieder ausgespieen, weil nicht einmal sie ihn haben wollte. Seltsamerweise hatte Arri nicht einmal Angst. Sie glaubte nicht, was sie sah. Es war vollkommen unmöglich. Der Mann war tot, und sie hatte endgültig das Bewusstsein verloren und durchlebte eine Fieberphantasie, in der sie die grässlichsten Bilder quälten, die nichts anderes als Ausdruck ihres schlechten Gewissens waren, einem Menschen diese unvorstellbare Qual angetan zu haben.
Sie wollte die Augen schließen und sich in die schützende Umarmung ihrer Mutter sinken lassen, den einzigen Platz auf der Welt, an dem sie wirklich Sicherheit finden konnte, aber die grässliche Vision gab keine Ruhe. Statt durch die Erkenntnis und ihre wirkliche Natur ihrer Daseinsberechtigung beraubt zu sein und zu verschwinden, machte die Erscheinung einen weiteren, lodernden Schritt in den Raum hinein, und plötzlich klang rings um sie herum ein Chor gellender Schreie auf. Die unsägliche Gestalt torkelte weiter, streckte zwei lodernde Arme in ihre Richtung aus, um sie endgültig zu umarmen und mit sich ins Verderben zu reißen, und ihre Mutter sprang auf, schwang das Schwert und rammte es dem Trugbild mit solcher Wucht in die Brust, dass es zurück und mit hoch geworfenen Armen gegen die Wand taumelte.
Die Wand fing Feuer, schlagartig und so gewaltig, als wäre sie mit Lampenöl getränkt. Lea riss ihr Schwert zurück, und der brennende Mann streckte nun die Arme nach ihr aus und machte einen weiteren Schritt, bei dem er brennenden Stoff und Fleischfetzen rings um sich herum verteilte. Beinahe augenblicklich brach in dem großen Raum Panik aus. Schreie gellten auf, überall waren plötzlich hastige, trampelnde Schritte, heftige Geräusche, und Lea schwang ihre Zauberklinge und führte einen weiteren, gewaltigen Hieb gegen den lodernden Dämon, der seinen rechten Arm dicht unterhalb der Schulter traf und kurzerhand abtrennte. Trotzdem torkelte die Gestalt weiter, setzte mit ihren Schritten den Boden und Felle und Decken der Schlafstätten in Brand und versuchte mit dem verbliebenen Arm nach Lea zu schlagen, bevor diese den Angreifer mit einem weiteren, noch gewaltigeren Schwerthieb endgültig zu Fall brachte.
Wieder drohten Arri die Sinne zu schwinden, und vielleicht hatte sie für einen Moment tatsächlich das Bewusstsein verloren, denn das Nächste, was sie wahrnahm, war die Hand ihrer Mutter, die sie grob am Arm packte und in die Höhe zerrte. Sie stolperte, fiel, und fand wieder in ihren Schritt zurück, als ihre Mutter sie mit sich zerrte. Schreie und Lärm und abscheulich zuckendes, rotes Licht vermischten sich um sie herum zu einem grauenhaften Bild, wie es grässlicher nicht den schlimmsten Albträumen entspringen konnte. Schwarzer, in der Kehle brennender Rauch erfüllte mit einem Mal die Luft, und die ganze Welt schien sich zu drehen und ins Wanken zu geraten. Jemand prallte gegen sie, riss sie um ein Haar von den Füßen und wurde wieder von dem tobenden Feuer ringsum verschlungen, als Lea ihn wegstieß und Arri gleichzeitig weiter zerrte.
Stolpernd und von ihrer Mutter abwechselnd gezogen und gestoßen, erreichten sie endlich die Tür und prallten so hart gegen den Rahmen, dass Arri tatsächlich stürzte. Ihre Mutter versuchte, sie wieder in die Höhe zu zerren, verlor durch die hastige Bewegung selbst das Gleichgewicht und sank ungeschickt auf ein Knie herab; allerdings nur, um sich sofort wieder hochzustemmen und gleichzeitig nach Arris Arm zu greifen.
Sie hatte gedacht, dass es nicht mehr schlimmer kommen könnte, aber als sie sich im Aufstehen umwandte und zurücksah, erwies sich diese Erwartung als falsch: Es konnte immer schlimmer kommen.
Der große Raum hatte sich endgültig in einen Ort der Verdammnis verwandelt, wie ihn selbst Sarn nicht in seinen schlimmsten, vom übermäßigen Genuss berauschender Pilze hervorgestöhnten Hassreden hätte ausmalen können. Obwohl seit dem Moment, in dem der brennende Mann hier hereingekommen war, kaum Zeit vergangen sein konnte, hatte mittlerweile die gesamte rückwärtige Wand Feuer gefangen. Arri hatte das entsetzliche Gefühl, dass sich die brennende Gestalt des Kriegers noch immer inmitten der roten und gelben Hölle bewegte, als versuche er, aufzustehen und ihnen zu folgen, obwohl das vollkommen unmöglich war. Ihre Mutter hatte ihn mit dem Schwert durchbohrt, und er musste tot sein; es war nur eine Täuschung, die durch das zuckende Licht und ihre eigene Furcht zustande kam.
Und die Flammen beschränkten sich nicht nur auf die hölzerne Wand, gegen die der sterbende Krieger geprallt war. Auch aus der offen stehenden Tür hinter ihm zuckte gelber und weißer Feuerschein, gefolgt von fettigem, schwarzem Qualm, der sich unter dem Türsturz hindurchschlängelte und brodelnd nach oben kroch. Schon in den wenigen Atemzügen, die Arri und ihre Mutter gebraucht hatten, um die Tür zu erreichen, hatte sich eine schwarze Gewitterwolke unter der Decke gebildet, die mit fast unheimlicher Schnelligkeit wuchs. Was immer Targans Familie in dem kleinen Raum hinter der Tür gelagert hatte, brannte wie Pech.
»Weiter!«, keuchte Lea. Ohne Arri auch nur die Möglichkeit zu geben, ihrer Aufforderung Folge zu leisten, zerrte sie sie herum und stieß sie weiter vor sich her auf den Ausgang zu.
Kurz bevor sie ihn erreichten, sah Arri noch einmal über die Schulter zurück, aber sie bedauerte fast, es getan zu haben. Targans Familie hatte ihren Schrecken immerhin weit genug überwunden, dass die Ersten begannen, das Feuer zu bekämpfen, indem sie mit Decken, Fellen und allem anderen auf die Flammen einschlugen oder Wasser ins Feuer schütteten - was sich zumindest in einem Fall als fatal erwies, denn die Flüssigkeit, die einer der Männer mitsamt dem Krug, der sie enthielt, in die Flammen warf, loderte plötzlich hell auf und verschlimmerte das Durcheinander nur noch. Die brodelnde schwarze Wolke unter der Decke war noch dichter geworden, und Arri verspürte ein neues, scharfes Kratzen im Hals, das ihr sagte, dass dieser Qualm nicht nur Qualm war. Dann erglühte das Licht hinter der Tür zu greller weißer Glut, und fast gleichzeitig erscholl ein dumpfer Knall, und Arri konnte spüren, wie das gesamte Haus unter ihren Füßen erbebte, als wolle es damit signalisieren, dass ihm niemand mehr entkommen konnte. Ihre Mutter riss sie rüde zurück und stieß sie so derb durch den Ausgang und nach draußen, dass sie auf die Knie fiel.
Mit einem einzigen Satz landete Lea neben ihr, riss sie - noch derber als zuvor - auf die Füße und stieß sie weiter. »Die Pferde!«, keuchte sie. »Hol die Pferde!«
»Die Pferde?«, wiederholte Arri verständnislos. »Aber wir müssen...«
»Sofort!«, unterbrach sie ihre Mutter, und diesmal in so scharfem, fast panischem Ton, dass Arri unwillkürlich herumfuhr und in die Dunkelheit hineinstolperte; eine Dunkelheit, die nicht mehr annähernd so vollkommen war wie vorhin, als sie mit Runa (die jetzt tot war) den gleichen Weg entlanggestolpert war. Das matte Dunkelrot, das durch die Fenster des großen Gebäudes gedrungen war, hatte sich in ein loderndes Orange und Gelb verwandelt, und auch hier draußen glaubte Arri schon den ätzenden schwarzen Qualm zu riechen. Schreie und hektischer Lärm wurden mit jedem Schritt, den sie sich der Ecke des Gebäudes näherte, lauter, und kurz bevor sie ihr Ziel erreichte, glaubte sie einen weiteren, noch gewaltigeren Knall zu hören, der aus dem Haus herauswehte.
Hinter der geschlossenen Tür erscholl das panikerfüllte Wiehern und Kreischen der Pferde, und noch bevor Arri den schweren Balken beiseite gewuchtet hatte, roch sie auch hier etwas Scharfes, das die Luft verpestete. Sie brach sich zwei weitere Fingernägel ab, weil sie sich in ihrer Hast viel zu ungeschickt anstellte, um den Balken hochzuwuchten, zerrte die Tür bibbernd vor Furcht und Schmerz, weit genug auf, um sich hindurchzuquetschen, und war im ersten Moment fast blind. Dumpfe, polternde Laute und der Geruch nach Panik schlugen ihr entgegen. Arri tastete sich mit vorgestreckten Händen in die Dunkelheit hinein, fühlte etwas Weiches, das unter ihrer Berührung zurückprallte, und wäre schon wieder fast gefallen, als sie auf etwas Nassem und Glitschigem ausglitt.
Dann war raues Holz unter ihren Fingern, und einen Moment später der grobe Strick, den ihre Mutter Zügel genannt hatte, als sie ihr zum ersten Mal ein Pferd zum Führen anvertraut hatte. Wenigstens betete Arri, dass es der Zügel war, während sich ihre Hände rasch daran entlang in die Höhe tasteten. Sie war vollkommen blind. Sie konnte hören, wie die Pferde an ihren Stricken zerrten und in Panik um sich schlugen, und sie konnte nur hoffen, dass sie nicht von den wirbelnden Hufen getroffen wurde. Dann spürte sie Fell unter ihren Fingern und etwas Weiches, Feuchtes. Etwas schlug nach ihrer Hand, aber Arri griff nur umso fester zu, folgte dem Strick mit den blutigen Fingern der anderen Hand wieder nach unten bis zu der Stelle, an der er festgebunden war, und schaffte es irgendwie, den Knoten zu lösen. Das Pferd versuchte sich loszureißen, aber Arri hielt den Strick mit aller Kraft fest, stolperte rückwärts gehend aus dem Stall und zog das widerstrebende Tier mühsam hinter sich her.
Kaum waren sie draußen, stieß das Tier ein schrilles Kreischen aus, stieg auf die Hinterbeine und schlug mit den Vorderläufen aus. Arri zog hastig den Kopf ein, um nicht von den wirbelnden Hufen getroffen zu werden, hielt den Zügel aber weiterhin fest und zerrte das Tier mit sich. Aus dem Haus drang mittlerweile ein ganzer Chor gellender Stimmen, die ganz eindeutig nicht allein der Furcht und dem Schrecken entsprangen, sondern vor Schmerz schrien, und das flackernde rot-orange Licht, das aus den Fenstern fiel, war noch kräftiger geworden.
Lea eilte ihr entgegen und nahm ihr den Zügel ab, gerade als Arri sicher war, das scheuende Tier nicht mehr halten zu können. »Das andere!«, befahl sie. »Hol das andere Pferd auch! Schnell!«
Arri stolperte blindlings los, um ihrem Befehl nachzukommen, aber sie verstand immer weniger, was ihre Mutter eigentlich vorhatte. Natürlich wollte sie nicht, dass die Tiere in ihrem Stall verbrannten, sollte das Feuer auf das ganze Haus übergreifen, aber warum ließ sie das Pferd dann nicht einfach laufen und half ihr, auch die anderen Tiere zu befreien? Egal. Torkelnd vor Schwäche und Angst, erreichte sie zum zweiten Mal die Stalltür und fuhr entsetzt zusammen, als sie plötzlich auch dahinter flackerndes rotes Licht erblickte. Das Schreien der Tiere war mittlerweile so schrill und angsterfüllt, dass es in ihren Ohren schmerzte, und ein warmer, scharf riechender Rauch schlug ihr entgegen. Arri brauchte all ihre Willenskraft, um ihre Furcht niederzukämpfen und weiter zu stolpern.
Das Feuer hatte noch nicht auf den Stall selbst übergegriffen, aber es war nur noch eine Frage der Zeit. Der Schein der Flammen drang durch die schmalen Ritzen der Wände, wo der Stall an das eigentliche Haus grenzte, und derselbe, luftabschnürende Geruch, der das Haus erfüllt hatte, lag plötzlich auch hier in der Luft und machte ihr nicht nur das Atmen fast unmöglich, sondern trieb ihr auch beinahe sofort die Tränen in die Augen. Irgendwo links von ihr war ein riesiger, verschwommener Schemen, der sich aufbäumte und kreischend vor Angst an dem Strick riss, mit dem er festgebunden war, aber es war nicht nur dieses eine Pferd; Arri erblickte noch mindestens drei oder vier weitere Tiere, die in schmalen hölzernen Verschlagen angebunden waren und mit aller Kraft an ihren Fesseln rissen und zerrten.
Sie konnte diese Tiere nicht einfach ihrem Schicksal überlassen! Noch wenige Augenblicke, und die Flammen, deren Hitze sie jetzt auch hier drinnen deutlich spürte, würden auch auf den Stall übergreifen, sodass die Tiere qualvoll verbrennen mussten!
Arri zögerte nur den Bruchteil eines Atemzuges (den zu nehmen sie sich wohlweislich hütete), dann stürmte sie an dem scheuenden Pferd vorbei und näherte sich dem nächsten Verschlag. Mit fliegenden Fingern zerrte sie den Riegel zurück, nestelte nach dem Strick, mit dem das Pferd darin angebunden war, und bekam den Knoten irgendwie auf. Zum Dank hätte das Pferd sie beinahe über den Haufen gerannt, hätte Arri sich nicht im letzten Moment zur Seite geworfen; so aber prallte sie derartig hart mit dem Hinterkopf gegen einen Balken, dass Funken und Lichtblitze vor ihren Augen aufloderten und sie benommen zu Boden sank. Als sie sich wieder aufrappelte, war das Pferd verschwunden, aber das Durcheinander rings um sie herum hatte eher noch zugenommen. Das Gitter aus rot glühenden Linien auf der Rückwand des Stalls war grober geworden, der Feuerschein drang jetzt nicht mehr in haarfeinen Linien durch die Ritzen zwischen den Brettern, sondern schien wie ein wütendes Tier dagegen anzurennen, das an seinen Ketten zerrte. Das Toben der Pferde war noch schlimmer geworden. Der gesamte Stall schien unter den Hufschlägen der panischen Tiere zu erbeben, und das, was gerade geschehen war, machte Arri deutlich, wie gefährlich ihr Versuch war, sie zu retten.
Dennoch stemmte sie sich taumelnd in die Höhe und griff mit zitternden Fingern nach dem Riegel des nächsten Verschlages. Das darin eingesperrte Tier hämmerte mit solcher Gewalt mit den Hufen gegen das Holz, dass es Arri im ersten Moment nicht einmal gelang, den Riegel zurückzuschieben. Als er endlich beiseite glitt, sprengte das Pferd so ungestüm an ihr vorbei, dass es gegen einen Balken prallte und mit einem Schmerzensschrei zu Boden fiel. Seine wirbelnden Hufe fuhren wie tödliche Geschosse durch die Luft, sodass sich Arri wiederum mit einem fast verzweifelten Sprung in Sicherheit bringen musste, um nicht getroffen zu werden.
Irgendwie gelang es dem Tier, sich wieder in die Höhe zu stemmen und aus dem Stall zu humpeln - offensichtlich hatte es sich weder etwas gebrochen noch sich sonst wie schwer verletzt -, aber es waren immer noch drei Pferde hier drinnen, die elendiglich verbrennen würden, wenn sie sie nicht aus ihren Gefängnissen befreite. Mittlerweile leckten die ersten, noch dünnen Flämmchen durch die Ritzen in der Wand, und es roch durchdringend nach brennendem Holz; und ganz leicht auch nach verschmortem Fell und brennendem Fleisch.
Arri torkelte hustend und mit tränenden Augen auf den nächsten Verschlag zu und fühlte sich plötzlich von einer starken Hand an der Schulter gepackt und zurückgezerrt. Eine Stimme schrie etwas, das sie im ersten Moment nicht verstand, dann wurde sie herumgerissen.
»Arianrhod!«, schrie ihre Mutter. »Was, zum Teufel, tust du? Wir müssen weg!«.
Arri wollte antworten, aber plötzlich ergriff sie ein so heftiger Hustenreiz, dass sie nur ein qualvolles Würgen zustande brachte. Dennoch riss sie sich los und versuchte, ihrer Mutter mit heftigem Winken klarzumachen, was sie wollte, aber Lea war bereits bei ihrem zweiten Pferd angelangt. Sie machte sich nicht die Arbeit, das Seil zu entknoten, sondern zerschnitt es mit ihrem Schwert und zog das Tier beinahe gleichzeitig aus seinem Verschlag, und sonderbarerweise wehrte es sich nicht einmal, sondern ließ nur ein erleichtertes Schnauben hören, während Lea es rasch in Richtung Ausgang führte. »Arianrhod!«, schrie sie. »Komm!«
»Aber da sind doch noch...«, begann Arri.
»Komm!«, schrie Lea erneut.
Arri starrte sie fassungslos an. Die verbliebenen Pferde schrieen jetzt vor Angst, aber auch vor Schmerz, und das Dröhnen, mit dem sie ihre Hufe gegen die Bretterwände schlugen oder sich mit den Leibern dagegenwarfen, klang wie Hammerschläge. Sie konnten die Tiere doch nicht einfach verbrennen lassen!
Doch offensichtlich hatte ihre Mutter genau das vor. Sie war unter der Tür stehen geblieben und winkte ihr mit der freien Hand zu, aber es war jetzt keine Aufforderung mehr, sondern ein eindeutiger Befehl, dem sie sich nicht mehr zu widersetzen wagte.
»Aber wir... wir können die Pferde doch nicht einfach... verbrennen lassen«, murmelte sie entsetzt. Hinter ihr schrieen die Tiere vor Qual und Todesangst, wie um ihre Worte zu unterstreichen, aber ihre Mutter war schon weiter, und Arri machte sich mit einem Gefühl unendlicher Schuld daran, ihr zu folgen.
Erst, als sie wieder ins Freie stolperte, wurde ihr bewusst, wie heiß es drinnen im Stall bereits geworden war und wie schlecht und stickig die Luft. Während sie ihrer Mutter mit hastigen kleinen Stolperschritten folgte, atmete sie gierig ein, und die Kälte und die frische Luft klärten auch ihre Gedanken - obwohl sie nicht einmal sicher war, ob sie das wirklich wollte. Hatte sie der Anblick des Hauses vorhin erschreckt, so erschien er ihr nun durch und durch entsetzlich. Loderndes rotes und gelbes Licht drang aus den Fenstern hervor, ein Chor gellender Schreie und schwarzer Qualm, deren bloßer Anblick schon fast ausreichte, um ihr die Kehle zuzuschnüren. Ihre Mutter hatte das zweite Pferd mittlerweile zum Wagen geführt und begann das Tier mit hektischen Bewegungen anzuschirren. Das Pferd wehrte sich und versuchte nach ihr zu beißen, aber Lea brach seinen Widerstand mit einem harten, blitzschnellen Schlag auf die empfindlichen Nüstern und bedeutete Arri gleich darauf mit einem Wink, sich schneller zu bewegen.
»Schnell!«, schrie sie. »Hilf mir!«
Arri gehorchte einfach nur noch, ohne zu denken. Sie kam sich vor wie in einem Albtraum gefangen, der kein Ende nehmen wollte, sondern nur immer noch schlimmer und schlimmer wurde, je verzweifelter sie versuchte, daraus zu erwachen. Taumelnd kam sie neben ihrer Mutter zum Stehen und griff nach den groben Stricken, mit denen Lea das sich immer noch heftig sträubende Tier anzuschirren versuchte. In ihrer Hast und mit ihren blutigen, halb tauben Fingern stellte sie sich so ungeschickt an, dass sie sie vermutlich mehr behinderte, als dass sie ihr half, aber Lea sagte nichts, sondern überzeugte sich mit einer fahrigen Bewegung davon, dass das Geschirr fest saß, dann schwang sie sich mit einer einzigen, kraftvollen Bewegung auf den Kutschbock, griff mit der linken Hand nach dem Zügel und versuchte mit der anderen, Arri zu sich heraufzuzerren. Es gelang ihr nicht, weil sie sich instinktiv sträubte, und auch Leas Kräfte schienen mittlerweile erschöpft. Arri fiel erst jetzt auf, wie mitgenommen ihre Mutter wirkte. Ihr Gesicht war rußverschmiert, und auch ihr Umhang und ihr Kleid wiesen überall Brand- und Rußflecken auf; vielleicht war es auch das Blut des Mannes, den sie erschlagen hatte.
»Verdammt!«, herrschte Lea sie an. »Komm endlich her!«
Ganz im Gegenteil versuchte Arri nur mit noch größerer Kraft, sich loszureißen. Sie konnte nicht sagen, ob ihre Panik allmählich schwand oder nur eine andere Qualität annahm, aber plötzlich wurde ihr klar, was ihre Mutter vorhatte, und der Gedanke war so entsetzlich und so widersinnig zugleich, dass sich alles in ihr einfach dagegen sträubte, ihn auch nur zu denken.
Immer verzweifelter riss und zerrte sie und warf sich zurück, aber Lea hielt sie mühelos fest und zog sie langsam, aber auch ebenso unaufhaltsam zu sich herauf auf den Wagen. Die beiden Tiere scheuten und stemmten sich gegen ihr Geschirr, und der ganze Wagen begann zu beben und sich von einer Seite auf die andere zu neigen wie ein vollkommen überladenes Boot im Sturm.
»Arianrhod!«, schrie ihre Mutter. »Hör damit auf, oder ich muss dich schlagen!«
Es war nicht diese Drohung, die Arri dazu brachte, ihren Widerstand einzustellen, sondern der viel schlimmere Unterton in der Stimme ihrer Mutter; da war plötzlich eine Härte und Unerbittlichkeit, die sie trotz allem in dieser Form noch nie gehört hatte. Und dasselbe spiegelte sich in ihrem Blick wider und ließ Arri nichts anderes als pure Angst vor ihrer Mutter empfinden. Sie machte noch immer keine Anstalten, auf den Wagen hinaufzusteigen, ließ sich nun aber widerstandslos von ihr auf die schmale Bank heraufzerren, und kaum hatte sie es getan, da griff ihre Mutter mit beiden Händen nach den Zügeln und ließ die Stricke wie eine Peitsche knallen.
Die Pferde wieherten unruhig und setzten sich unverzüglich in Bewegung. Doch das schwerfällige Gefährt rollte so langsam los, als kämpfte es gegen einen unsichtbaren, aber geradezu unüberwindlichen Widerstand. Noch einmal näherten sie sich dem Haus, denn der Wagen war von seiner Bauweise her nicht dafür geeignet, auf der Stelle zu wenden, und aus dem großen, von mittlerweile fast weißer Glut erfüllten Fenster, an dem sie entlangfuhren, drang ein Schwall erstickender Hitze, Qualm, Schreie, hektischer Lärm und ein furchtbares, helles Zischen und Prasseln, welches sich Arri nicht erklären konnte, das ihr Entsetzen aber weiter anstachelte. Dort drinnen starben die Menschen, die nicht mehr rechtzeitig vor der Wucht des Feuers und dem erstickenden Rauch hatten fliehen können, das spürte sie.
»Aber... aber wir können sie doch nicht...«
»Wir können nichts mehr für sie tun«, fiel ihr Lea ins Wort. Sie bückte sich, als ein Funkenschauer aus dem Fenster herausschlug und drohte, ihr das Haar und die Schultern zu versengen, und ließ dann die Zügel abermals wie eine Peitsche knallen. Die Pferde versuchten schneller zu gehen, und für einen Moment hatte Arri das schreckliche Gefühl, dass sich der ganze Wagen so weit zur Seite neigte, als wolle er umstürzen. Dann fanden die kräftigen Hufe der Tiere Halt, und das schwerfällige Gefährt setzte sich schaukelnd, aber rascher werdend, in Bewegung und entfernte sich von dem Haus. Arri drehte sich nun auf der Sitzbank um und sah zurück; mittlerweile drang die unheimliche rote Glut nicht mehr nur aus den Fenstern oder der weit offen stehenden Tür. Auch durch die Ritzen der Wände und des Daches glühte es überall drohend und heller werdend, und Arri konnte die brodelnden schwarzen Qualmwolken, die zum Himmel stiegen, selbst in der fast Sternenlosen Nacht erkennen. Die gellenden Schmerzensschreie schienen lauter zu werden, je weiter sie sich entfernten, und nun glaubte Arri auch eine Anzahl von schattenhaften Gestalten zu erkennen, die aus dem Haus stürmten. Mindestens eine von ihnen brannte.
»Wir können nichts mehr für sie tun, Arianrhod«, sagte ihre Mutter mit sonderbar leerer, fast tonloser Stimme und ohne sich umzuwenden. »Es wiederholt sich alles. Es ist... wie in unserer alten Heimat. Das Feuer holt sich seine Opfer, ohne dass es jemand aufhalten könnte.«
»Aber sie sterben«, murmelte Arri. »Ihr Haus brennt nieder. Sie werden alles verlieren, was sie haben. Es sind doch deine Freunde.« Fast gewaltsam riss sie den Blick von dem brennenden Haus los und wandte sich zu ihrer Mutter um. Der Wagen schoss mittlerweile mit einer Geschwindigkeit dahin, die sie dem behäbigen Gefährt niemals zugetraut hätte, und schien sogar immer noch schneller zu werden, sodass es Leas ganzer Aufmerksamkeit und Geschicklichkeit bedurfte, die Zügel zu halten und die Pferde daran zu hindern, vollends durchzugehen, was zweifellos zu einer Katastrophe geführt hätte. Ihr Blick war starr nach vorn und doch zugleich in die ferne Vergangenheit gerichtet, und für die Dauer eines Herzschlags begriff Arri das ungeheure Ausmaß der Katastrophe, die ihre Heimat vernichtet und ihr den Vater genommen hatte. Das Gefühl eines schrecklichen Verlusts schien Gegenwart und Vergangenheit miteinander in einem einzigen Feuerrad zu verschmelzen, und ein verzweifeltes Schluchzen entrang sich ihrer Brust, als sie an all die unschuldigen Menschen dachte, die damals wie heute gestorben waren.
Jetzt, da das Haus hinter ihnen immer heller und heller leuchtete wie ein riesengroßer Scheiterhaufen, schien die Dunkelheit vor ihnen noch intensiver zu werden. Alles, was weiter als einen halben Steinwurf vor den Pferden lag, war einfach verschwunden. Es war, als rasten sie auf eine schwarze Wand zu. »Es sind doch deine Freunde«, sagte Arri noch einmal. »Wir müssen ihnen helfen.«
»Dazu ist es zu spät«, antwortete Lea, ohne den Blick von der Dunkelheit zu lösen, die vor ihr lag. Arri kam es vor wie ein Omen; als wollten ihnen Sarns Götter der Finsternis klarmachen, dass von nun an alles, was vor ihnen lag, düster und gefährlich sein würde. »Vier weitere Hände retten sie jetzt auch nicht mehr.«
Natürlich entsprach das der Wahrheit, dachte Arri niedergeschlagen. Das Feuer war längst außer Kontrolle geraten und würde das Haus verzehren, ganz egal, wie sehr sich seine Bewohner auch dagegen wehrten. Aber darauf kam es nicht an. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass Targan und seine Familie ihre Freunde seien, und man ließ seine Freunde nicht einfach im Stich.
Das Schaukeln des Wagens nahm noch zu, aber er wurde nun doch wieder langsamer, während er den gewundenen Pfad hinaufrollte, den sie erst vor kurzem heruntergekommen waren. Als sie den Hügelkamm erreichten, begann sich der Himmel über den Bergen im Osten allmählich grau zu färben. Und dennoch hatte Arri das Gefühl, dass die Dunkelheit, die vor ihnen lag und in die sie hineinrollten, noch finsterer geworden war.