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Arri hätte selbst nicht genau sagen können, was sie erwartet hatte - doch für die nächsten fünf oder sechs Tage geschah rein gar nichts Außergewöhnliches, sah man einmal davon ab, dass Rahn ihr ganz offensichtlich aus dem Weg ging und sie selbst alle Hände voll zu tun hatte, um ihren kleinen Garten in Schuss zu halten und ihr sonstiges Tagwerk zu verrichten. Anfangs hatte sie noch ein paar Mal versucht, mit ihrer Mutter zu reden, aber stets entweder gar keine oder aber eine so abweisende Antwort erhalten, dass sie es bald aufgegeben und sich in beleidigtes Schweigen gehüllt hatte. Ihrer Mutter schien das nur recht zu sein. Anders als Arri es erwartet hätte, rief sie sie nicht zur Ordnung, sondern beließ es dabei, ihr dann und wann einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen - und ihr selbstverständlich die unangenehmsten und schwersten Arbeiten aufzutragen, die ihr nur einfielen.

Wenigstens kam es Arri so vor. Jeden Morgen schickte Lea sie mit frischem Verbandszeug und Salbe zu Kron, damit sie seine Wunden behandelte und sie selbst über die Genesung des Jägers auf dem Laufenden hielt. In den ersten ein oder zwei Tagen war Arri sicher, dass ihre Mutter das nur tat, um sie zu bestrafen, denn wann immer Kron sich dazu aufraffen konnte, überschüttete er sie mit den wüstesten Flüchen und Verwünschungen; und wenn er dazu zu müde oder zu erschöpft war, starrte er sie wütend und hasserfüllt zugleich an. Außerdem wurde der Weg zu seiner Hütte und wieder zurück jedes Mal zur reinen Qual für sie.

Einmal war sie Sarn begegnet, der zwar nichts gesagt hatte, aber das war auch nicht nötig gewesen - der Blick, mit dem er sie gemustert hatte, war schlimmer gewesen als alles, was er hätte sagen können; ein anderes Mal waren ihr Osh und einige der anderen Kinder aus dem Dorf nachgelaufen und hatten ihr etwas hinterhergeschrien, was sie einfach nicht hatte verstehen wollen, ja, eines von ihnen hatte es sich sogar nicht verkneifen können, ihr einen Erdklumpen nachzuschleudern, der sie aber weit verfehlt hatte. Arri war mehr als wütend auf ihre Mutter. Sie schickte sie nicht nur ausgerechnet zu dem Menschen im Dorf, der sie am allerwenigsten sehen wollte, sondern hatte ihr auch noch diesen Irren Rahn auf den Hals gehetzt. Dass sie ihn in all der Zeit nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekam, änderte überhaupt nichts an ihrem Zorn, ja, auf eine gewisse Art schien es ihn eher noch schlimmer zu machen, denn ein Rahn, den sie sah, war ihr hundertmal lieber als einer, den sie nicht sah und der hinter ihrem Rücken wer weiß was ausbrütete.

Dann aber geschah etwas Seltsames. Arri fühlte sich von der schrecklichen Aufgabe, die ihre Mutter ihr aufgetragen hatte, noch immer gleichermaßen angewidert wie gedemütigt; Krons Armstumpf heilte zwar gut, und nicht nur das, sondern auch mit geradezu erstaunlicher Schnelligkeit, aber er bot trotzdem einen schrecklichen Anblick. Vielleicht waren es nicht einmal so sehr die entzündete Narbe und das rote, nässende Fleisch, von dem trotz allem noch immer ein leicht brandiger Geruch ausging, und ganz gewiss nicht Krons Beleidigungen und Flüche, die sie schon nach den ersten Besuchen kaum noch wahrnahm. Nein, was ihre Besuche in seiner Hütte so schrecklich machte, das war der Umstand, dass ihr sein Anblick die Verwundbarkeit Krons - und damit auch ihre eigene - vor Augen führte. Kron und seine beiden Brüder waren die mit Abstand stärksten Männer im Dorf gewesen. Das war stets so gewesen, und es hatte für Arri nie einen Zweifel daran gegeben, dass sie es auch bleiben würden. Nichts und niemand, nicht der furchtbarste Sturm, nicht der bitterste Winter und nicht das schrecklichste Raubtier, so hatte sie immer geglaubt, konnte diesen drei Männern etwas anhaben; wahrscheinlich noch nicht einmal ein Höhlenbär.

Nun war einer von ihnen tot und würde nie wiederkommen, der andere ein Krüppel, der nur durch das Wissen ihrer Mutter und die Gnade des Schicksals überhaupt noch lebte, und der Dritte, auch wenn er sich alle Mühe gab, sich nichts von seinen wahren Gefühlen anmerken zu lassen, ein gebrochener Mann, in dessen Augen eine Angst Einkehr gehalten hatte, die nie wieder daraus verschwinden würde. Arri fühlte sich verwundbar und hilflos, wenn sie in der Hütte des Jägers war. Was immer diesen drei Männern wirklich zugestoßen sein mochte - wie konnte irgendjemand hier im Dorf glauben, einer Gefahr Herr zu werden, mit der nicht einmal Grahl und seine Brüder fertig geworden waren?

Aber zugleich geschah noch etwas anderes, dass ihr am Anfang nicht einmal klar war. Ihr Widerwille, die vereiterten, übel riechenden Verbände zu lösen und Krons Wunde zu säubern, wurde keinen Deut schwächer. Ganz im Gegenteil schien er immer noch zuzunehmen, fast so als gäbe es Dinge, an die man sich nicht gewöhnen konnte, sondern die ganz im Gegenteil immer schlimmer wurden, je öfter man sie tat. Und trotzdem stellte sie schon bald etwas ganz Erstaunliches fest: Krons Wunde heilte langsam, aber sie heilte, und Arri begann Freude daran zu empfinden. Hatte sie sich noch am Anfang dazu zwingen müssen, den schrecklichen Stumpf auch nur anzusehen, so erfüllte sie nun jeder noch so kleine Fortschritt mit Freude. Bald musste sie sich nicht mehr dazu zwingen, sondern untersuchte die Wunde ganz im Gegenteil höchst aufmerksam und nahm jedes noch so winzige Zeichen einer Besserung voller Freude zur Kenntnis.

Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, mit ihrer Mutter kein Wort mehr zu wechseln, bis diese von sich aus das Schweigen brach und zumindest die Andeutung einer Entschuldigung über die Lippen brachte, ertappte sie sich doch schon am dritten Tag dabei, ihr voller Stolz von den Fortschritten zu berichten, die Krons Heilung machte. Ihre Mutter sagte auch dazu nichts, aber in ihren Augen erschien ein sonderbar warmer Ausdruck, den Arri zwar nicht wirklich verstand, der aber dennoch irgendetwas zwischen ihnen zu bereinigen schien. Von diesem Augenblick an begriff sie sehr viel besser als zuvor, warum ihre Mutter das hier tat und die Menschen trotz allem, was sie ihr angetan hatten, noch immer heilte: weil es einfach ein gutes Gefühl war, einem anderen zu helfen.

Zur selben Zeit setzten sie ihre nächtlichen Ausflüge in den Wald fort, und dabei schienen ihr Streit und die düsteren Wolken, die am Horizont des Schicksals aufgetaucht waren, gleichermaßen vergessen zu sein; als führten sie nicht nur zwei Leben - ein geheimes und ein für jeden sichtbares -, sondern wären in diesen unterschiedlichen Leben auch verschiedene Menschen. Der Groll auf ihre Mutter war ebenso vergessen wie deren Hass und die Verbitterung - und auch die sonderbare Mischung aus Ungeduld und Sorge, die Arri stets in ihren Augen las, wenn sie glaubte, ihre Tochter bemerke es nicht.

Sie lernte viel in diesen Nächten. Ihre Mutter geizte zwar sehr viel mehr mit Lob als mit Tadel, vor allem dann, wenn sie der Meinung war, dass Arri irgendetwas nicht schnell genug begriff oder sich unnötig dumm anstellte; und dennoch spürte sie, dass sie im Grunde sehr zufrieden mit dem war, was sie sah. Die größte Freude bereiteten ihr die heimlichen Augenblicke, die sie auf der abgelegenen Waldlichtung mit der Unterweisung in ihr bislang vollkommen unbekannten Kampfarten verbrachten, immer sorgsam darauf bedacht, dass niemand auch nur im Entferntesten etwas davon mitbekam. Es war gar nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn Sarn oder jemand anderes im Dorf davon Wind bekäme. Das Kriegshandwerk war Männersache, und die knappen Unterweisungen im Umgang mit Pfeil und Bogen, Knüppeln oder den wenigen kostbaren Kupfer- und Bronzewaffen war etwas, um das jedes weibliche Wesen einen großen Bogen machte. Es war schon außergewöhnlich genug, dass man einer Frau den Besitz eines Schwertes gestattete, und wohl nur auf den Umstand zurückzuführen, dass man sie als Fremde nie wirklich in die Dorfgemeinschaft aufgenommen hatte. Aber wenn Sarn erfahren hätte, dass Lea ihre Tochter in der Kampfkunst mit eben diesem Schwert unterwies - er hätte zweifellos damit den Grund gefunden, um ihr endgültig den Prozess zu machen.

Es waren heimliche, aufregende Begegnungen mit einer ganz neuen, fremden Welt, in denen Arri alles um sich herum vergaß, obwohl - oder vielleicht auch gerade weil - sie den Zwiespalt ihrer Mutter spürte. Offensichtlich erwies sie sich als äußerst gelehrige Schülerin. Schon nach wenigen Tagen forderte ihre Mutter sie nicht mehr dazu auf, sie mit einem Stock zu schlagen, sondern nahm sich ihrerseits einen kräftigen Ast, mit dem sie die Hiebe abwehrte und hin und wieder auch einen eigenen Treffer anbrachte; zumeist dann, wenn sie der Meinung war, dass Arri leichtsinnig oder sich ihrer Sache zu sicher wurde, oder vielleicht auch etwas fester zugeschlagen hatte, als wirklich notwendig war. In diesem einen besonderen Punkt sagte sie nie etwas und lobte ihre Tochter kein einziges Mal, doch das war auch nicht nötig. Was nichts daran änderte, dass Arri regelmäßig mit frischen blauen Flecken und schmerzenden Muskeln nach Hause zurückkehrte, kurz bevor die Sonne aufging.

Zehn Tage, nachdem Kron und sein Bruder von der Jagd heimgekehrt waren, fand er das erste Mal wieder die Kraft, aufzustehen und einige wenige Schritte zu laufen. Arri jubilierte innerlich, auch wenn der Jäger sie um ein Haar geschlagen hätte; er hatte seine Kräfte wohl überschätzt und war nach wenigen Schritten gestürzt, und selbstverständlich gab er ihr die Schuld an seinem Missgeschick, ebenso wie an dem Umstand, dass er nahezu auf die Hälfte seines Gewichts abgemagert war und noch immer unter Fieber und schlechten Träumen litt. Kron befand sich nicht nur eindeutig auf dem Weg der Besserung - er würde leben. Und früher oder später, so hoffte sie wenigstens, würde er sich vielleicht sogar mit seinem Schicksal abfinden und begreifen, dass er Arri für ihre aufopfernde Pflege dankbar sein musste.

Der Gedanke erfüllte sie mit einer solchen Zufriedenheit, dass sie wider besseres Wissen zu ihm hineilte und versuchte, ihm auf die Beine zu helfen - mit dem Ergebnis allerdings, dass sie seinem wütenden Schlag nur deshalb entging, weil Kron nach ihr hieb und sich dabei auf einen Arm zu stützen versuchte, den er gar nicht mehr hatte. Arri war nicht dumm genug, es ein zweites Mal zu versuchen, aber es gelang ihr trotzdem nicht, wirklich zornig auf Kron zu sein. Die wenigen Schritte, die der Jäger getan hatte, erfüllten sie mit einer solchen Freude, dass sie auf der Stelle herumfuhr und im Laufschritt loseilte. Sie musste ihrer Mutter von Krons Fortschritten berichten.

So schnell sie nur konnte, stürmte sie die Böschung hinauf und über den Dorfplatz, auf dem ein reges Treiben herrschte. Vor einer Hütte hatten sich ein paar Frauen und ältere Kinder zusammengehockt, um auf alte Art mit Reibsteinen Korn zu mahlen. An einer anderen Ecke waren zwei Frauen damit beschäftigt, eine einfache Mahlzeit aus Fladenbrot und Ackerbohnen für die Männer und Frauen vorzubereiten, die sich den Rücken bei der harten Arbeit auf den Feldern mit den Sicheln krumm machten oder unter großem Körpereinsatz bereits geerntete Dinkel- und Nacktgersteähren weiterverarbeiteten. Dazwischen wuselten die kleinen Kinder herum, die noch keine Aufgaben übernehmen konnten, und ganz in der Nähe der Hütte, die den neuen Gewichtswebstuhl mit den unzähligen Steingewichten beherbergte, der unter Anleitung ihrer Mutter und mit Arris Hilfe im letzten Jahr gebaut worden war, türmten gerade zwei Männer frisch geschnittenen Flachs auf, der noch gebrochen und gesponnen gehörte.

Arri nahm weder die verwunderten Blicke zur Kenntnis, die ihr einige der Männer und Frauen zuwarfen, noch die Schmährufe, mit denen sie Osh und ein paar der anderen Kinder bedachten. Auch Kron schrie ihr irgendetwas hinterher, und als sie den Dorfplatz verließ und in Richtung ihrer Hütte davoneilte, folgte ihr ein ganzer Chor von Beschimpfungen und Flüchen, den sie im ersten Moment gar nicht verstand, bis sie das Quieken und Grunzen wahrnahm, das sie wie die Kielspur eines kleinen Schiffes hinter sich herzog; offensichtlich hatte sie die sich sonst im Schlamm unter den Pfostenhäusern suhlenden Ferkel durcheinander gewirbelt, was deren Besitzer nicht gerade begeisterte. Aber welche Rolle spielte das schon?

Sie beschleunigte ihre Schritte nur noch mehr, rannte den abschüssigen Weg hinab und rief bereits nach ihrer Mutter, noch bevor sie die Hütte erreicht hatte. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte sie die Stiege hinauf und sprang so ungestüm durch den Eingang, dass sie sich um ein Haar in den Muschelvorhang verheddert hätte und alle Mühe aufbieten musste, um nicht zu stürzen.

Ihre Mutter war nicht da. Die Hütte war leer, und Arri war nur im allerersten Moment enttäuscht, dann aber eindeutig beunruhigt. Seit dem letzten Zusammenstoß mit Sarn verließ ihre Mutter ihr Zuhause so gut wie gar nicht mehr - zumindest nicht tagsüber - und erst recht nicht, ohne ihr vorher Bescheid zu geben; so, wie sie umgekehrt auch Arri eingeschärft hatte, nirgendwo allein hinzugehen, wenn sie nichts davon wusste. Aus ihrem Hochgefühl wurde schlagartig eine vollkommen übertriebene Sorge. War irgendetwas geschehen?

Arri warf einen flüchtigen Blick in den zweiten Raum - immerhin wäre es ja möglich gewesen, dass ihre Mutter dort war, um ein neues Heilmittel für Kron zusammenzumischen -, dann verließ sie die Hütte fast ebenso rasch wieder, wie sie hereingekommen war, und sah sich hilflos um. Plötzlich hatte sie Angst, und sie konnte nicht einmal genau sagen, warum oder gar wovor. Sie versuchte vergeblich, sich selbst einzureden, dass sie sich albern benahm; schließlich war sie kein kleines Kind mehr, dem man es nachsehen konnte, dass es vor Angst zu weinen anfing, wenn es im Dunkeln aufwachte und seine Mutter nicht gleich sah. Lea war vielleicht nur in den Wald gegangen, um ein paar Kräuter zu suchen, oder hinauf ins Dorf, um Eier oder Fleisch einzutauschen. Zweifellos würde sie binnen kurzem wieder hier sein; wenn es sich anders verhielte, so hätte sie ihr gewiss Bescheid gesagt, bevor sie sie zu Kron schickte.

Diese Gedanken mochten treffend und richtig sein, aber sie halfen nicht. Ganz im Gegenteil begann Arris Herz immer heftiger zu klopfen, und ihre Furcht nahm noch zu. Sie fühlte sich verloren und so einsam und hilflos, als wäre sie mitten in der Nacht allein im Wald ausgesetzt worden. Dieses Gefühl war durch und durch albern und geradezu kindisch, aber auch dieser Gedanke half nicht. Aus ihrer Furcht drohte ganz im Gegenteil Panik zu werden - und wäre es vielleicht auch geworden, hätte sie sich nicht in diesem Moment umgedreht und ihre Mutter gesehen, die soeben gebückt und mit sehr schnellen Schritten aus der Hütte des Blinden kam.

Arri verschwendete nicht einmal einen einzigen Gedanken an die Frage, was ihre Mutter ausgerechnet dort tat, sondern rannte los und konnte sich gerade noch beherrschen, ihre Mutter nicht erleichtert in die Arme zu schließen, als sie endlich bei ihr angelangte.

»Arri?«, murmelte ihre Mutter überrascht. »Ist etwas passiert?« Sie wirkte verwirrt und auch ein ganz kleines bisschen beunruhigt. Arris aufgewühlter Zustand war ihr nicht entgangen.

»Kron«, sagte sie.

»Kron?«, wiederholte ihre Mutter. Eine steile Falte erschien zwischen ihren Augen. »Was ist mit ihm?«

»Er ist... aufgewacht«, antwortete Arri stockend.

»Und was ist daran so Besonderes?«, wollte ihre Mutter wissen. »Bisher ist er doch eigentlich jeden Morgen aufgewacht, oder?«

Arri zog es vor, nicht weiter auf den spöttischen Unterton in der Stimme ihrer Mutter zu achten. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das meine ich nicht. Er ist aufgestanden. Aus eigener Kraft.«

»Und das ist auch wirklich alles?«, vergewisserte sich ihre Mutter. Arri sah ihr an, dass sie sich Mühe gab, nicht zornig zu klingen.

»Er wird wieder gesund«, antwortete sie. »Er ist ganz von allein aufgestanden und ein paar Schritte weit gelaufen!«

»Das sind gute Neuigkeiten«, sagte ihre Mutter, behielt sie aber weiter aufmerksam im Auge und fügte schließlich mit einem angedeuteten, spöttischen Lächeln hinzu: »Aber so richtig bei Kräften ist er anscheinend noch nicht. Sonst wäre er zweifellos längst hier aufgetaucht, um mir den Hals umzudrehen.«

»Bei mir hat er es jedenfalls schon mal versucht«, sagte Arri. »Aber ich war schneller als er.«

»Dann wollen wir hoffen, dass das auch noch eine Weile so bleibt«, sagte ihre Mutter lachend. »Schließlich brauche ich dich noch. So lange Kron seinen Zorn an dir auslässt, kommt er wenigstens nicht hierher.«

Arri tat ihrer Mutter den Gefallen, über diese Worte zu lachen, aber sie verspürte trotzdem eine leise Enttäuschung. Sie hatte erwartet, dass sie sich mehr über Krons Genesung freuen würde, zumal sie ja einen ungleich größeren Anteil daran hatte als Arri. Sie zerbrach sich den Kopf über eine Antwort, die ihre Mutter nicht verärgern oder gar wütend machen würde, doch sie kam nicht dazu, denn aus der Hütte des Blinden drang Lärm, und nur einen Augenblick später tastete sich der alte Mann mit zitternden Händen ins Freie. »Du bist ja immer noch da«, keifte er. Im ersten Moment war Arri verwirrt, denn die weit offen stehenden, glasigen Augen des Alten blickten genau in ihre Richtung, sodass sie dachte, die Worte gälten ihr, dann aber begriff sie, dass er mit ihrer Mutter sprach. »Du sollst weggehen, habe ich gesagt! Ich will nicht mit dir reden! Du hast mir schon genug angetan! Geh!«

Arris Mutter setzte zu einer Antwort an, und man konnte ihr ansehen, wie scharf sie ausfallen würde - aber dann beließ sie es bei einem bedauernden Achselzucken und gab Arri gleichzeitig mit einer besänftigenden Handbewegung zu verstehen, dass sie schweigen sollte. Der blinde Mann konnte die Geste nicht sehen, aber er schien sie dennoch irgendwie gespürt zu haben, denn seine erloschenen Augen suchten in Arris Richtung und fixierten dann einen Punkt ein gutes Stück neben ihr. »Ist da noch jemand?«, schnappte er. »Wer ist da? Was willst du? Hast du deine Tochter mitgebracht, damit ihr euch gemeinsam über mich lustig machen könnt?«

»Niemand macht sich über dich lustig, Achk«, sagte Lea sanft. »Ich will dir helfen. Ich meine es ernst. Denk einfach ein wenig über meinen Vorschlag nach. Ich komme heute Abend zurück und bringe dir etwas zu essen. Dann kannst du mir immer noch antworten.«

»Du kannst mir etwas zu essen bringen, denn das bist du mir schuldig«, keifte der blinde Mann, »aber es bleibt bei meiner Antwort. Und jetzt geh, nimm dein Balg und verschwinde!«

Arri wollte etwas sagen, aber ihre Mutter wiederholte die hastige, abwehrende Handbewegung und schüttelte darüber hinaus den Kopf. Der blinde Mann keifte weiter mit schriller Stimme hinter ihnen her, als sie sich abwandten und nebeneinander zur Hütte gingen, aber nun kamen nur noch sinnlos brabbelnde Laute über seine Lippen. Was immer er gerade gemeint haben mochte, der klare Moment war vorbei, und Arri spürte, dass es vollkommen zwecklos wäre, ihre Mutter um eine Erklärung zu bitten. Auch das war etwas, was sie zwar nicht erst jetzt, in diesem Moment, aber tatsächlich zum ersten Mal in ganzer Tragweite begriff: Seit dem Tag von Nors Besuch war ihre Mutter immer verschlossener und abwesender geworden, auch ihr gegenüber.

Das, was sie nachts gemeinsam im Wald taten und beredeten, änderte nichts daran, ganz im Gegenteil; je weiter ihre Mutter die Türen der Vergangenheit öffnete und je tiefer der Einblick wurde, den sie Arri in ihr früheres Leben gewährte, desto verschlossener und kälter schien sie tagsüber zu werden. Manchmal hatte Arri das Gefühl, es tatsächlich mit zwei vollkommen unterschiedlichen Menschen zu tun zu haben, die sich mit jedem Tag, der verging, noch weiter voneinander entfernten; als wäre die eine Lea, die, an deren Seite sie nun ging, nicht mit dem einverstanden, was die andere sie nachts lehrte und ihr riet. Natürlich war dieser Gedanke verrückt, aber seit dem Tag, an dem der mächtige Hohepriester zu ihnen gekommen war, war überhaupt nichts mehr so, wie es einmal gewesen war.

»Es geht Kron also schon besser«, nahm Lea das unterbrochene Gespräch wieder auf, während sie - langsamer werdend - den Pfad hinunterging. Der blinde Mann schrie immer noch hinter ihnen her, und Lea hatte die Stimme ganz leicht erhoben, wie um ihn zu übertönen - obwohl das nicht wirklich nötig war. Vielmehr hatte Arri das Gefühl, dass sie sie fast krampfhaft davon abhalten wollte, eine bestimmte Frage zu stellen. »Und? Wie gefällt dir das?«

Arri verstand nicht wirklich, was ihre Mutter wissen wollte, und sah sie nur verwirrt an.

»Wie fühlst du dich dabei?«, meinte Lea. »Immerhin hattest du einen nicht geringen Anteil an seiner Genesung.«

»Das Meiste hast du doch getan«, erwiderte Arri.

»Das wird Kron anders sehen, fürchte ich«, seufzte ihre Mutter. »Und ohne deine Hilfe wäre er bestimmt nicht so bald wieder zu Kräften gekommen.« Sie sah Arri abschätzend an. »Was ist es für ein Gefühl?«

»Was für ein Gefühl?«

»Einem Menschen zu helfen«, erklärte Lea, hob aber auch zugleich abwehrend die Hand, als Arri etwas erwidern wollte. »Ich meine: einem Menschen wirklich zu helfen. Einem Menschen wie Kron, dem du eigentlich nichts schuldig bist und an dessen Schicksal dich auch keine Schuld trifft.«

Arri verstand immer weniger, worauf ihre Mutter eigentlich hinauswollte, und sie wollte dieses Unverständnis gerade in Worte kleiden, da erinnerte sie sich plötzlich an das sonderbare Gefühl, das sie verspürt hatte, als sie vorhin Krons Wunde verbunden hatte, und plötzlich glaubte sie zu verstehen, was ihre Mutter meinte. Es war ein wunderbares Gefühl, einem anderen helfen zu können, auch - und vielleicht sogar gerade - einem Fremden, dem sie diese Hilfe nicht schuldig war. Sie sagte nichts, sondern nickte nur, aber dieses Nicken schien ihrer Mutter Antwort genug zu sein, denn für einen Moment erschien ein Ausdruck ehrlicher Freude in ihren Augen, wie Arri sie schon viel zu lange nicht mehr darin gesehen hatte.

»Ich werde später hinauf zum Steinkreis gehen«, fuhr ihre Mutter fort, wobei sie sowohl das Thema als auch die Tonlage wechselte. »Ich wollte mich dort mit jemandem treffen und möchte, dass du mich begleitest.« Sie warf einen Blick in den Himmel hinauf. »Lauf also nicht mehr allzu weit weg.«

Arri hatte nicht vorgehabt, überhaupt irgendwo hinzulaufen - zumindest nicht, bis ihre Mutter das Wort Steinkreis ausgesprochen hatte. Konnte es sein, dass sie auf irgendeine rätselhafte Weise von ihrer Begegnung mit Sarn in dem alten Heiligtum erfahren hatte? »Mit... mit wem willst du dich denn dort treffen?«, stotterte sie.

»Das wirst du schon noch früh genug sehen«, erwiderte ihre Mutter in einem Ton, der Arri klarmachte, wie sinnlos es war, weiter zu fragen. Das stimmte Arri nicht gerade ruhiger. Ihr schlechtes Gewissen wurde geradezu übermächtig, und als sie die Hütte erreichten, wollte sie die Gelegenheit nutzen, um vor ihrer Mutter die Stiege hinaufzueilen. Aber Lea hielt sie mit einer raschen Geste zurück. »Geh in den Wald und suche noch ein paar Blätter, um Krons Verband zu erneuern. Wenn wir zurück sind, möchte ich mir den Arm selbst ansehen.«

Arri sah ihre Mutter einen Moment lang zweifelnd an - Lea hatte einen Vorrat von bereits gereinigten Blättern im Haus, der ausreichte, um Krons Arm bis zum nächsten Vollmond zu verbinden -, aber sie wandte sich dann gehorsam und mehr als nur ein bisschen beunruhigt um und hatte den Waldrand schon fast erreicht, als ihre Mutter, die bereits auf der obersten Stufe der Stiege stand, noch einmal stehen blieb und ihr nachrief: »Und bring noch ein paar von den braunen Pilzen mit - die mit den gerippten Köpfen.«

»Aber dazu...«, begann Arri.

»Musst du bis zur Quelle, ich weiß«, fiel ihr die Mutter ins Wort. »Ein Grund mehr, dich zu beeilen. Wenn du dich sputest, kannst du rechtzeitig zurück sein. Und nimm genug von den Pilzen. Am besten einen ganzen Korb.« Sie unterstrich ihre Worte mit einer auffordernden Geste auf den kleinen Anbau neben der Hütte hin, in der sie die Körbe und allerlei anderes Werkzeug sowie verschiedene Gebrauchsgegenstände untergebracht hatte, die sie nicht tagtäglich benötigten, und obwohl sich in ihrem Gesicht nicht ein einziger Muskel rührte, gelang es ihr trotzdem, mit einem Male deutlich unwilliger auszusehen; auf die ganz bestimmte Art, die ein Fremder vielleicht nicht einmal bemerkt hätte, die Arri aber zu der Überzeugung brachte, dass es jetzt eindeutig besser war, nicht noch einmal zu widersprechen.

Trotzdem hätte sie es um ein Haar getan.

Es war nicht der Weg zur Quelle, den sie scheute. Er war nicht so weit, dass er wirklich zur Mühe werden konnte, und seit etlichen Tagen ging sie ihn schließlich jede Nacht. Aber die Pilze? Sie hatte keine Ahnung, wozu ihre Mutter sie plötzlich so dringend brauchte - gewiss nicht, um ein neues Heilmittel für Kron daraus zu machen -, aber sie waren selten und wuchsen nur an einer einzigen Stelle, nämlich zwischen den Felsen auf der Waldlichtung, und auch dort nur in geringer Zahl. Arri glaubte nicht, dass sie auch nur den kleinsten der drei Körbe, die ihre Mutter besaß, voll bekommen würde, selbst wenn sie die Lichtung und ihre gesamte Umgebung absuchte. Ihre Mutter wollte sie wegschicken, und das für eine geraume Zeit, aber warum? Und warum sagte sie nicht einfach, dass sie allein sein wollte?

Missmutig ging sie zum Schuppen, griff sich den kleinsten Korb aus geflochtenen Weidenzweigen und machte sich auf den Weg. Trotz der fast unmöglich zu lösenden Aufgabe, die ihr die Mutter aufgetragen hatte, ließ sie sich Zeit. Sie würde sowieso den Korb kaum zur Hälfte voll bekommen, und sie war darüber hinaus auch sehr sicher, dass Lea die Pilze ganz gewiss nicht nachzählen würde, ganz im Gegenteil - vermutlich würde sie ihnen ebenso wenig Beachtung schenken wie den Blättern, die sie ihr völlig überflüssigerweise zu holen aufgetragen hatte, wenn sie nur lange genug wegblieb, um...

Arri blieb wie vom Donner gerührt stehen, riss die Augen auf und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, als ihr klar wurde, warum ihre Mutter sie weggeschickt hatte und warum sie solchen Wert darauf legte, dass sie auch ja lange genug fortblieb. Schließlich wäre es nicht das erste Mal, dass ihre Mutter sich einen Mann aus dem Dorf holte, um eine Weile mit ihm allein zu sein. Jetzt war ihr auch klar, warum sie so herumgedruckst hatte und sich alle möglichen Vorwände einfallen ließ, statt einfach rundheraus zu sagen, dass sie, Arri, verschwinden und eine ganze Zeit lang nicht wiederkommen sollte. Es hatte also gar nichts mit dem unglückseligen Zusammentreffen mit Sarn im Steinkreis zu tun!

Arri schüttelte den Kopf und ging mit einem leicht spöttischen Lächeln auf den Lippen weiter - und jetzt sogar schneller, obwohl sie nun sicher war, Zeit zu haben. Ihre Mutter war eine gesunde, alles andere als alte Frau mit ganz gewöhnlichen Bedürfnissen, wie sie jede andere Frau, jeder andere Mann im Dorf auch hatte, aber es war ihr aus irgendeinem Grund peinlich, mit ihrer Tochter über gewisse Dinge des Lebens zu reden - die diese längst wusste. Wahrscheinlich hätte sie der Schlag getroffen, dachte Arri, hätte sie auch nur geahnt, dass ihre Tochter mehr als nur eine ungefähre Vorstellung davon hatte, was sie in ihrer Hütte tat, wenn sie Besuch aus dem Dorf bekam. Arri war zwar - zumindest in ihren Augen - noch keine richtige Frau, aber sie war weder blind noch taub oder dumm. Nicht alle im Dorf machten ein so großes Geheimnis um das, was Männer und Frauen (und manchmal auch Frauen und Frauen oder Männer und Männer) miteinander taten, wenn sie allein waren, und die meisten Wände hatten Ritzen, durch die man mühelos hindurchspähen konnte, wenn man nur ein bisschen vorsichtig war.

Auch Arri hatte das schon des öfteren getan, wenn auch mit schlechtem Gewissen und ohne ganz genau zu wissen, warum sie das bei allen Göttern eigentlich tat. Was sie gesehen hatte, hatte sie erregt, auf eine eigentümliche, nicht einmal wirklich angenehme, aber auch ganz gewiss nicht unangenehme Art. Dennoch verstand sie nicht wirklich, was an dieser Sache so besonders war, dass ihre Mutter ein solches Geheimnis daraus machte. Irgendwann - und zwar in nicht allzu ferner Zukunft, so nahm sie sich vor - würde sie ihrer Mutter sagen, dass sie Bescheid wüsste, und sie freute sich jetzt schon auf den betroffenen Ausdruck, der dann unweigerlich auf deren Gesicht erscheinen musste.

In Gedanken versunken, wie sie war, war sie schon tiefer in den Wald eingedrungen, als sie selbst bemerkt hatte. Die Stelle, an der die Heilkräuter wuchsen, hatte sie längst passiert, und sie dachte daran, zurückzugehen und das Versäumte nachzuholen, entschied sich aber dann dagegen. Sie würde weiter zur Lichtung gehen, ein paar von den Pilzen suchen und den Korb dann auf dem Rückweg bis zum Rand mit Blättern füllen, das sah auf jeden Fall besser aus, auch wenn ihre Mutter vermutlich nicht einmal richtig hinsehen würde.

Sie beschleunigte ihre Schritte und vertrieb sich die restliche Zeit auf dem Weg zur Lichtung, indem sie darüber nachdachte, wer wohl in diesem Augenblick bei ihrer Mutter sein mochte. Die Auswahl war nicht allzu groß. Es gab zwar einige unverheiratete Männer im Dorf, die durchaus Interesse an ihrer Mutter zeigten (und auch ein paar verheiratete), aber Lea war wählerisch, was das anging. Was Arri wiederum nicht wirklich verstand. Ihre Mutter war keine junge Frau mehr, und verglichen mit den meisten anderen Frauen im Dorf - selbst manchen, die deutlich älter waren als sie selbst -, war sie alles andere als eine Schönheit. Aber vielleicht kam es bei dem, was sie da taten, auf Schönheit ja auch nicht an.

Grahl, entschied sie. Grahl wäre ein Mann nach dem Geschmack ihrer Mutter. Dass er ein Weib und einen ganzen Stall voller Kinder hatte, hatte ihn noch nie gestört, und außerdem war er ihrer Mutter etwas schuldig, nachdem sie Kron das Leben gerettet hatte. Arri kicherte albern in sich hinein, als sie sich Sarns Gesicht vorzustellen versuchte, wenn er Grahl und ausgerechnet ihre Mutter in diesem Moment so sehen könnte. Obwohl sie wirklich nicht genau verstand, was daran nun so außergewöhnlich war, ahnte sie doch, dass er vor lauter Wut aus der Haut fahren würde, wenn er davon Wind bekäme.

Sie erreichte die Lichtung und machte sich ohne Eile auf die Suche nach den Pilzen. Natürlich fand sie nicht viele - nicht einmal genug, um auch nur den Boden des Korbes zu füllen -, sodass sie ihre Suche bald ausdehnte und nicht nur die Felsen rings um die Quelle, sondern die gesamte Lichtung mit einbezog. Dennoch wurden es nicht wirklich mehr, sodass sie nach kurzem Zögern entschied, nun tatsächlich auch noch den unmittelbaren Waldrand abzusuchen. Ihr war nicht besonders wohl dabei. Den Weg vom Dorf bis hierher kannte sie, aber sie war niemals weiter als bis zu dieser Lichtung gegangen, und ihre Mutter hatte sie sogar eindringlich davor gewarnt, das zu tun. Niemand, der halbwegs bei Verstand war, ging in diese Richtung tiefer in den Wald hinein. Das Buschwerk wurde dort so dicht, dass es an vielen Stellen sicherlich kein Durchkommen mehr gab, und da, wo Bäume und Unterholz sich ein wenig lichteten, war der Boden manchmal tückisch; es gab sumpfige Stellen, in denen man stecken bleiben konnte, und angeblich auch Treibsand, in dem ein Mensch binnen kurzem einfach versinken konnte, ohne jemals wieder gesehen zu werden.

Arri lächelte, um sich selbst Mut zu machen, setzte einen Fuß in den Wald hinein und blieb wieder stehen, als es irgendwo im dichten Unterholz vor ihr knackte. Ihr Herz begann schneller zu klopfen, und ihre Hände zitterten, während der Blick ihrer weit aufgerissenen Augen das Muster aus braunen und grünen Schatten und ineinander gekrallten Umrissen vor ihr absuchte. War da nicht eine Bewegung gewesen? Und hatte sie nicht plötzlich ganz deutlich das Gefühl, beobachtet und aus riesigen, lauernden Augen angestarrt zu werden?

Arri beschimpfte sich selbst in Gedanken - jetzt benahm sie sich tatsächlich wie das dumme kleine Kind, als das ihre Mutter sie manchmal betrachtete. Da war nichts. Was ihr Angst machte, waren einzig die albernen Geschichten, die man sich über diesen Teil des Waldes erzählte und an die vermutlich niemand glaubte. Schon, weil noch niemand in diesem Teil des Waldes gewesen war und also auch niemand wissen konnte, wie es darin aussah. Dieser Gedanke sollte sie eigentlich beruhigen, sonderbarerweise verfehlte er seine Wirkung jedoch vollständig. Ganz im Gegenteil raste ihr Herz jetzt geradezu, und sie hatte deutlich das Gefühl, angestarrt zu werden. Um ein Haar hätte sie gerufen und gefragt, ob dort jemand sei. Vielleicht war der einzige Grund, aus dem sie es nicht tat, der, dass sie Angst davor hatte, eine Antwort zu bekommen.

Hastig fuhr sich Arri mit der Zungenspitze über die Lippen, warf einen unsicheren Blick in den grob geflochtenen Korb, dessen Henkel sie mit beiden Händen so fest umklammert hielt, dass alles Blut aus ihren Fingern gewichen war, und stellte betrübt fest, dass sich kaum eine Hand voll kümmerlicher Pilze darin befand. Ihre Mutter würde nicht begeistert sein. Für einen Moment fochten Angst und Vernunft einen stummen Kampf hinter ihrer Stirn aus, aber die Angst gewann. Rasch drehte sich Arri um, ging zu dem Felsen zurück und verfiel schließlich in einen raschen Laufschritt, in dem sie die Lichtung überquerte. Sie wurde erst langsamer, als sie in den Wald auf der gegenüberliegenden Seite eindrang und Unterholz und Gestrüpp so dicht wurden, dass sie sich gezwungen sah, ihre Schritte ein wenig zu verlangsamen.

Hinter ihr knackte etwas. Das Geräusch eines Astes, der unter einem Fuß oder einer Pfote zerbrochen war. Ihre außer Rand und Band geratene Phantasie sorgte dafür, dass die dazu passenden Bilder vor ihrem inneren Auge erschienen, ganz egal, wie sehr sie sich auch dagegen zu wehren versuchte. Vielleicht nur, um sich selbst davon zu überzeugen, dass da rein gar nichts war, was sie fürchten musste, drehte sie sich um - und fuhr so heftig zusammen, dass sie um ein Haar ihren Korb fallen gelassen hätte.

Diesmal hatte sie den Schatten gesehen. Er war nicht einmal allzu weit hinter ihr gewesen; klein und geduckt und zu schnell, um ihn wirklich erkennen zu können, aber eindeutig da.

Arris Hände zitterten plötzlich so heftig, dass sie Mühe hatte, den Korb zu halten, und auch ihre Knie begannen zu schlackern. Was war das gewesen? Ein Kaninchen oder ein Fuchs? Nein, dafür war der Schatten zu groß gewesen, zugleich aber auch zu klein für einen Bären oder einen Menschen. Vielleicht ein wildernder Hund?

Plötzlich musste Arri wieder an das denken, was ihre Mutter ihr über Wölfe erzählt hatte. Sie hatte es nicht geglaubt, aber mit einem Mal war sie sich gar nicht mehr so sicher, dass sich Lea diese Geschichte tatsächlich nur ausgedacht hatte, um sie von eigenmächtigen Spaziergängen in die Wälder abzuhalten.

Arri lauschte angestrengt. Ihr Herz hämmerte viel zu laut, als dass sie auch nur das geringste andere Geräusch hätte wahrnehmen können, und ihre Angst gaukelte ihr Bewegungen vor, wo keine waren. Dann aber hörte sie erneut das Knacken eines trockenen Astes, gefolgt von dem Geräusch großer, schwerer Pfoten auf trockenem Laub, und einen Laut, der ihr schier das Blut in den Adern gerinnen ließ: ein tiefes Knurren.

Arri fuhr mit einem Schrei auf den Lippen herum, ließ den Korb fallen und stürmte davon. Etwas antwortete auf ihren Schrei, tief, drohend und ungemein gierig. Aus dem vorsichtigen Tappen schwerer Pfoten wurde ein rasendes Trommeln, das entsetzlich schnell näher kam, und sie spürte die Gefahr, noch bevor der Schatten in ihren Augenwinkeln auftauchte und sie sich instinktiv fallen ließ. Etwas streifte ihre Schulter und machte aus ihrem noch halbwegs kontrollierten Sturz einen Schlag, der sie mit solcher Wucht auf den weichen Waldboden schmetterte, dass ihr die Luft aus den Lungen gepresst wurde und sich ihr gellender Angstschrei in ein halb ersticktes Keuchen verwandelte. Schmerz flackerte wie eine Folge kleiner gelber Blitze über ihre Augen und machte sie für einen Moment fast blind; dann bemerkte sie beinahe überrascht, wie ihr Körper gänzlich ohne ihr Zutun reagierte und sich herumwarf, um dem vernichtenden Sturz die allergrößte Wucht zu nehmen.

Es war dennoch so schlimm, dass sie beinahe das Bewusstsein verlor. Hilflos rollte sie über den nicht nur mit weichem Laub, sondern auch mit spitzen Steinen und gefährlich zerbrochenen Ästen übersäten Waldboden, überschlug sich drei-, vier-, fünfmal und wäre vermutlich noch weiter gerollt, hätte nicht ein dorniger Busch ihrer Schlitterpartie ein unsanftes Ende bereitet. Etwas schrammte über ihr Gesicht und hinterließ eine dünne, nasse Linie, die schon im nächsten Augenblick heftig brannte, und abermals zuckten grelle Schmerzblitze über ihr Blickfeld und hinterließen eine Spur aus wattiger Schwärze, die sie im ersten Moment vergeblich wegzublinzeln versuchte.

Als sich ihre Sinne wieder klärten, erklang das Knurren erneut. Arri zwang sich mit aller Willenskraft, die sie noch aufbringen konnte, die Augen zu öffnen und den Kopf in die entsprechende Richtung zu drehen, und sie sah ihre schlimmsten Befürchtungen nicht erfüllt, sondern übertroffen.

Es war ein Wolf - der mit Abstand größte und hässlichste Wolf, den sie jemals gesehen hatte. Das Ungeheuer war nahezu so groß wie ein Kalb und hatte ein schwarz-grau geflecktes, struppiges Fell. Seine Zähne, von denen schaumiger Geifer troff und die zu einem drohenden Knurren gebleckt waren, mussten annähernd so lang wie ihr kleiner Finger sein, und seine Augen starrten sie mit einer Gier an, die Arri auch noch das letzte bisschen Mut nahm.

Aber etwas stimmte nicht mit ihm. Das Tier war riesig. Viel größer als jeder Hund, den sie je gesehen hatte, und hundertmal wilder, aber es war auch nahezu zum Skelett abgemagert. Unter seinem struppigen, von zahllosen Geschwüren und nässenden Wunden durchlöcherten Fell stachen die Rippen hervor. Eines seiner Ohren war abgerissen, und die Wunde war so entzündet, dass sie in einem dunklen Rot zu leuchten schien, und selbst über die große Entfernung hinweg konnte Arri den üblen Geruch wahrnehmen, den das Tier verströmte. Ein Geruch, der sie an Krons Arm erinnerte, als er zu ihrer Mutter gekommen war. Der angeschlagene Gigant schien Mühe zu haben, in die Höhe zu kommen. Sein missglückter Angriff hatte Arri von den Füßen gefegt, aber der Wolf war ebenfalls gestürzt und versuchte nun vergeblich, wieder auf alle viere zu kommen. Erst nach dem dritten oder vierten Anlauf gelang es ihm, zitternd aufzustehen und einen Schritt zu machen. Und es war nur ein Wolf ohne die Begleitung eines ganzen Rudels.

Arri schöpfte Hoffnung. Sie war noch immer wie benommen vor Angst und zitterte am ganzen Leib, aber zugleich war da auch eine unhörbare Stimme in ihr, die die Lage ganz nüchtern betrachtete und den Wolf mit einem einzigen Blick einschätzte. Das Tier war verletzt und krank, vermutlich ein Einzelgänger, den das Rudel ausgestoßen hatte und der nun verzweifelt versuchte, allein zu überleben, und schon mehr tot als lebendig war; halb verhungert und so schlimm verletzt, dass er wohl kaum noch länger als ein paar Tage zu leben hatte. Das machte den Wolf nicht weniger gefährlich, eher im Gegenteil - und doch schöpfte Arri neuen Mut. Wenn sie ein bisschen Glück hatte und nicht in Panik verfiel, kam sie vielleicht doch noch mit dem Leben davon.

Als hätte der Wolf ihre Gedanken gelesen, kam er nicht mehr näher, sondern fletschte nur noch drohender die Zähne. Der üble Geruch, der von ihm ausging, wurde stärker, aber Arri sah auch, wie heftig seine Flanken zitterten. Als er den nächsten Schritt in ihre Richtung tat, brach er in den Hinterläufen ein und hielt sich nur noch mit Mühe überhaupt auf den Beinen.

Sie beging dennoch nicht den Fehler, dieses Tier zu unterschätzen. Verwundete Raubtiere waren die gefährlichsten, denn sie hatten nichts mehr zu verlieren.

Ohne dass ihr Blick die blutunterlaufenen, entzündeten Augen des Wolfs auch nur für einen Moment losließ, stemmte sie sich halb in die Höhe und tastete zugleich mit der rechten Hand über den Boden. Sie fand einen faustgroßen, glatten Stein, nahm ihn aber nicht auf, sondern suchte weiter und ertastete schließlich einen abgebrochenen Ast, den sie fest mit den Fingern umschloss. Der Wolf knurrte drohend, als ahne er, was sie vorhatte, und kam einen weiteren, unsicheren Schritt näher. Arri hatte Mühe zu atmen. Sie zitterte am ganzen Leib und so heftig, dass es ihr beim ersten Versuch nicht einmal wirklich gelang, den Stock zu ergreifen, und nachdem sie es geschafft hatte, musste sie ihn zu Hilfe nehmen, um sich auf die Beine zu stemmen.

Der Wolf war noch näher gekommen. Arri konnte sehen, wie sich die Muskeln unter seinem schorfigen Fell spannten, während sein Blick gleichermaßen erfüllt von schier unerträglichem Hunger und Heimtücke über ihre Gestalt tastete. Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu und blieb wieder stehen, als seine Flanken zu zittern begannen und er abermals in den Hinterläufen einzubrechen drohte. Arri nahm an, dass ihn der Sprung, mit dem er sie zu Boden gerissen hatte, seine allerletzten Kräfte gekostet hatte. Vielleicht, dachte sie, kam sie ja doch noch mit dem Schrecken davon. Möglicherweise hatte das Tier einfach nicht mehr die Kraft für einen weiteren Angriff.

Aber tief in sich spürte sie, dass das nicht so war.

Unendlich vorsichtig, um das Ungeheuer nicht durch eine unbedachte Bewegung zu provozieren, richtete sie sich weiter auf, wich langsam einen Schritt zurück und hob den Stock. Der Wolf drohte knurrend, und schaumiger Geifer troff von seinen Lefzen. Arri sah jetzt, dass mehrere seiner Zähne abgebrochen und auch sein Maul wenig mehr als eine einzige, schwärende Wunde war.

Mit aller Macht versuchte sie, sich zur Ruhe zu zwingen. Ihre Gedanken rasten. Ihr Atem ging so schnell, dass sie kaum noch Luft bekam, und alles in ihr schrie danach, einfach herumzufahren und davonzustürzen, so schnell sie nur konnte. Vielleicht hatte sie tatsächlich eine Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen. Das Tier war verletzt und musste halb wahnsinnig vor Schmerz und Hunger sein, und vermutlich hatte es vor ihr mindestens ebenso große Angst wie sie umgekehrt vor ihm. Dennoch rührte sie sich nicht von der Stelle; sie war noch nie einem Wolf so nahe gewesen, aber sie wusste, wenn sie davonliefe, wäre es um sie geschehen. Sobald sie dem Tier den Rücken zudrehte, würde es sie zweifellos angreifen, und Arri war sicher, dass es trotz allem immer noch genug Kraft hatte, sie einzuholen und niederzureißen. Immerhin hatte es sie schon mit seinem ersten Sprung zu Boden geschleudert, obwohl es sie praktisch nur gestreift hatte.

Entschlossen ergriff sie ihren Stock fester und wich einen halben, vorsichtigen Schritt zurück, noch immer ohne den Blick des Tieres auch nur für den winzigsten Moment loszulassen. Möglicherweise würde es ja nicht angreifen. Jetzt, wo sie aufrecht vor ihm stand und nicht mehr vor ihm davonlief, mochte ihre Größe und der fast armlange Knüppel in ihrer Hand es beeindrucken. Zumindest aber flößten sie ihm Respekt ein, denn das Tier kam zwar abermals näher, blieb aber dann sofort wieder stehen, als sie den Knüppel hob und ihn drohend schwang.

Als der Angriff dann kam, erfolgte er so plötzlich, dass sie trotz allem beinahe zu spät reagiert hätte. Der Wolf stieß ein schrilles Heulen aus, stieß sich mit den Hinterläufen ab, die mit einem Mal eine Kraft entwickelten, die Arri nie und nimmer mehr vermutet hätte, und sprang sie mit weit aufgerissenem Maul an. Arri ließ sich unwillkürlich zur Seite fallen und schlug mit dem Stock zu. Sie verfehlte den Wolf genau so knapp, wie die zuschnappenden Kiefer des Tieres ihr Ziel verfehlten. Arri stürzte, doch auch der Wolf kam nicht so fließend und schnell wieder auf die Beine, wie er es vermutlich zeit seines Lebens gewohnt gewesen war, sondern brach mit einem schrillen Jaulen in den Hinterläufen ein und blieb benommen und winselnd vor Schmerz liegen. Nicht lange, aber die Zeit reichte Arri trotzdem, wieder auf die Beine zu kommen und den Stock fester zu ergreifen.

Jetzt wäre der Moment gewesen, herumzufahren und davonzurennen, und das sogar mit einiger Aussicht auf Erfolg. Der Wolf versuchte vergeblich, in die Höhe zu kommen. Ein- oder zweimal gelang es ihm sogar, aber er brach immer wieder in den Hinterläufen ein, und sein Heulen und Jaulen klang jetzt kaum mehr drohend, sondern fast schon Mitleid erregend. Sie glaubte nicht, dass dieses Tier noch die Kraft hatte, sie zu verfolgen, geschweige denn einzuholen.

Aber sie lief nicht davon. Sie ergriff ganz im Gegenteil nun mit beiden Händen ihren Knüppel, bewegte sich mit kleinen, vorsichtigen Schritten auf den Wolf zu, immer auf einen plötzlichen Angriff gefasst und bereit, zurückzuspringen, und ging schließlich in einem weiten Bogen um ihn herum. Ohne es zu merken, hielt sie den Knüppel nun nicht mehr wie einen Stock, sondern wie ein Schwert, ganz, wie ihre Mutter es ihr gezeigt hatte, nahm mit leicht gespreizten Beinen neben dem Tier Aufstellung - und zertrümmerte ihm mit einem einzigen, wuchtigen Schlag den Schädel.

Zitternd trat sie zurück, ließ den Stock sinken und schloss für einen Moment die Augen, bis sich ihr hämmernder Herzschlag wenigstens so weit beruhigt hatte, dass sie wieder atmen konnte, ohne dabei wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft zu japsen. Als sie die Augen öffnete, lag der Wolf reglos ausgestreckt und auf die Seite gefallen vor ihr. Ein dünnes Rinnsal aus überraschend hellem Blut lief aus seinem Ohr, und seine Augen starrten blicklos ins Leere.

Plötzlich zitterten ihre Hände so stark, dass sie alle Mühe hatte, den Knüppel nicht fallen zu lassen. Ein Sturm von Gefühlen brach über sie herein und ließ sie wanken, wobei Furcht und Verwirrung die Oberhand hatten, zugleich aber auch noch etwas völlig anderes, Neues, und auf eine sonderbare Weise zugleich Erschreckendes und Erregendes. Warum hatte sie das getan? Arri starrte ihre Hände an, dann den abgebrochenen Ast, an dessen Ende ein einzelner Blutstropfen und ein paar drahtige, schwarz-graue Haare klebten, und schließlich den reglos daliegenden Wolf. Sie wollte Erleichterung verspüren, denn dieses Tier war aus keinem anderen Grund hier aufgetaucht, als sie zu töten, aber alles, was sie empfand, war eine tiefe, fast hoffnungslose Verwirrung und ein ganz leises, zwar absurdes, aber dennoch vorhandenes Gefühl von Schuld. Sie hatte sich nur verteidigt, und trotzdem hatte sie das Gefühl, etwas Falsches getan zu haben.

Arri versuchte sich damit zu trösten, dass sie diese bemitleidenswerte Kreatur letzten Endes von ihren Leiden erlöst hatte. Auch das half nichts. Sie hätte dem Wolf spielend davonlaufen können, und schwach und verwundet, wie er war, hätte er vermutlich auch keine weitere Gefahr mehr dargestellt. Zumindest hätte sie ins Dorf laufen und die Jäger alarmieren können, damit sie sich um das Raubtier kümmerten.

Zutiefst verwirrt über ihre eigenen, einander widerstrebenden Gefühle, ließ Arri den Stock fallen, drehte sich um und ging mit langsamen, fast bedächtigen Schritten los. Sie war noch nicht weit gekommen, als es hinter ihr raschelte. Arri zuckte erschrockenen zusammen. Sie drehte sich um, und ein entsetztes Keuchen kam über ihre Lippen.

Der Wolf war nicht tot. Er war nicht einmal bewusstlos. Das Geräusch, das sie gehört hatte, war das, mit dem sich das schwer verletzte Tier in die Höhe gearbeitet hatte. Aus seinem Ohr lief jetzt mehr Blut, und auch der Speichel, der von seinen Lefzen troff, hatte sich hellrot gefärbt. Ein tiefes, unvorstellbar drohendes Knurren drang aus seiner Brust, während er sich vollends zu ihr umdrehte und auf eine groteske Art humpelnd loslief.

Grotesk vielleicht - aber dennoch erschreckend schnell.

Arri vergeudete fast die Hälfte der winzigen Zeitspanne, die ihr noch blieb, indem sie den Wolf aus fassungslos aufgerissenen Augen und vollkommen reglos dastehend anstarrte, bevor sie endlich herumfuhr und mit gewaltigen Sätzen davonlief. Hinter ihr kamen das Hecheln und Knurren des Wolfes und das Geräusch seiner weichen Pfoten auf dem Waldboden mit entsetzlicher Schnelligkeit näher. Arri versuchte schneller zu rennen, aber sie konnte es nicht. Der Wolf holte mit unbarmherzigem Ungestüm auf. Todesangst ergriff sie. Sie glaubte, seinen hechelnden, stinkenden Atem bereits im Nacken zu spüren, und dann konnte sie hören, wie er sich abstieß und mit einem gewaltigen Satz auf sie zuflog.

Verzweifelt warf sie sich zur Seite, aber diesmal verließ sie ihr Glück. Der Wolf musste ihre Bewegung vorausgeahnt haben; vielleicht war sein Sprung auch ungeschickt gezielt gewesen, und sie hatte sich ihm in den Weg geworfen, statt in die andere Richtung - gleich wie: Das Tier, das trotz allem noch immer fast so schwer wie sie selbst sein musste, prallte mit entsetzlicher Wucht gegen sie und riss sie von den Füßen. Ein scharfer Schmerz explodierte in ihrem Arm, als sich die Zähne des Wolfes in ihre Bluse gruben und den Stoff und die darunter liegende Haut mühelos zerfetzten. Arri schrie vor Schmerz und Angst, schlug ungeschickt auf dem Boden auf und besaß diesmal nicht mehr genug Geistesgegenwart, um sich abzurollen und dem Sturz auf diese Weise seine allerschlimmste Wucht zu nehmen, sodass sie ein zweites Mal und noch härter gegen einen Baumstamm prallte und um ein Haar das Bewusstsein verloren hätte.

Als sie die Augen aufschlug und sich hochrappelte, war sie sich sicher, dass sie nun sterben würde.

Auch der Wolf war gestürzt, genau wie das erste Mal, als er sie angesprungen hatte, aber sie hatte ihn entweder hoffnungslos unterschätzt, oder Todesangst und Schmerz verliehen dem Tier noch einmal seine alten, gewaltigen Kräfte. Arri stemmte sich wimmernd vor Schmerz und Angst in die Höhe, während der Wolf mit einer fast spielerisch anmutenden Bewegung aufsprang und herumwirbelte. Sein Fang war weit geöffnet, und in seinen blutunterlaufenen Augen loderte jetzt nichts anderes als die reine Mordlust. Das Tier wusste, dass es sterben würde, aber es würde sie mitnehmen. Arri riss mit einem verzweifelten Schrei die Arme vors Gesicht und warf sich mit einer noch verzweifelteren Bewegung zur Seite, doch sie spürte auch, dass sie viel zu langsam war. Der Wolf sprang mit einem mächtigen Satz auf sie zu...

... und neben Arri tauchte wie aus dem Nichts ein riesiger, verzerrter Schatten auf, der gegen den Wolf prallte und ihn davonschleuderte.

Zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit schlug Arri auf dem Waldboden auf, der plötzlich überhaupt nicht mehr federnd und nachgiebig schien, sondern ihr so hart wie Stein vorkam; sie rollte herum und keuchte noch einmal und noch lauter vor Schmerz, als sie dabei ihren verletzten Arm belastete. Sie spürte, wie sich hinter ihren Lidern eine gewaltige, allumfassende Dunkelheit zusammenballte. Ihre Sinne begannen zu schwinden. Aber wenn sie jetzt das Bewusstsein verlor, das wusste sie, dann würde sie nicht wieder aufwachen. Mit verzweifelter Kraft kämpfte sie die Ohnmacht nieder, zwang sich, sich auf den Rücken zu wälzen und die Augen zu öffnen, und musste ein paarmal blinzeln, denn im ersten Moment sah sie nichts als verwaschene Schemen und ineinander laufende Schatten.

Dann klärte sich ihr Blick, und was sie sah, das ließ sie für einen Moment sogar ihre Schmerzen und ihre Todesangst vergessen.

Der Wolf war gute fünf oder sechs Schritte weit von ihr zu Boden gestürzt und musste sich dabei noch weiter verletzt haben, denn er stieß nun ein hohes, klägliches Fiepen aus und versuchte vergeblich, sich in die Höhe zu stemmen. Seine Hinterläufe brachen immer wieder ein, und auch der Blutstrom aus seinem Ohr und seinem Maul hatte deutlich zugenommen. Eine riesenhafte, ganz in zottiges, schwarzes Fell gehüllte Gestalt stand breitbeinig und leicht geduckt über dem gefällten Tier, ein Ungeheuer, zehnmal so groß wie der Wolf und hundertmal so gefährlich.

Das Trugbild hielt nur einen Augenblick. Schon auf den zweiten Blick erkannte Arri, dass es ein Mann war, kein Ungeheuer, doch das mochte an allem anderen, was sie über die Gestalt gedacht hatte, nichts ändern. Es war der riesigste Mann, den sie jemals zu sehen geglaubt hatte; selbst Nor musste neben ihm wie ein Zwerg aussehen, und er war so breitschultrig, dass sich auch Grahl und seine Brüder mühelos hinter ihm hätten verstecken können. Arri konnte sein Gesicht nicht erkennen, denn er wandte ihr den Rücken zu, aber er hatte langes, bis weit über die Schultern fallendes, dichtes schwarzes Haar, und im allerersten Moment war es ihr unmöglich, mit Sicherheit zu sagen, ob das schwarze Fell, in das er sich gehüllt hatte, tatsächlich nur ein Umhang war.

Der Wolf gab es auf, ganz aufstehen zu wollen, und stemmte sich nur auf die Vorderläufe hoch. Sein von hellrotem Schaum erfülltes Maul versuchte, nach dem Mann zu schnappen, doch dieser wich dem Angriff mit einer fast spielerischen Bewegung aus und versetzte dem Tier im Gegenzug einen wuchtigen Tritt vor den Kopf, der es abermals zu Boden schleuderte. Dann griff er unter seinen Umhang, zog ein Schwert hervor und stieß es dem Wolf mit einer einzigen, kraftvollen Bewegung tief in den Leib. Das Tier heulte noch einmal schrill und erschlaffte dann. Der Fremde zog die Waffe zurück, wischte die Klinge mit einer sorgsamen Bewegung am Fell des toten Wolfes ab, und versetzte dem Kadaver rasch hintereinander noch zwei, drei wuchtige Tritte; vermutlich weniger, um seinen Zorn an ihm auszulassen, als eher, um sich davon zu überzeugen, dass das Tier auch tatsächlich tot war. Dann ließ er die Waffe wieder unter seinem Umhang verschwinden und drehte sich mit einer betont langsamen Bewegung zu Arri um.

Arri erstarrte. Sie glaubte zu spüren, wie ihr Herz für einen Moment aufhörte zu schlagen und dann mit doppelter Wucht wieder einsetzte, und sie sah den Fremden aus ungläubig aufgerissenen, starren Augen an. Ihre Gedanken schienen plötzlich nur noch träge abzulaufen, wie ein unvorsichtiger Wanderer, der in den Sumpf geraten war und mit jedem Schritt mehr Kraft aufbringen musste, um von der Stelle zu kommen. Sie war nicht einmal sicher, dass sie noch atmete.

Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte - aber ein Gesicht wie dieses hatte sie noch nie zuvor gesehen. Der Fremde war ganz eindeutig ein Mann und kein Ungeheuer, wie sie im allerersten Moment gedacht hatte, und doch war sie sich nicht einmal dessen völlig sicher. Sein Gesicht, das von rabenschwarzem lockigem Haar eingerahmt war, war kräftig und markant und dennoch viel schmaler als das der Männer aus dem Dorf, was es ihr schier unmöglich machte, sein Alter zu schätzen - noch dazu, weil er keinen Vollbart trug, wie alle anderen Männer, die Arri kannte, Nor einmal ausgenommen. Er hatte hohe, deutlich hervorstehende Wangenknochen, was sein Gesicht ein wenig wie das ihrer Mutter aussehen ließ, und sehr helle, klare Augen, die von einem sonderbaren Blau waren und Arri mit einer Mischung aus Neugier, Erleichterung und sanftem Tadel anblickten.

Eine geraume Weile stand er einfach nur da und sah sie auf diese seltsame Art an, unter der sie sich zunehmend unwohler fühlte, obwohl sie tief in sich zu spüren glaubte, dass von diesem Fremden keine Bedrohung ausging - immerhin hatte er ihr das Leben gerettet -, dann streckte er die Hand in ihre Richtung aus und machte einen einzelnen Schritt, blieb aber sofort wieder stehen, als Arri erschrocken zusammenfuhr und hastig ein kleines Stück rücklings vor ihm davonkroch. Für einen ganz kurzen Moment lächelte er; jedenfalls nahm sie an, dass es ein Lächeln war, auch wenn sie sich nicht ganz sicher sein konnte. Schließlich hatte sie bis auf Nor noch niemals das fast bartlose Gesicht eines erwachsenen Mannes gesehen, und dieses Blecken der Lippen, das zwei Reihen erstaunlich großer, makellos weißer Zähne entblößte, mochte ebenso gut eine Drohgebärde sein. Arri kroch vorsichtshalber noch ein weiteres Stück vor ihm davon und hob den linken, unverletzten Arm vor das Gesicht.

»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagte der Fremde. Seine Stimme war tief und volltönend und erfüllte Arri mit einem vollkommen absurden Gefühl von Zutrauen und Sicherheit, doch sie hatte Mühe, die Worte überhaupt zu verstehen. Er sprach langsam, als müsse er über jedes einzelne Wort erst einen winzigen Augenblick nachdenken, bevor er es wählte, und mit einem rollenden Akzent, den Arri noch nie zuvor gehört hatte. Und ganz plötzlich begriff sie, wer da vor ihr stand.

Es musste einer der Fremden sein, die Grahls Bruder erschlagen und Kron verwundet hatten!

Das Gefühl vorsichtiger Erleichterung, das sie bisher verspürt hatte, verschwand schlagartig. Sie hatte die Geschichten, die man sich im Dorf erzählte, nicht wirklich geglaubt. Ebenso wie ihre Mutter war sie der Meinung gewesen, dass Grahl und die anderen logen - zweifellos in Sarns Auftrag - und dass es die Spuren, die sie entdeckt zu haben behaupteten, gar nicht gab. Sie hatte sich getäuscht. Das musste einer der Fremden sein. Mit einem Mal erkannte sie es so deutlich, als hätte der Mann ihre Gedanken gelesen und ihre Vermutung laut bestätigt: dunkelhaarige Riesen in schwarzen Fellen, die mit Schwertern bewaffnet waren und erst zuschlugen und dann fragten, was sie getroffen hatten.

Er hatte sie vor dem Wolf gerettet, aber zweifellos nur, um sie jetzt selbst zu töten. Arri begann leise zu wimmern. Sie wollte weiter vor dem Fremden davonkriechen, aber ihre Kraft reichte nicht mehr.

»Du bist tapfer«, fuhr der Fremde fort. Er ließ den Arm sinken und versuchte auch nicht, noch einmal näher zu kommen. »Aber wenn du das nächste Mal einen Wolf erschlägst, überzeuge dich davon, dass er auch wirklich tot ist.«

Und damit nickte er ihr noch einmal zu, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand so schnell und lautlos wieder im Wald, wie er aufgetaucht war.

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