35

Noch bevor sie auch nur den halben Weg ins Tal hinab zurückgelegt hatten, kamen Arianrhod doch ernsthafte Zweifel, was ihre angebliche Begabung zum Reiten anging; und das, was ihre Mutter darüber gesagt hatte. Es fiel ihr immer schwerer, sich auf Nachtwinds Rücken zu halten, und auch ihre Mutter hatte damit zu kämpfen, nicht stetig nach vorn zu rutschen. Mehr als einmal fand sich Arianrhod tatsächlich fast auf dem Hals des Hengstes sitzend vor, und Dragosz, der anfangs hinter ihnen geritten war, bis Lea den Hengst für einen Moment anhalten ließ, damit er sich neben sie setzen konnte, begann zuerst leise, dann immer lauter und ununterbrochen zu fluchen.

Sturmwind machte es ihm aber auch wirklich nicht leicht. Die beiden Pferde hatten Mühe, auf dem abschüssigen und noch dazu mit lockerem Geröll und Sand bedeckten Boden nicht ins Straucheln zu geraten, aber sie bewegten sich gleichzeitig auch sehr vorsichtig. Der Weg nach unten, das spürte Arianrhod einfach, war nicht wirklich gefährlich, sondern einfach nur mühsam. Aber sie hatte das Gefühl, dass sich die Stute absichtlich ungeschickt anstellte, um es ihrem Reiter so unbequem wie nur möglich zu machen.

Dann hatten sie den Hang auch schon hinter sich gelassen, und schon nach wenigen Augenblicken hatte Dragosz mit ihnen gleichgezogen. »Es ist jetzt nicht mehr weit«, rief er. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf einen grünen Klecks, den Arianrhod von der Höhe des Hügelkamms aus für ein Gebüsch gehalten hatte. Jetzt sah sie, dass es eine kleine Baumgruppe war, gerade noch an der Grenze dessen, dass man es nicht wirklich einen Wald nennen konnte. »Dorthin müssen wir.«

Lea blickte einen Moment lang konzentriert in die bezeichnete Richtung. »Ich sehe nichts.«

»Deshalb nennt man es ja auch ein Versteck«, antwortete Dragosz spöttisch. »Ein Versteck, in dem man jeden sofort sieht, ist keines.«

Sie ritten so schnell, dass der Wald geradezu heranzufliegen schien. Arianrhods Blick suchte aufmerksam die Schatten zwischen den Bäumen ab, versuchte einen Umriss auszumachen, der nicht dorthin gehörte, eine Bewegung, die nicht sein sollte, aber sie entdeckte nichts. Wenn Rahn und die anderen tatsächlich dort vorne auf sie warteten, dann hatten sie sich sehr gut versteckt.

Und wenn nicht?, wisperte eine lautlose Stimme hinter ihrer Stirn. Wenn ihre Verfolger sie eingeholt und Rahn und die anderen überwältigt hatten und nun an ihrer Stelle dort vorne warteten? Oder, schlimmer noch: wenn Dragosz sie verraten hatte?

Arianrhod erschrak über diesen Gedanken und versuchte ihn abzuschütteln, aber er blieb hartnäckig da, wo er war, und ihre nagenden Zweifel (ja, auch an Dragosz!) wurden ganz im Gegenteil noch stärker.

Doch gerade, als sie glaubte, es nicht mehr aushalten zu können und sich den Kopf darüber zerbrach, wie sie eine entsprechende Frage stellen konnte, ohne Dragosz zu verletzen, erwachte einer der Schatten zwischen den Bäumen zu plötzlichem Leben, und ein hoch gewachsener, hellhaariger Mann in einem braunen Wollmantel trat aus dem Wald. Arianrhod hatte ihn noch nie gesehen, sehr wohl aber jemanden wie ihn. Er trug keinen Bart, und obwohl sie noch zu weit entfernt war, um sein Gesicht genau erkennen zu können, war die Ähnlichkeit mit Dragosz unübersehbar. Das musste einer der beiden Krieger sein, von denen er gesprochen hatte.

Dragosz hob die linke Hand und winkte. Der Fremde zögerte sichtbar, bevor er seinen Gruß erwiderte, und er kam ihnen auch nicht entgegen, wie Arianrhod eigentlich erwartet hätte, sondern machte kehrt und verschwand so schnell und lautlos wieder zwischen den Bäumen, wie er aufgetaucht war.

Auch ihre Mutter schien gebührend beeindruckt zu sein. »Sind alle deine Männer so gut?«, wandte sie sich an Dragosz, während sie das Pferd zügelte und in derselben Bewegung auch schon von seinem Rücken glitt.

»Nicht alle«, gestand Dragosz, allerdings in einem Ton, der deutlich machte, dass ihm dieses Eingeständnis nichts auszumachen schien. »Aber die, nach denen ich geschickt habe. Es sind die besten. Wenn Sarns Krieger wirklich dumm genug sind, uns einzuholen, dann werden sie es bereuen.«

Lea sagte nichts dazu, aber Arianrhod entging auch nicht der sonderbare Blick, mit dem sie Dragosz für einen Moment maß. Bei seinen letzten Worten war etwas in seiner Stimme gewesen, was ihrer Mutter ebenso wenig zu gefallen schien wie ihr. Er hatte sich fast angehört, als wünsche er sich, dass sie auf die Krieger aus Goseg stießen. Die Geschichten, die man sich über das fremde Volk aus dem Osten erzählte, fielen ihr wieder ein, und die Frage, die sie ihrer Mutter vorhin gestellt hatte. Und auch ihre Antwort darauf.

Hastig verscheuchte sie den Gedanken, folgte dem Beispiel ihrer Mutter und glitt vom Pferd. Sie beschleunigte ihre Schritte voller Unruhe, bis sie Dragosz und ihre Mutter eingeholt hatte, die schon vorausgegangen waren. Gerade als sie den Waldrand erreichten, sah Arianrhod einen Schatten, der zwischen den Baumstämmen auf sie zukam. Sie erwartete, denselben Krieger zu sehen wie zuvor, doch es war Rahn, der ihnen entgegentrat. Der Fischer wirkte fahrig und übernächtigt, aber als er Arianrhod erblickte, breitete sich ein Ausdruck echter Erleichterung auf seinem Gesicht aus.

»Arri!«, rief er aus. »Ich bin so froh, dich zu sehen.« Und ehe Arianrhod auch noch richtig begriff, wie ihr geschah, eilte er mit weit ausgreifenden Schritten auf sie zu und schloss sie in die Arme, wie eine lang vermisste Schwester, die wiederzusehen er kaum noch gehofft hatte.

Nur mit Mühe gelang es Arianrhod, sich aus seiner stürmischen Umarmung loszumachen und ihn ein kleines Stück weit von sich wegzuschieben. »Rahn!«, keuchte sie. »Bist du verrückt geworden? Was soll das?«

Bevor Rahn antworten konnte, fragte Dragosz rasch: »Wo sind die anderen?«

Rahn deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück. »Sie warten auf euch, gleich hinter den Bäumen. Wo wart ihr so lange? Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, dass ihr es doch noch schafft.«

»Dann sollten wir sie auch nicht länger als unbedingt nötig warten lassen«, sagte Dragosz. Mit schnellen Schritten ging er an Rahn vorbei und verschwand im Wald, während Lea eine Lücke im Unterholz suchte, durch die sie in den Wald eindringen konnte, ohne sich das Kleid zu zerreißen (auch wenn sich Arianrhod nicht vorstellen konnte, dass das noch einen großen Unterschied machte). Nachtwind ließ sie einfach laufen. Arianrhod warf ihr einen erschrockenen Blick zu, aber Lea machte nur eine rasche, beruhigende Geste.

»Sie laufen nicht weg, keine Sorge«, sagte sie. »Dieser dichte Wald ängstigt sie nur.« Sie sah sich weiter um, fand endlich, wonach sie gesucht hatte, und gab Arianrhod zugleich mit einer entsprechenden Kopfbewegung zu verstehen, ihr zu folgen.

»Ich bin so froh, dass ihr es geschafft habt«, sagte Rahn noch einmal. »Wir alle haben uns große Sorgen um dich gemacht.«

»Wir?«, fragte Arianrhod, während sie sich behutsam einen Weg durch das zwar dürre, aber dornige Unterholz zu bahnen versuchte. Sie hätte umkehren und es auf demselben Weg wie ihre Mutter versuchen können, aber es widerstrebte ihr zurückzugehen, und seien es nur wenige Schritte.

»Kron, Achk und ich«, antwortete Rahn. »Und Dragosz’... Freunde.«

Das unmerkliche Stocken entging Arianrhod nicht; sie stellte zwar keine entsprechende Frage, aber die Art, auf die Rahn das Wort Freunde ausgesprochen hatte, ließ eine solche auch überflüssig werden.

»Wir wären schon eher hier gewesen«, antwortete sie, »aber du weißt ja, wie Sarn ist. Er drängt jedem seine Gastfreundschaft auf und ist immer so schnell beleidigt, wenn man zu früh abreisen will.«

Rahn blinzelte. Einen Moment lang wirkte er irritiert und konnte sichtlich nichts mit diesen Worten anfangen, aber schließlich schien er wenigstens zu begreifen, wie sie gemeint gewesen waren, und zwang sich zu einem - wenn auch missglückten - Lachen. Aber er wurde auch sofort wieder ernst. »Was ist passiert?«, wollte er wissen. »Wie konntet ihr entkommen?«

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Arianrhod unwillig, was der Wahrheit entsprach, aber nicht der Grund dafür war, dass sie Rahn nicht erzählte, wie ihre Mutter und Dragosz sie befreit hatten. Sie wollte nicht darüber reden. Jetzt nicht, und vielleicht auch später nicht.

Rahn wirkte enttäuscht, beherrschte sich aber, keine weitere Frage zu stellen, und machte eine aufgeregte wedelnde Handbewegung hinter sich. Seine Freude, sie wiederzusehen, wirkte durchaus echt, wie sich Arianrhod mit einem Gefühl leiser Verwirrung eingestand. Vor allem nach dem, was sie mit Rahn in Goseg erlebt hatte, war ihr Misstrauen ihm gegenüber zwar regelrecht aufgelodert, fast im gleichen Maße aber auch ihre Verwirrung, wie sie zu ihrer eigenen Überraschung erst jetzt begriff. Es war längst nicht so, dass sie daran glaubte oder gar darauf vertraute, nein, sie wurde einfach nicht schlau aus ihm. Immerhin, musste sie einräumen, wäre sie nicht hier, hätte er ihre Mutter und Dragosz nicht alarmiert und sich damit - zum ersten Mal in seinem Leben - offen gegen Sarn gestellt.

Zu ihrer Erleichterung war der Weg nicht weit. Schon nach wenigen Dutzend Schritten lichtete sich der Wald vor ihnen wieder, und sie hörte die Stimme ihrer Mutter, die mit jemandem sprach. Gerade noch langsam genug, um nicht wirklich zu rennen, eilte sie weiter und trat auf eine halbrunde Lichtung hinaus, die sich zu der mit Felsen und Geröll übersäten Talböschung hin öffnete.

Ihre Mutter und Dragosz waren nur unweit entfernt. Dragosz unterhielt sich mit dem Mann, der ihnen vorhin am Waldrand entgegengekommen war, während ihre Mutter die Arme vor der Brust verschränkt hatte und zuhörte. Sie wirkte verstimmt. Von dem zweiten Krieger, von dem Dragosz gesprochen hatte, war keine Spur zu sehen.

Dafür entdeckte sie Kron und den Schmied auf der anderen Seite der Lichtung. Sie saßen im Windschatten eines großen, vierrädrigen Karrens, und Achk hatte die Hände über der Glut eines fast erloschenen Feuers ausgestreckt, um sich zu wärmen. Auch Kron saß vornüber gebeugt und in einer Haltung da, die große Müdigkeit anzeigte, doch als er Arianrhod erblickte, sprang er auf und eilte ihr entgegen. Achk hob, durch die plötzliche Bewegung aufgeschreckt, den Kopf und sah sich aus weit aufgerissenen, blinden Augen um.

»Ihr habt es also tatsächlich geschafft«, begann Kron, als er auf Hörweite heran war. Achk legte den Kopf schräg und lauschte konzentriert. Als er Arianrhods Stimme hörte, hellte sich sein Gesicht auf.

»Hast du daran gezweifelt?«, wollte sie wissen.

Der einarmige Jäger war klug genug, diese Frage nicht zu beantworten. Stattdessen schenkte er ihr noch einen kurzes, aber sehr warmes Lächeln, dann wurde er übergangslos umso ernster. »Seid ihr verfolgt worden?«

»Ganz bestimmt sogar«, antwortete Arianrhod, »aber nicht auf dem Weg, den wir genommen haben.« Krons Gesichtsausdruck wurde fragend, und Arianrhod fügte hinzu, indem sie mit beiden Händen so etwas wie einen nach oben offenen Trichter bildete: »Wir sind den Hohlweg hinabgekommen.«

Kron sog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein. »Den Hohlweg?« Hastig sah er zu Lea hin. »Aber ich habe deine Mutter doch davor gewarnt. Er ist sehr gefährlich.«

»Wahrscheinlich hat sie ihn deshalb genommen«, erwiderte Arianrhod mit einem flüchtigen Lächeln und zuckte dann mit den Schultern. »Aber wie du siehst, haben wir es ja geschafft. Jetzt ist alles vorbei.«

Weder Kron noch Rahn sahen so aus, als teilten sie ihre Einschätzung der Lage, aber keiner der beiden sagte etwas. »Bist du hungrig?«, fragte Kron.

Und ob sie das war, immerhin hatte sie seit gestern Mittag nichts mehr gegessen. Sie nickte heftig, und genau in diesem Moment ließ ihr Magen ein lautstarkes Knurren hören, was ihr außerordentlich peinlich war.

Kron grinste und machte eine einladende Geste in Richtung des Wagens. »Dann komm. Essen haben wir genug. Sarn hat uns zwar in den sicheren Tod geschickt, aber anscheinend wollte er nicht, dass wir hungrig sterben.«

Allein der Gedanke an Essen ließ Arianrhod das Wasser im Munde zusammenlaufen, aber sie schüttelte trotzdem den Kopf und deutete auf ihre Mutter. »Ich komme gleich«, sagte sie. »Ihr könnt ja schon einmal das Feuer anfachen und das saftigste Bratenstück heraussuchen, das ihr habt. Ich bin hungrig wie ein Wolf nach dem Winter.«

Ehe Kron widersprechen konnte, fuhr sie herum und eilte zu ihrer Mutter und den beiden anderen Männern. Der fremde Krieger sprach noch immer, heftig mit beiden Händen gestikulierend und mit gedämpfter Stimme mit Dragosz, warf ihr aber trotzdem einen zwar kurzen, aber sehr aufmerksamen und irgendwie abschätzenden Blick zu, als sie näher kam. Auch ihre Mutter wandte den Kopf, und es schien Arianrhod, als wolle sie ihr mit Blicken irgendetwas signalisieren, aber wenn, dann verstand sie es nicht.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie, als sie bei den dreien angekommen war. Ihre Mutter deutete nur ein Schulterzucken an, und Dragosz wechselte noch ein paar Worte in einer fremden Sprache mit dem Krieger, die Arianrhod nicht verstand. Dann nickte der Mann und verschwand mit schnellen Schritten im Unterholz, und Dragosz wandte sich erst jetzt zu ihr um und räusperte sich unbehaglich. »Ich bin nicht sicher. Vielleicht ein wenig beunruhigt.«

»Worüber?«, wollte Arianrhod wissen.

»Die Männer glauben, dass jemand in der Nähe ist«, sagte Dragosz. »Gut möglich, dass es Sarns Krieger sind.«

Arianrhod sah sich mit einer übertriebenen Geste um. »Die Männer?«, vergewisserte sie sich. »Ich habe nur einen gesehen. Hast du nicht gesagt, es wären zwei?«

»Der andere hält oben auf dem Hügel Wache«, antwortete Dragosz. »Barosch ist gerade unterwegs, um ihn zu holen.« Er legte den Kopf schräg. »Was soll dieses Verhör?«

»Ich war nur...«, begann Arianrhod, und Dragosz unterbrach sie mit einer halb ungeduldigen, halb ärgerlichen Geste.

»Du hast mit Rahn gesprochen«, sagte er. »Ich weiß ja nicht, was er dir erzählt hat, aber du glaubst besser nur das, was du siehst.« Und damit wandte er sich um und stapfte wütend davon.

Arianrhod sah ihm verwirrt nach. »Was... was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht?«

»Nichts«, beruhigte sie Lea. »Es hat wohl irgendeinen dummen Streit zwischen Dragosz’ Männern und Rahn gegeben, als wir weg waren.« Sie zuckte betont beiläufig mit den Schultern. »Mach dir keine Sorgen. Sie werden schon lernen, miteinander auszukommen.«

Das hätte überzeugend klingen sollen, tat es aber nicht, weder in Arianrhods noch in Leas Ohren, wie sie ihr deutlich ansehen konnte. Arianrhod seufzte innerlich tief. Sie hatten die eine Gefahr noch nicht hinter sich, und schon zeichneten sich wieder neue Probleme ab. So hatte sie sich dieses Abenteuer wahrlich nicht vorgestellt.

»Hast du nicht gesagt, Morgenwind wäre hier?«, wandte sie sich an ihre Mutter; vielleicht nur, um das Thema zu wechseln.

»Ich habe gesagt, sie ist bei uns«, verbesserte sie Lea, »nicht, dass sie hier im Lager wäre.« Sie kam Arris Widerspruch über diese Spitzfindigkeiten mit einem entschiedenen Kopfschütteln zuvor. »Keine Sorge. Sie läuft öfter einmal davon, aber sie kommt immer wieder zurück.« Ein Schulterzucken. »Sie ist ein Mädchen, was erwartest du?«

Diesmal funktionierte es nicht. Arri sah ihre Mutter nur traurig an und raffte sich schließlich sogar zu einem matten Lächeln auf, aber nicht, weil ihr scherzhafter Ton sie wirklich aufgeheitert hätte, sondern um ihr zu zeigen, dass sie die gute Absicht zu würdigen wusste. »Kron hat... hat etwas zu essen für uns«, sagte sie unbeholfen.

»Dann geh und iss«, antwortete Lea. »Ich bin nicht hungrig, aber du musst es sein. Haben sie dir wenigstens genug zu essen gegeben, während du in Goseg warst?«

»Meistens«, antwortete Arianrhod ausweichend.

»Also nicht«, stellte Lea fest. »Dann iss dich erst einmal satt. Wer weiß, wann du das nächste Mal dazu kommst.«

Arri war irritiert. Schickte ihre Mutter sie weg?

Im nächsten Moment bereute sie ihren Gedanken. Selbst wenn es so war, ging sie das wirklich nichts an. Trotzdem antwortete sie: »Das gilt aber auch für dich.«

»Ich bin nicht hungrig«, sagte Lea noch einmal. »Sarn war überaus großzügig, als er Rahn und die beiden anderen weggeschickt hat. Wahrscheinlich soll ihm niemand nachsagen, er habe kein gutes Herz.« Sie wedelte mit der Hand in Richtung des Wagens. »Geh schon. Ich habe noch mit Dragosz zu sprechen.«

Das war deutlich genug. Arianrhod sah ihre Mutter verunsichert an, aber dann wandte sie sich mit einem beleidigten Ruck um und ging zu Kron und dem Blinden zurück, die hinter dem abgeschirrten Wagen auf sie warteten.

Der Duft von gebratenem Fleisch drang ihr in die Nase, noch bevor sie den Wagen ganz umrundet hatte, und ließ ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen. Sie ging schneller und musste sich beherrschen, um die letzten Schritte nicht zu rennen.

Rahn und die beiden anderen saßen mit untergeschlagenen Beinen in einem Dreiviertelkreis dergestalt um das Feuer herum, dass noch ein Platz frei blieb. Die Flammen züngelten jetzt so hoch, dass Arianrhod die Wärme bereits spüren konnte, als sie noch etliche Schritte davon entfernt war. Der Fischer hatte ein gewaltiges Stück Fleisch an einem Stock aufgespießt, den er in die prasselnden Flammen hielt und dabei langsam von rechts nach links und wieder zurückdrehte. Obwohl es noch roh und an einigen Stellen sogar blutig war, wurde aus ihrem nagenden Hunger pure Gier, sodass sie all ihre Selbstbeherrschung aufbringen musste, um Rahn den Stock nicht aus der Hand zu reißen und die Zähne in das Fleisch zu graben. Vielleicht hätte sie es sogar getan, wären die beiden anderen nicht dabei gewesen.

So fuhr sie sich nur mit der Zunge über die Lippen und steuerte den frei gebliebenen Platz am Feuer an. Rahn schenkte ihr ein Lächeln, an dem sie erkennen konnte, wie deutlich er ihr ihren Hunger ansah, und auch Kron maß sie mit einem sonderbaren Blick, den Arianrhod nicht richtig einzuordnen vermochte. Die Art, auf die das Gespräch der drei Männer abrupt endete, als sie sich zu ihnen gesellte, verriet Arianrhod, dass sie über sie gesprochen hatten.

»Es dauert nur noch einen Moment«, sagte Rahn, nachdem Arianrhod sich gesetzt und die Beine auf die gleiche Art wie er und die beiden anderen unter den Körper geschoben hatte. Erst danach ging ihr auf, dass es genau umgekehrt war: Rahn, Achk und der einarmige Jäger saßen da wie sie, in einer vielleicht unbequem aussehenden Haltung, die es aber ganz und gar nicht war, sondern es im Gegenteil möglich machte, eine geraume Zeit so dazusitzen, ohne dass sich die Muskeln verspannten oder man gar Krämpfe bekam. Diese Art zu sitzen hatten die Menschen in ihrem Dorf von ihrer Mutter gelernt, und wie so vieles hatten sie am Anfang darüber gelacht oder es schon aus Prinzip abgelehnt, nur um ihr dann umso emsiger nachzueifern, nachdem sie erst einmal begriffen hatten, wie nützlich es war.

Arianrhods Blick wanderte ohne ihr Zutun schon wieder zu dem Stück Fleisch, das Rahn an seinem Stock aufgespießt hatte. Fett, vielleicht auch Blut, tropfte heraus und fiel zischend auf das glühende Holz, das die Flammen nährte, und sie musste immer heftiger schlucken, um den Speichel loszuwerden, der sich unter ihrer Zunge sammelte.

Rahn kramte mit der freien Hand in einem Beutel herum, der hinter ihm auf dem Boden lag. Als er den Arm wieder hervorzog, hielt er ein dünnes Stück Fladenbrot in den Fingern, das aussah, als hätte jemand schon emsig daran herumgeknabbert. Arianrhod riss es ihm trotzdem regelrecht aus der Hand und verschlang es mit zwei gierigen Bissen. Der Blick, mit dem der Fischer sie dabei musterte, hätte ihr peinlich sein müssen, aber er war es nicht. Ganz im Gegenteil heftete sich ihr eigener Blick auf den Beutel, aus dem Rahn das Brot genommen hatte, und was man darin lesen konnte, musste wohl überdeutlich sein, denn Rahn schmunzelte nur und förderte ein zweites, größeres Stück Brot zutage, das Arianrhod ebenso schnell verputzte, auch wenn sie sich noch so fest vorgenommen hatte, sich zu beherrschen und nicht zu gierig auszusehen.

Gleich darauf und diesmal eindeutig fordernd, sah sie noch einmal zu dem Beutel hin, doch jetzt schüttelte Rahn den Kopf. »Wenn du zu gierig bist, wird dir nur schlecht. Eigentlich solltest du das doch wissen, oder?«

»Du meinst, weil meine Mutter mir mit solchen Weisheiten ununterbrochen in den Ohren gelegen hat?«, gab Arianrhod zurück, während sie den Beutel unverwandt anstarrte. So dick, wie er war, musste er noch eine ganze Menge Brot enthalten.

Rahn lachte leise. »Wie kommst du auf die Idee, nur dir?«, fragte er kopfschüttelnd.

Arianrhod riss ihren Blick mit einiger Mühe von den Beutel los, um Rahn irritiert anzusehen, aber schließlich deutete sie nur ein Schulterzucken an und zwang sich, eine etwas weniger verkrampfte und sprungbereite Haltung einzunehmen. Rahn hatte vollkommen Recht.

Unglücklicherweise kümmerte sich ihr Magen nicht darum, was richtig war und was falsch. Er knurrte abermals, und diesmal sehr viel lauter und anhaltender als vorher, denn die paar kümmerlichen Bissen, die sie bekommen hatte, hatten ihren Hunger allenfalls richtig angefacht. Um den peinlichen Moment zu überspielen, rettete sie sich in ein schüchternes Lächeln und fragte: »Ich... ich esse euch doch nichts weg, oder?«

Kron schüttelte den Kopf. »Nein, Vorräte haben wir im Augenblick genug.«

»Und wenn es anders wäre«, fügte Rahn mit einem breiten Grinsen hinzu, »würde es dich davon abhalten?«

Arianrhod funkelte ihn wütend an, aber sie spürte auch selbst, dass ihr Zorn nicht ganz echt war, und musste plötzlich lachen. »Nein«, gestand sie.

»Siehst du?«, meinte Rahn. Er tauchte sein Stöckchen tiefer in die Flammen, sodass sie das Fleisch nun von allen Seiten bestrichen. Das Zischen von verkochendem Fett und Blut wurde lauter, und in den Bratenduft mischte sich nun ein leicht verbrannter Geruch. Er wird es verderben, dachte Arianrhod fast entsetzt. Wieder musste sie sich mit aller Macht beherrschen, Rahn den Stock nicht einfach aus den Händen zu reißen.

Sie schluckte ein paar Mal. »Wieso war Sarn so großzügig und hat euch so viel Essen mitgegeben?«

»Vielleicht wollte er, dass man in Goseg ein Loblied auf seine Großzügigkeit und sein weiches Herz singt«, antwortete Kron an Rahns Stelle, aber der Fischer schüttelte nur den Kopf. Er sah Arianrhod weiter mit diesem sonderbar warmen Lächeln an, das ihr ebenso unangenehm war, wie es sie verwirrte und ihr zugleich auch gefiel, und fügte dann fast verächtlich hinzu: »Sarns Herz ist genauso groß wie seine Mildtätigkeit und sein Glaube an die Götter.« Er schnaubte; abfällig und leise, zugleich aber auch sonderbar belustigt. »Er hat uns diesen Wagen nur mitgegeben, weil er so schöne, breite Spuren hinterlässt, denen selbst ein Blinder folgen könnte.«

Achk sah bei diesen Worten auf und wandte das Gesicht in die ungefähre Richtung, in der er Rahn vermutete.

»Und?«, fragte Arianrhod. Auch Kron blickte den Fischer stirnrunzelnd an.

»Zwei seiner Krieger sind uns gefolgt, kaum dass die Sonne untergegangen war«, antwortete Rahn. »Ich habe sie nicht gefragt, aber ich nehme doch an, dass sie den Auftrag hatten, den Wagen samt Inhalt unversehrt nach Goseg zurückzubringen... ohne dass jemand es sieht.«

»Und?«, fragte Arianrhod noch einmal.

»Deine Mutter hat mich eine Menge nützliche Dinge gelehrt«, antwortete Rahn mit einem sonderbaren Lächeln. »Unter anderem auch, wie man Spuren verwischt. Selbst die eines Wagens.«

Arianrhod blickte zweifelnd, und auch der Ausdruck auf Krons Gesicht wurde immer fragender.

»Dann... dann sind sie immer noch auf der Suche nach euch?«, fragte Arianrhod beunruhigt.

»Die beiden Männer?« Rahn lächelte dünn und drehte das Fleisch in den Flammen, sodass das Zischen und Brutzeln noch einmal lauter wurde. »Nein. Nicht mehr.«

Arianrhod wartete darauf, dass er weitersprach, aber Rahn lächelte nur still und schien sich plötzlich ganz auf den Braten an seinem Stock zu konzentrieren, doch nach einer Weile sagte Achk: »Du warst gestern Nacht eine Weile fort.«

»Jeder Mann muss dann und wann einmal allein in den Wald gehen«, antwortete Rahn. »Du etwa nicht?«

»Als du zurückgekommen bist, hast du nach Blut gerochen«, beharrte Achk.

»Da muss ich wohl auf ein Kaninchen getreten sein«, antwortete Rahn versonnen. Er wandte den Kopf und starrte Achk an, und obwohl dieser blind war, schien er seinen Blick irgendwie zu spüren, denn er beharrte nicht auf diesem Thema, sondern zog nur wieder diese abstoßende Grimasse, die er sich angewöhnt hatte, seit er nichts mehr sehen konnte, und die wohl nur er selbst für ein Lächeln hielt.

»Das Fleisch ist fertig«, sagte Rahn in verändertem Ton, während er den Spieß aus den Flammen nahm und ihn Arianrhod hinhielt. »Aber sei vorsichtig. Es ist sehr heiß.«

Er hatte nicht übertrieben. Selbst das entfernte Ende des Stocks, das Arianrhod mit spitzen Fingern ergriff, war so heiß, dass sie es kaum festhalten konnte. Sie verbrannte sich an dem Fleisch kräftig die Zunge und die Lippen, was aber vermutlich ein Glück war, denn sonst hätte sie womöglich versucht, ihre gesamte Beute mit einem einzigen Bissen hinunterzuschlingen. So knabberte sie gezwungenermaßen vorsichtig an den brutzelnden Brocken und wagte es lediglich, mit den Zähnen kleine Stücke davon abzureißen, die sie nahezu unzerkaut hinunterschluckte.

Das Fleisch war alles andere als gut durchgebraten, und es schmeckte auch deutlich verbrannt. Arianrhod hatte auch keine Ahnung, was sie da eigentlich aß, dafür aber das sichere Gefühl, dass es auch nicht sehr viel besser geschmeckt hätte, hätte ihre Mutter es in aller Ruhe zubereitet oder sonst jemand, der wirklich etwas davon verstand und nicht nur zeit seines Lebens mehr oder weniger rohen Fisch gegessen hatte. Dennoch hatte sie das Gefühl, niemals etwas Köstlicheres bekommen zu haben.

Schweigend und mit großer Konzentration aß sie das ganze Stück auf, das groß genug gewesen wäre, selbst einen kräftigen Mann von Rahns Statur satt zu bekommen, und leckte hinterher sogar noch den Ast ab, an dem ein wenig Bratensaft heruntergelaufen war. Rahn sah ihr mit stillem Vergnügen dabei zu, während sich auf Krons Zügen ein Ausdruck großer Verblüffung ausbreitete, als er sah, welche Portion sie ohne innezuhalten herunterschlang.

Natürlich wurde ihr hinterher schlecht. Eigentlich schon, während sie aß, aber das störte sie nicht. Sie versuchte nicht, gegen das Gefühl anzukämpfen, sondern ignorierte es einfach und genoss stattdessen die Tatsache, sich zum allerersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr hungrig zu fühlen. Als sie endlich fertig war und alles, was sie noch von dem behelfsmäßigen Bratenspieß hätte ablecken können, seine verbrannte Rinde war, warf sie das Stöckchen ins Feuer, faltete umständlich die Beine auseinander (wobei sie streng darauf achtete, dass ihr Umhang geschlossen blieb) und ließ sich nach hinten und auf die Ellbogen sinken. Ihr war ein bisschen mulmig zumute. Wenn sie sich jetzt zu hastig bewegte, das wusste sie, dann würde ihr tatsächlich übel werden.

Aber sie hatte auch gar nicht vor, sich zu bewegen. Stattdessen schloss sie die Augen, legte den Kopf in den Nacken und drehte das Gesicht so, dass sie die wärmenden Strahlen der Sonne spüren konnte. Sie würde jetzt einfach so sitzen bleiben und das Gefühl genießen, satt zu sein, nicht um ihr Leben fürchten oder vor irgendetwas oder irgendjemandem davonrennen zu müssen, und sich unter Freunden zu befinden. Vielleicht bis zum nächsten Frühjahr, oder auch dem darauf folgenden.

Sie spürte eine Bewegung in ihrer unmittelbaren Nähe und öffnete träge - aber auch ein bisschen alarmiert - die Augen, doch es war nur Rahns Hand, die eine prall mit Wasser gefüllte Ziegenblase vor ihrem Gesicht schwenkte, sodass ihr Inhalt leise gluckerte. Dankbar griff sie danach, trank ein paar große Schlucke und stellte fest, dass das Wasser warm und ein wenig abgestanden schmeckte und nicht annähernd so köstlich wie jenes aus dem Bach, aus dem ihre Mutter und sie vorhin getrunken hatten.

»Stimmt mit dem Wasser irgendetwas nicht?«, fragte Rahn, als sie ihm den Schlauch zurückreichte.

Arianrhod lächelte flüchtig. »Nein, eher mit mir.«

Rahn verknotete den Wasserschlauch sorgfältig wieder und blickte sie fragend an.

»Ich stelle nur gerade fest, dass ich ziemlich undankbar bin«, fügte Arianrhod erklärend hinzu; was aber dem fragenden Ausdruck auf seinen Zügen nach zu urteilen anscheinend keine Erklärung war. Arianrhod machte sich jedoch nicht die Mühe, noch weiter auszuholen, sondern stemmte sich seufzend ein wenig in die Höhe und lauschte einen Moment lang mit geschlossenen Augen in sich hinein. Ihr Magen revoltierte immer noch ein bisschen, und sie spürte deutlich, dass nicht nur Männer von Zeit zu Zeit allein in den Wald gehen mussten, wie Rahn es gerade ausgedrückt hatte, sondern auch sie, und zwar bald; aber im Augenblick war sie viel zu träge, um eine solch gewaltige Anstrengung auf sich zu nehmen.

»Und jetzt erzähl uns von deinen Abenteuern«, verlangte Achk plötzlich. Arianrhod sah ihn einen Atemzug lang verwirrt an. Was wusste dieser Blinde von Abenteuern? Er war niemals aus seinem heimatlichen Dorf herausgekommen, auch nicht, als er noch sehen konnte. Sie schüttelte den Kopf, bevor ihr einfiel, dass Achk die Bewegung ja nicht sehen konnte.

Er musste sie aber gespürt haben, denn er zog eine Grimasse, und seine Stimme wurde quengelnder. »Du musst uns sagen, wie es dir ergangen ist«, beharrte er. »Wie bist du entkommen? Was wollten sie dir antun?«

Arianrhod setzte zu einer scharfen Entgegnung an, fing aber dann im letzten Augenblick einen warnenden Blick von Rahn auf und beherrschte sich. »Sie wollten mich umbringen«, sagte sie knapp, »und meine Mutter und Dragosz haben mich befreit.«

Die weißen Kugeln, die Achk anstelle von Augen hatte, starrten sie einen Moment lang fassungslos an. »Und das... ist alles?«

»Das ist alles«, bestätigte Arianrhod. Achk wollte auffahren, aber Kron versetzte ihm einen derben Knuff gegen die Schulter. »Sie will nicht darüber reden! Verstehst du das denn nicht, du alter Dummkopf?«, raunzte Kron ihn an.

»Aber sie ist es uns schuldig«, jammerte Achk. »Sie hat an unserem Feuer gesessen und unser Essen gegessen! Jetzt muss sie uns von ihren Abenteuern erzählen!«

»Halt endlich den Mund, du dummer Krüppel!«, versetzte Kron. Achk japste nach Luft, als hätte er einen Hieb in den Leib bekommen, und versuchte nach Kron zu schlagen, verfehlte ihn aber natürlich, und Kron versetzte ihm einen zweiten, noch derberen Schubs, der den Alten fast aus dem Gleichgewicht gebracht hätte.

Arianrhod unterdrückte ein Grinsen, während sie den beiden Streithähnen zusah. Ein Krüppel, der den anderen als Krüppel beschimpfte, das erschien ihr ziemlich verrückt, aber sie spürte zugleich natürlich auch, dass der Streit nicht ernst gemeint war. Viel mehr war es wohl die Art dieser beiden Männer, mit dem schweren Schicksal fertig zu werden, das sie ereilt hatte. Und sie konnte Achk auch fast verstehen. Der Blinde lebte in einer Welt, die nur aus Gerüchen und Geräuschen bestand, und vor allem aus Worten. Für ihn waren Geschichten viel mehr als für alle anderen. Sie waren nahezu alles, was ihm das Leben noch zu bieten hatte. Später, wenn das alles hier vorbei war, und wenn die Bilder in ihrem Kopf weit genug verblasst wären, um nicht mehr nur durch ihre bloße Anwesenheit wehzutun, würde sie ihm vielleicht erzählen, was an diesem Morgen wirklich geschehen war. Vielleicht.

Sie spürte Rahns durchdringenden Blick. Der Fischer lächelte, während er sie ansah, aber da war auch noch mehr in seinen Augen. Etwas, das sie an die Art erinnerte, auf die er sie vorhin angesehen hatte, drüben am Waldrand, als er über Dragosz und seine Freunde sprach.

»Was bedrückt dich?«, fragte sie geradeheraus.

Rahn wirkte nicht im Geringsten überrascht, dass sie ihm seine Gefühle so deutlich ansah. Vielleicht hatte er sie nur auf diese bestimmte Art angeblickt, damit sie die Frage stellte. »Nichts«, behauptete er. »Vielleicht bedauere ich nur ein wenig, dass es so lange gedauert hat, bis ich dich richtig kennen gelernt habe.« Und du mich. Das sprach er nicht laut aus, aber irgendwie hörte Arianrhod es trotzdem.

»Dafür bleibt uns ja jetzt noch genug Zeit«, antwortete sie, aber Rahns Reaktion fiel vollkommen anders aus, als sie erwartet hätte. Statt zu nicken, eine entsprechende Bemerkung zu machen oder gar nichts zu tun, fuhr er fast unmerklich zusammen und warf dann einem verstohlenen Blick zu Achk und dem Einarmigen hin, wie um sicherzugehen, dass sie ihn auch nicht belauschten. Die beiden Männer waren jedoch so sehr in ihr albernes Gezänk vertieft, dass sie rein gar nichts mehr von dem wahrzunehmen schienen, was rings um sie herum vorging. Rahn setzte dazu an, etwas zu sagen, besann sich dann aber eines Besseren und erhob sich. Er forderte Arianrhod nicht auf, ihm zu folgen, als er mit gemächlichen Schritten davonschlenderte, aber sie spürte, dass er es irgendwie von ihr erwartete, und so folgte sie ihm; auch, wenn es ihr tatsächlich schwer fiel, sich hochzustemmen.

»Also?«, fragte sie direkt, als sie aus der Hörweite der beiden anderen heraus waren.

»Was?«, erkundigte sich Rahn.

Arianrhod machte ein ärgerliches Gesicht. »Du wolltest mir doch irgendetwas sagen«, sagte sie. »Lass mich raten: etwas, das Kron und Achk nicht hören sollen.«

Rahn zögerte noch einmal unmerklich, dann jedoch seufzte er und sagte: »Ja - auch wenn ich eigentlich sicher bin, dass sie es schon wissen. Achk ist vielleicht blind, aber nicht dumm. Und er hat gute Ohren.«

»Und was?«, fragte Arianrhod. Sie hatte das Gefühl, die Antwort bereits zu kennen, und gestand sich ein, dass sie diese Frage im Grunde nur stellte, weil da immer noch die widersinnige Hoffnung in ihr war, er könnte etwas anderes sagen.

Er tat es nicht. Stattdessen ging er noch ein paar Schritte, bis sie die Stelle erreicht hatten, in der der ebene Boden der Lichtung in die steil ansteigende Wand des Tales überging. »Wir werden nicht mit euch kommen«, sagte er dann.

Obwohl es genau das war, was Arianrhod erwartet hatte, erschrak sie bis ins Innerste. »Was sagst du da?«, murmelte sie.

Rahn drehte sich nun doch zu ihrer Mutter um und maß sie mit einem langen, traurigen Blick. »Dragosz wird uns nicht mitnehmen«, bestätigte er. »Noch für ein kleines Stück. Wenn seine Männer hier eintreffen, dann können wir bei ihnen bleiben, bis wir weit genug gekommen sind, damit uns von Sarns Kriegern keine Gefahr mehr droht. Aber sie werden uns nicht mit zurück zu seinem Volk nehmen.«

»Aber... aber warum denn nicht?«, murmelte Arianrhod verstört.

»Aus demselben Grund, aus dem Sarn uns davongejagt hat«, antwortete Rahn. Er klang nicht zornig, fand Arianrhod, sondern allerhöchstens ein wenig verbittert, und das auf eine Art, die weder Sarn noch Dragosz zu gelten schien, sondern allenfalls dem Schicksal, jener übermächtigen Kraft, gegen die aufzubegehren noch nie irgendeinen Sinn gemacht hatte. »Die beiden Krüppel sind zu nichts nütze. Sie können nicht arbeiten und würden den anderen nur zur Last fallen. Niemand hat etwas zu verschenken.«

»Aber... aber das ist nicht... nicht gerecht!«, empörte sich Arianrhod. »Ohne euch wäre ich jetzt tot!«

»Ich weiß«, sagte Rahn traurig. »Und deine Mutter und Dragosz wissen das auch. Aus diesem Grund hat Dragosz auch beschlossen, dass wir noch eine Weile mit ihnen ziehen dürfen, bis wir in Sicherheit sind.« Er schüttelte hastig den Kopf und hob ein wenig die Stimme, als Arianrhod abermals auffahren wollte. »Die beiden Krieger, die bei uns sind, waren nicht damit einverstanden.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Arianrhod. »Sprichst du etwa ihre Sprache?«

Rahn verneinte. »Das ist auch gar nicht nötig. Man muss nicht immer die Worte verstehen, um zu wissen, worüber geredet wird. Sie haben sich heftig gestritten. Wenn Dragosz wirklich der Herrscher seines Volkes ist, dann bringen sie ihm nicht sehr viel Respekt entgegen. Ich hatte das Gefühl, dass er all seine Macht in die Waagschale werfen musste, nur um ihnen schon dieses kleine Zugeständnis abtrotzen zu können.«

Arianrhod war hin- und hergerissen zwischen Wut, Fassungslosigkeit und schierer Empörung. Ihr Blick suchte Dragosz und fand ihn am anderen Ende der Lichtung, wo er dastand und sich leise mit ihrer Mutter unterhielt. »Aber das ist...«

»Nun einmal der Lauf der Welt«, unterbrach sie Rahn. Als sie wieder zu ihm sah, lächelte er seltsamerweise. »Wer nicht für seinen Lebensunterhalt arbeitet, der hat auch kein Anrecht auf Essen. So ist es bei uns, und wohl auch bei ihnen. Vielleicht überall.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Ich würde nicht anders entscheiden, an seiner Stelle.«

»Aber ich!«, behauptete Arianrhod überzeugt. »Es ist einfach nicht richtig!« Dann, ganz plötzlich, fiel ihr auf, was an Rahns Worten nicht stimmte. Durchdringend sah sie den Fischer an. »Aber wieso du? Wenn er Kron und Achk schon nicht mitnehmen will, du bist jung und gesund und kräftig. Du kannst arbeiten.«

Rahns Blick wurde auf eine schwer zu greifende Weise noch trauriger. »Ja«, sagte er, schüttelte jedoch zugleich schon wieder den Kopf. »Aber es hätte keinen Sinn. Dragosz würde mich niemals in seiner Nähe dulden.«

»Hat er das gesagt?«, erkundigte sich Arianrhod.

»Nein«, antwortete Rahn. »Aber ich weiß es. Für ihn bin ich ein Verräter. So wie mittlerweile auch für Sarn - und das, obwohl ich mich ihm nur ein einziges Mal offen widersetzt habe.« Er zuckte andeutungsweise mit den Schultern. »Vielleicht bin ich das sogar. Immerhin habe ich meinen Schamanen verraten.«

»Um mich zu schützen!«, wandte Arianrhod ein.

»Trotzdem bleibt es Verrat«, erwiderte Rahn. »Ich habe den Schamanen, dem ich die Treue geschworen habe, hintergangen - und schlimmer noch, damit auch den neuen Hohepriester von Goseg. Er könnte niemals sicher sein, dass ich es nicht wieder tue. Und ich habe die Blicke gesehen, mit denen uns seine Männer ansehen. Sie würden nie jemanden aus unserem Volk in ihrer Mitte dulden.«

»Aber meine Mutter und ich...«

»... seid Frauen«, unterbrach sie Rahn. »Das ist ein Unterschied.« Er schüttelte abermals und jetzt heftiger den Kopf, auf eine Art, die aus der Bewegung eine Entscheidung machte, an der nichts mehr zu ändern war. »Wir werden euch noch ein Stück begleiten, bis wir weit genug aus Gosegs Machtbereich heraus sind, und dann trennen wir uns. Vielleicht findet sich irgendwo ein Platz, wo wir leben können. Ich kann fischen, und Kron kann mir das Jagen beibringen. Und vielleicht haben die Götter mehr Mitleid mit uns als die Menschen.«

Wenn er über dieselben Götter sprach, die Nor und Sarn anbeteten, dachte Arianrhod, dann musste er sich darüber im Klaren sein, dass er sich selbst belog. Noch einmal und noch entschiedener schüttelte sie den Kopf. »Das lasse ich nicht zu«, wiederholte sie. »Ich werde mit meiner Mutter sprechen.«

»Nein!«, sagte Rahn, hastig, fast schon erschrocken. »Bitte, tu das nicht.«

»Warum nicht?«

»Ihr würdet euch nur streiten«, antwortete Rahn, »und das will ich nicht.«

Arianrhod sah ihn einen Herzschlag lang verständnislos an, bevor sie begriff, was die Worte des Fischers wirklich bedeuteten. Das ungläubige Keuchen, mit dem sie die Luft ausstieß, hörte sich fast wie ein kleiner Schrei an. »Und du... du willst damit sagen, dass... dass meine Mutter...«

»Es war auch ihre Entscheidung«, sagte er. »Und sie hat Recht.« Ausgerechnet aus seinem Mund fand Arianrhod diese Worte geradezu absurd, und sie schürten ihre Empörung nur noch. Ganz gleich, was Rahn jetzt auch noch sagen mochte, sie fuhr herum und setzte dazu an, zu ihrer Mutter und Dragosz hinüberzustürmen. In diesem Moment jedoch tauchte der Krieger, den Dragosz vorhin weggeschickt hatte, wieder aus dem Unterholz auf, und trotz der großen Entfernung konnte Arianrhod den besorgten Ausdruck erkennen, der auf seinem Gesicht lag.

Mitten in der Bewegung hielt sie inne. »Was geht da vor?«, murmelte sie.

Sie konnte spüren, wie Rahn hinter ihr die Schultern hob. »Ich weiß es nicht. Aber es gefällt mir nicht.«

Arianrhod konnte ihm nur stumm beipflichten. Dragosz und der andere unterhielten sich hastig und auch jetzt wieder von eifrigen Gesten und Deuten begleitet, dann verschwand der Krieger abermals im Unterholz, während Dragosz auf der Stelle herumfuhr und mit weit ausgreifenden Schritten den Wagen ansteuerte, hinter dem Kron und der Schmied noch immer am Feuer saßen. Sein Gesicht hatte sich vor Zorn verdunkelt, und er schritt so schnell aus, dass Lea, die ihm folgte, alle Mühe hatte, auch nur mit ihm Schritt zu halten.

Auch Arianrhod und Rahn setzten sich in Bewegung und kamen nahezu gleichzeitig mit Dragosz bei den beiden an. »Was ist? Ist etwas geschehen?«, fragte sie, noch bevor Dragosz auch nur die Gelegenheit hatte, ein einziges Wort zu sagen.

Für einen Moment blitzte es wütend in seinen Augen auf; ein Zorn, der nicht ihr galt, sich aber um ein Haar auf ihr entladen hätte, ganz einfach, weil sie die Erste war, die sich als Zielscheibe anbot. Nur mit sichtlicher Mühe beherrschte er sich. Statt sie anzuschreien, wonach ihm wahrscheinlich zumute war, sagte er gepresst: »Sie kommen!«

»Sarns Krieger?«, fragte Kron erschrocken. Auch Achk legte mit einem Ruck den Kopf in den Nacken und starrte aus weit aufgerissenen, leeren Augen zu Dragosz hoch.

»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, antwortete Dragosz. »Barosch sagt, dass sie rasch zu uns aufschließen.«

»Dann müssen wir kämpfen«, sagte Rahn, aber Dragosz schüttelte nur heftig und scheinbar noch zorniger werdend den Kopf.

»Dazu sind es zu viele«, antwortete er. »Mindestens ein Dutzend, wenn nicht mehr.« Sein Blick heftete sich nun fest auf Rahns Gesicht, und in seinen Augen erschien ein Ausdruck, der schlimmer war als Zorn. »Ich hätte mich nie auf dein Wort verlassen dürfen«, grollte er. »Ihr müsst deutliche Spuren hinterlassen haben.«

»Das haben wir nicht!«, protestierte Rahn, aber Dragosz schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab.

»Wieso sind sie dann so schnell und zielsicher auf dem Weg hierher, als wüssten sie ganz genau, wo wir sind?«, schnappte er, atmete hörbar ein, um womöglich noch lauter fortzufahren, und drehte sich dann plötzlich halb herum und blickte auf Kron hinunter.

»Was?«, murmelte der Jäger.

Dragosz’ Stimme klang plötzlich fast versonnen, als er weitersprach. »Ich habe in der Tat keine Wagenspuren auf dem Weg hierher bemerkt. Und ich bin eigentlich ein recht guter Spurenleser.«

»Du meinst, du hast Rahn Unrecht getan?«, fragte Arianrhod.

Dragosz warf ihr einen ärgerlichen Blick aus den Augenwinkeln zu, starrte aber weiterhin den Einarmigen an. »Aber wenn sie nicht euren Spuren gefolgt sind«, fuhr er fort, »woher können sie dann wissen, wo wir sind?«

»Was willst du damit sagen?«, erkundigte sich Kron lauernd.

»Dieses Versteck hier war dein Vorschlag, nicht wahr?«, erwiderte Dragosz.

Kron starrte einen halben Herzschlag lang verblüfft zu ihm hoch, dann sprang er mit einem Ruck auf. »Willst du etwa behaupten, ich hätte euch verraten?«, zischte er.

»Ich sage nur, dass außer dir niemand wusste, wo wir uns treffen wollen«, gab Dragosz beinahe gelassen zurück.

Krons Gesicht verfinsterte sich noch mehr. Einen Moment lang sah es beinahe so aus, als wolle er sich auf Dragosz stürzen, dann aber trat er stattdessen wieder einen halben Schritt zurück. »Wenn ich nicht nur einen Arm hätte, dann würdest du es nicht wagen, so mit mir zu sprechen.«

Dragosz lächelte dünn. »Ich lasse mir gern den rechten Arm auf den Rücken binden, wenn das alles ist.«

»Schluss jetzt!«, mischte sich Lea in scharfem Ton ein. Wütend musterte sie die beiden Männer abwechselnd. »Seid ihr verrückt geworden? Sarns Krieger werden gleich hier sein, und ihr habt nichts Besseres zu tun, als aufeinander loszugehen? Wir müssen hier weg!«

»Welchen Sinn hätte es schon, weiter vor ihnen zu fliehen, wenn sie doch ganz genau wissen, wo sie uns finden können?«, antwortete Dragosz.

»Aber ich habe euch nicht verraten!«, protestierte Kron. »Warum sollte ich das tun?«

»Damit hat er Recht«, sagte Arianrhod. Sie deutete auf Kron. »Wenn es jemanden gibt, der weiß, wie groß Sarns Dankbarkeit ist, dann diese beiden. Sarns Krieger werden sie genau so töten wie uns, wenn sie sie erwischen.«

»Aber wenn er uns nicht verraten hat, wer dann?«, beharrte Dragosz. Er klang ein ganz kleines bisschen unsicher, aber auch verstockt, als fände er keinen rechten Einwand, der gegen Arianrhods Worte sprach, wollte das aber nicht zugeben.

»Wer weiß noch von dieser Lichtung?«, mischte sich Lea ein.

Kron schüttelte den Kopf. »Niemand«, antwortete er überzeugt, schwieg einen Moment zu und fügte dann, leiser, hinzu: »Außer meinem Bruder. Aber Grahl würde uns niemals verraten.«

»Grahl«, verbesserte ihn Lea, »würde seine eigenen Kinder verraten, wenn er sich einen Vorteil davon verspräche.«

Dragosz sah immer noch nicht überzeugt aus, und selbst Arianrhod musste sich eingestehen, dass sie es nicht wirklich war. Aber ihre Mutter hatte Recht: Jetzt war nicht der Augenblick, sich darüber zu streiten.

»Verschwinden wir von hier«, sagte Lea. Fragend blickte sie Rahn an und deutete zugleich auf den Karren. »Wo habt ihr die Ochsen versteckt?«

»Ganz in der Nähe«, antwortete er Rahn, »ich...«

»Dafür bleibt keine Zeit mehr«, fiel ihm Dragosz ins Wort. »Wir müssen den Wagen hier lassen.«

»Aber...«, protestierte Kron, doch diesmal war es Dragosz, dem Lea zu Hilfe kam.

»Er hat Recht«, sagte sie in bedauerndem, aber auch festem Ton. »Mit dem Wagen wären wir viel zu langsam.«

»Alles was wir haben, ist darauf«, sagte Achk leise.

»Ihr werdet nichts mehr davon brauchen, wenn sie uns einholen«, antwortete Dragosz. Mit einer abrupten und jetzt eindeutig befehlenden Geste wandte er sich an Lea. »Geh und such nach den Pferden. Und ihr«, fuhr er an Rahn und die beiden anderen gewandt fort, »nehmt euch so viel vom Wagen, wie ihr tragen könnt. Schnell, beeilt euch.«

Lea eilte gehorsam davon und verschwand im Unterholz, während Kron und Rahn hastig an den Wagen herantraten und scheinbar wahllos nach einigen Bündeln und Säcken griffen, die auf der Ladefläche lagen. Auch Arianrhod wollte sich ihren Teil nehmen, doch Rahn schüttelte nur barsch den Kopf und scheuchte sie davon.

»Was soll das?«, protestierte Arianrhod. »Ich kann genauso gut etwas tragen wie ihr alle!«

»Für dich habe ich eine andere Aufgabe«, erwiderte Rahn, während er konzentriert einige kleinere Beutel in einen größeren Sack stopfte, den er in der linken Hand trug und schließlich hastig verschnürte. Für einen Mann seiner Größe fand Arianrhod das Gepäckstück allerdings eher bescheiden; selbst sie hätte sich zugetraut, es zu tragen, auch über eine größere Strecke hinweg.

Binnen weniger Augenblicke waren sie fertig und hatten einen erstaunlichen Teil dessen, was auf den Wagen gelegen hatte, zusammengerafft. Kron schwang sich einen Beutel über die Schulter, der aussah, als wöge er fast so viel wie er selbst, während Rahn sich mit seiner bescheidenen Last zufrieden gab und Arianrhod, als sie protestieren wollte, nur mit einer neuerlichen, noch ungeduldigeren Geste davonscheuchte. Während er mit der linken Hand ohne Mühe seinen Beutel umklammerte, ergriff er mit der rechten Achks Ellbogen und schob den Blinden unsanft vor sich her in Richtung des Waldrandes.

Ihre Mutter kam bereits zurück, die beiden Pferde neben sich am Zügel führend, während Dragosz nur ein paar Schritte entfernt dastand und mit beiden Armen in Richtung des bewaldeten Hügelkammes gestikulierte, als Arianrhod und die drei anderen auf der anderen Seite aus dem Wald heraustraten. Sie sah einen Moment lang konzentriert in die angegebene Richtung, konnte aber dort oben rein gar nichts erkennen; vielleicht gab Dragosz jemanden ein Zeichen, den er dort oben postiert hatte.

»Wo kann nur Morgenwind sein?«, empfing Arianrhod ihre Mutter und sah sich suchend um. Von der gescheckten Stute war keine Spur zu sehen.

»Sie ist irgendwo in der Nähe, keine Sorge«, antwortete Lea unwillig. »Sie wird uns schon finden.« Sie ließ Sturmwinds Zügel los und machte eine abwehrende Bewegung mit der frei gewordenen Hand, als Arianrhod die Arme ausstreckte, um auf Nachtwinds Rücken zu klettern. »Nicht jetzt.«

»Warum nicht?«, fragte Arianrhod.

»Weil wir laufen«, erwiderte Lea. »Zumindest so lange, wie es geht.«

Arianrhod setzte zu einem Einwand an, aber dann gewahrte sie das zornige Funkeln in den Augen ihrer Mutter und begriff nur einen Augenblick später den Sinn ihrer Worte. Noch einen Augenblick später hatte sie ein ziemlich schlechtes Gewissen. Sie selbst hatte Rahn noch eben einen kleinen Vortrag über Gerechtigkeit gehalten, aber die Vorstellung, dass sie bequem auf Nachtwinds Rücken sitzen sollte, während die drei anderen zu Fuß unterwegs waren und sich noch dazu mit ihrem Gepäck abplagten, hatte wahrhaftig nicht viel mit Gerechtigkeit zu tun.

Sie warf einen scheuen Blick zu Rahn und dem Blinden zurück, wie um sich davon zu überzeugen, dass er auch nichts mitbekommen hatte, aber Rahn sah nicht einmal in ihre Richtung. Er war stehen geblieben und damit beschäftigt, mit spitzen Fingern einen langen, dornigen Zweig aus Achks Bart zu zupfen, der sich darin verfangen hatte. Der blinde Schmied sah hilfloser aus denn je. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er blinzelte nicht, was seinem Blick etwas ungemein Erschreckendes verlieh, aber er hatte ganz eindeutig verstanden, worum es ging. Seine Angst war unübersehbar.

Seltsam, dachte Arianrhod. Seit jenem schrecklichen Tag, an dem Achk seine Augen verloren hatte, hatte sie mehr als einmal versucht, sich vorzustellen, wie es sein musste, in einer Welt ewiger Dunkelheit gefangen zu sein, selbst bei den einfachsten Dingen des Lebens auf die Hilfe anderer angewiesen und noch dazu von den allermeisten verspottet und verachtet oder doch bestenfalls gemieden zu werden, und sie war jedes Mal zu demselben Schluss gekommen: nämlich dem, dass sie ein solches Leben auf gar keinen Fall würde leben wollen. Nun aber war Achk mehr als deutlich anzusehen, wie sehr er um genau dieses Leben fürchtete.

»Worauf warten wir noch?«, fragte Dragosz. »Wir müssen los.«

Arianrhod war nicht ganz sicher, wem diese Worte galten - ihr oder Rahn und dem Blinden. Rahn jedenfalls führte seine Arbeit in aller Ruhe und mit großer Sorgfalt zu Ende, bevor er das Bündel über seine linke Schulter warf und Achk mit der anderen Hand wieder am Ellbogen ergriff. »Geh einfach«, sagte er. »Ich passe schon auf, wohin du trittst.«

Dragosz verzog verächtlich die Lippen, und zumindest für diesen Augenblick büßte er eine Menge der Zuneigung ein, die Arianrhod für ihn empfand; wenn nicht alle. Vielleicht hatte Rahn ja Recht. Vielleicht hätte er an Dragosz’ Stelle nicht anders entschieden. Vielleicht hätte sogar sie selbst an seiner Stelle nicht anders entschieden, hätte sie ein Leben wie er geführt und wäre für so viele andere verantwortlich gewesen. In diesem Moment jedoch verachtete sie Dragosz für das, was sie in seinem Gesicht las. Der blinde Mann war für ihn kein Mensch mehr, sondern nur noch eine Last.

Sie gingen los. Obwohl Kron mit Abstand die schwerste Last trug, setzte er sich nicht nur an die Spitze, sondern eilte ihnen auch bald in größer werdendem Abstand voraus. Lea hatte die beiden Pferde losgelassen, die ihr jedoch in wenigen Schritten Abstand folgten, während Rahn und der Blinde nur ganz allmählich, aber doch unaufhörlich zurückfielen. Rahn versuchte alles, um Achk anzutreiben, aber der Schmied war nicht nur blind, sodass er trotz seiner Führung vorsichtig immer nur einen Fuß vor den anderen setzte und dennoch mehr als einen Fehltritt tat, er war auch alt und hätte vermutlich auch dann nicht mit ihnen mitgehalten, hätte er sehen können.

Sie waren noch nicht allzu lange unterwegs, als Dragosz plötzlich stehen blieb und abermals den Arm hob, um zu winken. Auch Arianrhod und die anderen hielten an und drehten sich neugierig herum. Barosch, der Krieger, den er weggeschickt hatte, kam mit weit ausgreifenden Schritten auf sie zugerannt. Für einen Moment hatte Arianrhod das Gefühl, weit hinter ihnen noch eine andere Bewegung wahrzunehmen, als wären die Verfolger tatsächlich schon fast heran, doch als sie noch einmal hinsah, war da nichts.

Dragosz blieb stehen, bis der Krieger zu ihnen aufgeschlossen hatte, und tauschte ein paar, knappe, nicht besonders fröhlich klingende Worte mit ihm. Als er sich wieder zu ihnen umdrehte, sah sein Gesicht noch sehr viel weniger fröhlich aus. »Sie holen auf. Wenn wir weiter so herumtrödeln, haben sie uns bald eingeholt.«

»Dann nimm die Pferde und reite mit Arianrhod voraus«, sagte Lea. »Ich bleibe hier bei den anderen und versuche sie aufzuhalten.«

Dragosz machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Stattdessen drehte er sich zu Rahn und dem Blinden um. »Wir werden laufen müssen, nicht spazieren gehen. Du musst den Alten zurücklassen.«

»Niemals!«, keuchte Arianrhod.

Dragosz würdigte sie nicht einmal eines Blickes. »Versuch ein Versteck für ihn zu finden. Mit ein bisschen Glück achten sie nicht weiter auf ihn. Schließlich wollen sie uns.«

Als ob das einen Unterschied machte, dachte Arianrhod entsetzt. Wenn sie den blinden Mann allein hier zurückließen, konnten sie ihm ebenso gut gleich die Kehle durchschneiden.

Wahrscheinlich wäre das barmherziger gewesen. Rahn schüttelte denn auch nur den Kopf und starrte Dragosz trotzig an.

»Ganz wie du willst«, sagte Dragosz böse. »Du kannst meinetwegen auch bei ihm bleiben und deinen Freund verteidigen. Wir werden jetzt jedenfalls laufen.«

»Genau wie wir«, gab Rahn grimmig zurück. Dragosz schenkte ihm nur ein mitleidiges Lächeln, doch Rahn schien diese Worte durchaus ernst zu meinen. Er starrte sein Gegenüber noch einen Moment lang trotzig und fast herausfordernd an, dann hob er die linke Hand und winkte Arianrhod zu sich heran. »Hier«, sagte er, während er ihr den Beutel hinhielt. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich eine andere Aufgabe für dich habe.«

Arianrhod griff ganz automatisch nach dem aus Tierhäuten gefertigten Beutel und stellte fest, dass er nicht annähernd so leicht war, wie sie angenommen hatte. Dennoch schwang sie ihn sich klaglos über die Schulter, während Rahn nun vor Achk Aufstellung nahm und leicht in die Hocke ging. Als er sich klein genug gemacht hatte, griff er nach den Armen des Blinden, legte sie sich um die Schultern und bedeutete Achk, sie vor seinem Hals zu verschränkten. Dann griff er mit beiden Armen unter die Kniekehlen des Schmieds und hob ihn hoch. »Jetzt können wir laufen.«

Dragosz zog eine abfällige Miene. »Narr«, sagte er, beließ es aber dabei und drehte sich um, um noch in derselben Bewegung in einen raschen Trab zu fallen. Auch Kron stürmte los, während Lea Arianrhod zu sich heranwinkte und ihr wortlos den Beutel abnahm. Arianrhod wollte protestieren - denn trotz allem, was sie in den letzten Tagen und besonders am heutigen Morgen durchgemacht hatte, war sie nicht sehr viel schwächer als ihre Mutter -, doch Lea hatte gar nicht vor, den Beutel selbst zu schultern. Stattdessen rief sie Nachtwind mit einem scharfen Pfiff heran, warf ihm den Sack über den Rücken und hielt ihn fest, während sie sich gleichzeitig mit den Fingern in seine Mähne krallte. Mit dem Kopf deutete sie auf Sturmwind, die ihrem Gefährten gefolgt war. »Halt dich an ihr fest. Sie wird dich ziehen.«

Arianrhod sah nicht wirklich ein, was das bringen sollte, aber sie gehorchte ihrer Mutter auch jetzt und suchte mit den Fingern Halt in der langen Mähne der Stute, als Nachtwind und ihre Mutter losstürmten und Sturmwind sich ihnen anschloss. Rahn, der den Blinden auf dem Rücken trug wie ein Vater sein kleines Kind, war bereits losgelaufen und legte eine Geschwindigkeit vor, die Arianrhod in Erstaunen versetzte. Sie hätte erwartet, dass er allerhöchstens ein wenig schneller gehen würde, aber der Fischer fegte vor ihr über das Gras, dass sie alle Mühe hatte, nicht zurückzufallen.

Schon nach den ersten Schritten spürte sie, dass ihre Mutter Recht gehabt hatte. Es war zwar ein wenig unbequem, die Hand auf dem Hals der Stute liegen zu lassen; sie hatte auch nicht vergessen, was ihre Mutter ihr über Sturmwind erzählt und was sie selbst mit ihr erlebt hatte, und hütete sich, zu fest zuzugreifen, um ihr nicht etwa aus Versehen wehzutun, was sie mit Sicherheit mehr bereut hätte als das Pferd, und dennoch war es genau wie vorhin bei Nachtwind: die bloße Berührung schien schon auszureichen, um ihr einen Teil der unglaublichen Kraft dieses riesigen, starken Geschöpfes zu geben. Sturmwind zog sie tatsächlich mit sich, ihre Füße flogen nur so über den Boden, und obwohl sich ihr verletztes Knie und nur einen Augenblick später auch ihre Schulter schon wieder schmerzhaft in Erinnerung brachten, spürte sie doch, dass sie die Geschwindigkeit auf diese Weise lange durchhalten würde.

Und vermutlich musste sie das auch. Das ehemalige Flusstal lag so weit und frei vor ihnen, wie sie nur sehen konnte. Nahe der Stelle, an der sie sich mit Rahn und den anderen getroffen hatten, war der Boden grasbewachsen und einigermaßen eben gewesen, nun aber wurde er immer steiniger, das Gras schrumpfte zu kleinen, kümmerlich wachsenden Büscheln, und es gab nur noch sehr wenige Bäume, die vereinzelt standen oder in so winzigen Gruppen, dass sie allenfalls als ein Versteck für einen einzigen Menschen ausgereicht hätten, und wahrscheinlich nicht einmal das. Von Dragosz’ Männern war keine Spur zu sehen. Sie konnten nur hoffen, ihren Verfolgern wenigstens bis Sonnenuntergang davonzulaufen, um dann - vielleicht - Schutz im Dunkel der Nacht zu finden.

Arianrhod legte im Laufen den Kopf in den Nacken und suchte aus zusammengekniffenen Augen nach der Sonne. Sie hatte ihren Abstieg schon lange begonnen, aber es würde noch eine Weile dauern, bevor es stockfinster wurde. Selbst wenn ihre Kräfte reichten, um so lange durchzuhalten (was sie bezweifelte), würden ihre Verfolger sie bis dahin vermutlich längst eingeholt haben. Sie liefen schnell, aber längst nicht so schnell, wie es ein Mann konnte, der nichts als seine Kleider und seinen Speer mit sich trug. Auch wenn die Krieger Gosegs an diesem Morgen keine wirklich gute Figur gemacht hatten, so beging Arianrhod doch nicht den Fehler, sie zu unterschätzen. Die meisten von ihnen waren jung und kräftig, sie bekamen das beste Essen und wussten mit ihren Waffen umzugehen.

Nein, dachte sie niedergeschlagen, diese Männer würden sie einholen, lange bevor die Sonne untergegangen war. Verzweiflung begann sich in ihr breit zu machen. Arianrhod hatte keine Angst um ihr Leben. Sie wusste, dass Dragosz, ihre Mutter und sie ihren Verfolgern auf jeden Fall entkommen würden, wenn sie auf die Pferde stiegen und einfach davonritten. Aber das würde den sicheren Tod für Rahn und die anderen bedeuten. Ihr Blick suchte immer hektischer die Ränder des Flusstales ab. Das Gelände zur Linken war nahezu unbewachsen und eben, so weit sie es von hier unten aus erkennen konnte, das zur Rechten mit umso dichterem Wald bestanden. Der Aufstieg dorthin würde mühsam sein und viel Kraft kosten, doch es gab überall Stellen, an denen er zumindest möglich schien. »Dragosz!«, rief sie.

Dragosz wandte im Laufen den Kopf und sah zu ihr zurück. Arianrhod hob die freie Hand und winkte ihm zu, und Dragosz ließ sich zurückfallen, bis er neben ihr herlief.

»Warum verstecken wir uns nicht in den Wäldern dort oben?«, fragte sie mit einer entsprechenden Geste.

Dragosz’ Blick folgte der Bewegung, aber er schüttelte fast sofort den Kopf. »Unmöglich.« Obwohl er ebenso lange und schnell gelaufen war wie sie, ging sein Atem nicht einmal spürbar schneller, was Arianrhod einigermaßen unverschämt fand. »Sie würden uns finden. Außerdem kommen uns meine Männer durch dieses Tal entgegen.«

Unwillkürlich sah Arianrhod noch einmal nach vorn. Von den Männern, von denen Dragosz immer wieder gesprochen hatte, war noch nichts zu sehen, sodass sie sich allmählich zu fragen begann, ob es sie überhaupt gab oder ob das Heer, das er zu ihrer Rettung hierher befohlen hatte, vielleicht nicht nur aus den beiden Kriegern in ihrer Begleitung bestand; möglicherweise sogar nur aus einem, den anderen hatte sie bisher ja auch noch nicht zu Gesicht bekommen.

Geradezu schuldbewusst verscheuchte sie den Gedanken. Dragosz mochte vieles sein, aber kein Lügner und ganz bestimmt kein Aufschneider. Wahrscheinlich befanden sich die Männer noch hinter der Biegung des Flusstales, auf die sie sich zubewegten. Aber auch diese war so weit entfernt, dass sie sie frühestens bei Sonnenuntergang erreichen würden. Wenn ihre Kräfte so lange reichten.

Dragosz beschleunigte seine Schritte wieder, um erneut zu Barosch aufzuschließen, der mittlerweile auch Kron überholt hatte und die Spitze bildete, warf dabei aber im Laufen noch einen Blick über die Schulter zurück und fuhr sichtbar zusammen. Auch Arianrhod sah nach hinten - und was sie erblickte, das ließ sie so heftig zusammenzucken, dass sie um ein Haar aus dem Tritt gekommen wäre und nur deshalb nicht stolperte, weil sie sich in Sturmwinds Mähne festklammerte und so das Gleichgewicht hielt.

Sie hatte sich vorhin doch nicht getäuscht. Die Bewegung hinter ihr war dagewesen; vielleicht noch zu weit entfernt, um wirklich Einzelheiten zu erkennen, aber sie war da. Es waren ihre Verfolger, und sie näherten sich entsetzlich schnell, waren sie doch in den wenigen Augenblicken, die seit dem Beginn ihrer Flucht vergangen waren, nahe genug gekommen, um von einer bloßen Ahnung zu flackernden Schemen zu werden. Voller Panik versuchte sie ihr Tempo gegen Sturmwinds Willen zu steigern, aber nur für ein paar Schritte, dann fiel sie wieder in den gewohnten, Kräfte sparenden Trab zurück, den sie alle eingeschlagen hatten. Es brachte überhaupt nichts, sich bei dem verzweifelten Spurt zu verausgaben und hinterher dann umso langsamer zu werden.

Auch Lea und die anderen hatten ihre Verfolger erblickt. Kron wurde tatsächlich noch einmal schneller und holte nun fast zu Dragosz und dem anderen Krieger auf, während Rahn anscheinend vollkommen ungerührt weiterlief. Arianrhod, die mittlerweile schweißgebadet und außer Atem war, fragte sich vergeblich, wie der Fischer dieses Tempo durchhielt, mit Achks Gewicht auf dem Rücken. Aber ihr war auch klar, dass seine Kräfte irgendwann versagen mussten. Und dass Dragosz Recht gehabt hatte. Sie würden Achk nicht retten können. So grausam ihr der Gedanke auch selbst vorkam - wenn Rahn daran festhielt, den Schmied nicht im Stich zu lassen, dann war das sein eigenes und vielleicht sogar ihrer aller Todesurteil.

Sie spürte, wohin dieser Gedanke zu führen drohte, und brach ihn erschrocken ab. Ihre Mutter hatte sie gelehrt, niemals aufzugeben, solange es noch ein Fünkchen Hoffnung gab, ja, selbst dann nicht, wenn es das nicht mehr gab - und war der heutige Morgen nicht das beste Beispiel dafür, wie Recht sie damit gehabt hatte? Noch hatten ihre Verfolger nicht zu ihnen aufgeschlossen.

Aber sie holten auf. Als Arianrhod das nächste Mal - nach Jahren, die sie wie von Sinnen gelaufen war, wie es ihr vorkam - zu ihnen zurücksah, waren aus der bloßen Ahnung ihrer Verfolger winzige Gestalten geworden, Ameisen gleich, die über die Ebene hinter ihnen herankrabbelten, nicht mehr als kleine schwarze Pünktchen, aber erschreckend viele. Sie waren noch lange nicht nahe genug heran, um sie zu zählen, aber die Schätzung des Kriegers musste wohl eher zu vorsichtig gewesen sein. Wie es aussah, hatte Sarn jeden Mann, der die Katastrophe am Morgen halbwegs unbeschadet überstanden hatte, hinter ihnen hergeschickt.

Schon wieder der Panik nahe, sah sie nach vorne. Die Talbiegung schien überhaupt nicht näher gekommen zu sein, wie es ihr vorkam. Und selbst, wenn sie sie erreichten - was war damit gewonnen? Vermutlich erwartete sie dort nichts anderes als eine Fortsetzung des Flusstales, ja, selbst wenn Dragosz’ Krieger in genau diesem Augenblick hinter der Biegung aufgetaucht wären, wären sie wahrscheinlich zu spät gekommen, denn das Tal zog sich vor ihnen noch erschreckend weit hin.

Weiter und weiter rannten sie dem Ende des Tales entgegen. Arianrhod wollte es nicht, aber sie sah dennoch immer wieder zu den Verfolgern zurück, und sie schienen jedes Mal ein winziges Stückchen näher gekommen zu sein. Nicht so sehr, dass man den Unterschied direkt ausmachen konnte, aber viele winzige Schritte ergaben am Ende doch einen großen, und schon bald waren aus den wimmelnden Ameisen winzige Gestalten geworden, dann Männer in schwarzen Mänteln und mit wehenden Haaren, die ganz langsam, aber auch unbarmherzig aufholten.

»Das... das hat... keinen... Sinn mehr«, keuchte Rahn vor ihr. Er war nicht langsamer geworden, aber er taumelte jetzt mehr, als dass er wirklich lief, wie Arianrhod erschrocken feststellte, und sein Atem ging pfeifend. »Steigt... auf eure... Tiere. Ihr könnt ihnen... entkommen.«

Arianrhod legte einen kurzen Spurt ein, um an seine Seite zu gelangen. Rahns Gesicht war aschfahl, und sein langes Haar und Bart klebten in verschwitzten Strähnen aneinander. Auch ihre Mutter war näher gekommen und rannte nun, eine Hand immer noch auf Nachtwinds Hals, auf Rahns anderer Seite dahin.

»Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, gab Arianrhod keuchend zurück. »Wir lassen euch nicht im Stich!«

»Wir können versuchen, den Hang hinaufzukommen«, antwortete Rahn kurzatmig. »Vielleicht verfolgen sie uns ja nicht. Du hast es selbst gesagt. Sie wollen nur euch.«

Arianrhod schüttelte nur noch heftiger den Kopf. »Wir bleiben zusammen, ganz gleich, was passiert«, beharrte sie.

»Was für eine edle Geste«, mischte sich ihre Mutter ein. »Wie schade nur, dass du nicht zu bestimmen hast. Rahn hat Recht. Sie werden uns einholen. Der einzige Unterschied ist, dass wir dann alle sterben.« Sie machte eine Kopfbewegung zu Nachtwind hin und ließ gleichzeitig den Beutel los, den sie noch immer in der Hand gehabt hatte. Er fiel zu Boden, platzte auf und verteilte seinen Inhalt in weitem Umkreis, während sie sich rasch davon entfernten. »Steig auf.«

Arianrhod tat so, als hätte sie die Worte gar nicht gehört. Verzweiflung ergriff in immer stärkerem Maße von ihr Besitz. »Nein!«, keuchte sie. »Ich lasse dich nicht im Stich!« Beinahe flehend wandte sie sich an ihrer Mutter. »Und wenn wir alle auf die Pferde steigen?«

»Das schaffen sie nicht«, antwortete Lea. »Und sie würden es auch nicht tun.«

»Aber den Schmied könnten wir doch wenigstens auf Nachtwind hieven! Dann braucht Rahn ihn nicht mehr zu tragen, und wir alle sind schneller.«

»Achk könnte sich niemals auf dem Pferderücken halten, und wenn ich Nachtwind führen müsste, werden wir alle nur langsamer«, beschied Lea ungeduldig.

»Und wenn nun ich und der Schmied...«

»Nein!«, fiel Lea ihr ins Wort. »Nachtwind war schon kaum bereit, uns beide zu tragen, obwohl er uns so gut kennt. Dich und den Schmied? Das würde er nur mit viel gutem Zureden tun. Und dazu fehlt uns die Zeit.«

Arianrhods Verzweiflung erreichte ein Ausmaß, das fast körperlich wehtat. Sie spürte, wie ihr die Tränen über das Gesicht liefen, und dann sagte sie etwas, wofür sie sich selbst hasste. »Dann komm du wenigstens mit, Rahn.«

Achk, der auf Rahns Rücken hin und her geschaukelt wurde wie ein lebloses Gepäckstück und seine liebe Mühe hatte, sich irgendwie festzuhalten, sah nicht einmal in ihre Richtung, und sie war auch fast sicher, dass er die Worte nicht gehört hatte. Trotzdem hatte sie das furchtbare Gefühl, mit einem Male von ihm angestarrt zu werden, auf eine Art, die sie vielleicht nie wieder vergessen konnte. Rahn hingegen sah sie nur traurig an, dann schüttelte er den Kopf. »Sie würden mich trotzdem einholen. Es hat keinen Sinn mehr. Hör auf deine Mutter. Du hilfst mir nicht, wenn du dich auch noch umbringen lässt.«

Für einen Moment konnte Arianrhod nichts mehr sehen, so heiße und so viele Tränen schossen ihr in die Augen. Sie fühlte sich ohnmächtig, wütend und hilflos. Sie wollte das nicht. Sie wollte das nicht!

Aber Rahn hatte Recht. Es gab nichts mehr, was sie noch für ihn tun konnte.

Außer, ihn im Stich zu lassen.

Sie lief trotzdem noch etliche Dutzend Schritte neben Rahn und ihrer Mutter her, bevor sie endlich Sturmwinds Mähne losließ, mit einem Satz bei dem schwarzen Hengst und nahezu aus der gleichen Bewegung heraus auf seinem Rücken war, und im nächsten Moment schwang sich Lea hinter ihr auf Nachtwind, und auch Dragosz ließ sich zurückfallen und streckte im Laufen die Hand nach Sturmwinds Mähne aus, um sich auf ihren Rücken zu ziehen. Barosch schlug einen blitzartigen Haken nach rechts und rannte plötzlich auf die bewaldete Seite des Tales zu, und auch Kron, der endlich auf die Idee kam, seinen Beutel fallen zu lassen, stürmte in dieselbe Richtung. Nur Rahn rannte stur weiter geradeaus. Und wahrscheinlich, dachte Arianrhod bitter, hatte er auch damit Recht. Es gab in der Richtung, in die Kron und der fremde Krieger rannten, keine Rettung für ihn. Mit Achks Gewicht auf dem Rücken würde er den steilen Hang niemals erklimmen können, und selbst wenn er den blinden Schmied zurückließ, würden seine Kräfte vermutlich einfach nicht mehr ausreichen. Arianrhod begann immer heftiger zu schluchzen. Noch vor gar nicht langer Zeit hatte sie geglaubt, Rahn zu hassen, doch nun begriff sie plötzlich, dass das genaue Gegenteil der Fall war. Warum spürte man so oft erst, wie viel einem etwas wirklich wert war, wenn man es verlor?

Ihr blieb nicht einmal Zeit für einen Blick des Abschieds. Dragosz schrie: »Los!«, und Lea stieß Nachtwind die Fersen in die Seiten, woraufhin der Hengst einen regelrechten Satz nach vorn machte und in einen so rasenden Galopp verfiel, dass Arianrhod von seinem Rücken gestürzt wäre, hätte ihre Mutter nicht auch zugleich von hinten den Arm um sie geschlungen und sie festgehalten. Neben ihnen sprengte Dragosz im gleichen, rasenden Tempo los.

Mühsam drehte sich Arianrhod herum. Kron und Barosch hatten den Hang auf der anderen Seite beinahe erreicht, doch Rahn wurde nun sichtlich langsamer. Vielleicht versagten seine Kräfte endgültig, vielleicht sah er aber auch einfach keinen Sinn mehr darin, noch weiter zu laufen, denn es gab nichts mehr, wohin er noch hätte fliehen können. Die Verfolger holten jetzt rasch auf. Vielleicht wollte er sich seine letzten Kräfte aufsparen, um sich wenigstens noch verteidigen zu können, und sei es noch so sinnlos.

Und als Arianrhod den Kopf wieder nach vorn drehte und ihr Blick dabei noch einmal Kron und den fremden Krieger streifte, geschah das Wunder.

Kron krabbelte wie ein missgestalteter großer Käfer auf einer Hand und beiden Knien den Hang hinauf, weil er anscheinend zu erschöpft war, um sich noch auf den Beinen zu halten, Barosch aber war stehen geblieben. Sein Blick war auf die Bäume am oberen Ende der Böschung gerichtet.

Aus dem Unterholz traten Männer hervor. Sie waren ausnahmslos groß und dunkelhaarig, trugen dieselbe, sonderbare Kleidung wie Barosch und waren mit Speeren und runden, fellbespannten Schilden bewaffnet. Arianrhod zählte zwei, drei, fünf Männer, schließlich ein Dutzend oder noch mehr, die nacheinander aus dem dichten Gebüsch brachen und ohne zu zögern mit dem Abstieg begannen.

Ihre Mutter hatte Recht gehabt, dachte sie ungläubig. Es gab niemals einen Grund, die Hoffnung aufzugeben, und sei die Lage auch noch so aussichtslos.

Dragosz’ Krieger waren gekommen.

»Dragosz!«, schrie sie. »Da!«

Auch Dragosz drehte den Kopf, um in die Richtung zu sehen, in die ihre ausgestreckte Hand wies, und fuhr so heftig zusammen, dass er beinahe vom Pferd gefallen wäre. Zwei, drei Herzschläge lang galoppierte er noch weiter, dann riss er Sturmwind so grob zurück, dass das Pferd aufschrie und einen Buckel machte, um ihn abzuwerfen, brach seinen Widerstand aber sofort, und mit einer neuerlichen, noch brutaleren Bewegung zwang er es herum. Auch Lea riss Nachtwind herum, wenn auch nicht annähernd so brutal, wie Dragosz es getan hatte, dafür aber deutlich schneller, und sie jagten den Weg zurück, den sie gekommen waren. Selbst über die mittlerweile große Entfernung hinweg konnte Arianrhod sehen, wie Rahn abrupt stehen blieb und sich ein verblüffter, ungläubiger Ausdruck auf seinem Gesicht ausbreitete. Erst dann sah er in die Richtung, in die Arianrhod aufgeregt mit den Armen gestikulierte, und schien für einen Moment einfach zu erstarren. Langsam brach er in die Knie, ließ Achk so vorsichtig, wie er es nur konnte, von seinem Rücken gleiten, und sank dann ganz zu Boden, offensichtlich zu Tode erschöpft.

Dragosz’ Krieger, deren Zahl noch einmal zugenommen hatte, strömten immer rascher den Hang hinab, aber auch die Verfolger waren mittlerweile bedrohlich nahe gekommen. Aus den winzigen Gestalten waren Menschen geworden, deren Gesichter sie schon beinahe erkennen konnten. Sie hatten die neu aufgetauchte Gefahr entweder noch gar nicht bemerkt, oder sie ignorierten sie. Ohne langsamer zu werden, stürmten sie weiter heran. Arianrhod versuchte abzuschätzen, wer zuerst bei Rahn und dem Schmied ankommen würde - abgesehen von ihnen -, die Verfolger oder ihre neu aufgetauchten Verbündeten, aber es gelang ihr nicht. Sie konnte nur beten, dass es Dragosz’ Männer waren. Selbst zwei so gewaltige Kämpfer, wie es ihre Mutter und Dragosz zweifellos waren, wären einer derartigen Übermacht nicht gewachsen.

Kurz bevor sie den Fischer erreichten, nahm Lea Nachtwinds Geschwindigkeit plötzlich zurück und ließ ihn schließlich ganz anhalten. Auch Dragosz zügelte sein Pferd, sah Lea überrascht an und wirkte dann äußerst zufrieden - allerdings nur so lange, bis diese Arianrhod grob am Arm ergriff und geradezu von Nachtwinds Rücken herunterschubste. »Lauf«, zischte sie. »Renn zu den Männern!«

Arianrhod sah völlig verwirrt zu ihrer Mutter hoch. Was sollte das nun wieder bedeuten?

Statt irgendwie auf ihren verblüfften Blick zu reagieren, zog Lea ihr Schwert und ließ Nachtwind weitertraben. Auch Dragosz zog seine Waffe, wollte Sturmwind aber zur Seite lenken, um seinen näher kommenden Kriegern entgegenzureiten, und hielt dann wieder an. »Lea!«, rief er. »Was tust du?«

Lea antwortete nicht. Sie sah auch nicht zu ihm zurück, sondern hielt weiter auf Rahn und den blinden Schmied zu, lenkte den Hengst dann in einem engen Bogen um die beiden herum und hielt schließlich an.

»Lea!«, schrie Dragosz noch einmal. Seine Stimme überschlug sich fast. »Bist du verrückt geworden? Was tust du da?«

Arianrhods Mutter reagierte immer noch nicht. Hoch aufgerichtet und reglos saß sie auf Nachtwinds Rücken, hatte das Schwert halb in der rechten Hand erhoben und sah den heranstürmenden Kriegern aus Goseg ruhig entgegen.

Und dann erwachte auch Arianrhod aus ihrer Starre und folgte ihr.

Glaubte ihre Mutter tatsächlich, sie würde wegrennen und aus sicherer Entfernung zusehen, wie sie es ganz allein mit diesen Männern aufnahm?

Dragosz fluchte, zwang sein Pferd abermals herum und sprengte an ihr vorbei, um sich an Leas Seite zu postieren.

Arianrhod sah hastig nach links. Dragosz’ Kriegern war natürlich nicht entgangen, was geschah, und sie liefen jetzt noch schneller. Dennoch war Arianrhod klar, dass sie zu spät kommen mussten. Die Entfernung zwischen ihnen, ihrer Mutter und den anderen war mindestens doppelt so groß wie die, die noch vor den Verfolgern lag.

Trotzdem wurde sie nicht einmal langsamer. Der Verstand sagte ihr, dass sie drauf und dran war, sich umzubringen, aber derselbe Verstand sagte ihr auch, dass ihre Mutter keine Selbstmörderin war. Wenn sie bereit war, es ganz allein mit dieser Übermacht aufzunehmen, dann rechnete sie sich zumindest eine Möglichkeit aus, sie lange genug hinzuhalten, bis die Krieger heran waren. Und wenn nicht, wenn sich das Schicksal nach alledem einen so grausamen Scherz mit ihr erlauben sollte, dachte sie, wozu sollte sie dann noch leben? Wenn ihre Mutter, Dragosz und Rahn sterben sollten, dann hatte sie allenfalls noch die Wahl, entweder an Sarn ausgeliefert zu werden oder als Fremde in einem fremden Volk weiter zu leben, von dessen Sitten und Gebräuchen sie nichts verstand, dessen Sprache sie nicht einmal sprach und dessen Menschen ihr wahrscheinlich immer die Schuld am Tod ihres Anführers geben würden.

Sie eilte weiter, kam nach wenigen Schritten bei Rahn an und beugte sich ohne ein Wort zu ihm herab, um das Schwert aus seinem Gürtel zu ziehen. Der Fischer war im ersten Moment so verblüfft, dass er sie nur aus großen Augen anstarrte. Dann versuchte er zwar eine Bewegung zu machen, um sie zurückzuhalten, doch seine Kräfte reichten nicht einmal mehr dafür. Seine Brust hob und senkte sich so schnell, als wäre er dabei, zu ersticken.

Noch immer ohne ein Wort zu sagen, ging Arianrhod an ihm und Achk vorbei und nahm genau zwischen Sturmwind und Nachtwind Aufstellung. Dragosz blickte kurz auf sie herab und runzelte die Stirn, und ihre Mutter fragte nur, in fast belustigtem Ton: »Habe ich dir nicht befohlen wegzulaufen?«

»Ja«, sagte Arianrhod. »Aber du hast mir auch befohlen, auf dein Schwert Acht zu geben. Und so lange du es bei dir hast, kann ich das nicht tun, ohne in deiner Nähe zu bleiben.«

Dragosz’ Stirnrunzeln vertiefte sich, aber ihre Mutter lachte nur. Sie war gereizt wie eine Wildkatze, die aus Versehen in eine Bärenhöhle geraten war. Der Ausdruck von Anspannung auf ihrem Gesicht war unübersehbar, und ihre Hand öffnete und schloss sich immer wieder um den mit weichem Leder umwickelten Schwertgriff.

Auch Arianrhod fasste ihre Waffe fester. Nach allem, was ihre Mutter sie gelehrt, und nach all den Nächten, in denen sie mit Stöcken und Holzschwertern gekämpft hatten, konnte sie mit dieser Waffe vermutlich besser umgehen als die allermeisten der Männer, die dort heranstürmten. Aber sie hatte noch nie wirklich damit gekämpft, und natürlich war ihr auch klar, dass sie es an Kraft und Rücksichtslosigkeit nicht mit einem einzigen von ihnen aufnehmen konnte.

Beunruhigt sah sie nach links. Dragosz’ Krieger näherten sich rasch, und vielleicht schafften sie es ja. Wahrscheinlich würden sie sich nur wenige Augenblicke gegen diese Übermacht halten können. Dass es tatsächlich eine Übermacht war, selbst jetzt noch - ihre Zahl musste die der Fremden nahezu um das Doppelte übersteigen -, ignorierte sie vorsichtshalber. Das Schicksal hatte ein Wunder geschehen lassen, um sie zu retten, und vielleicht geschah ja auch noch ein zweites.

Es geschah.

Der Vormarsch der Krieger aus Goseg verlor plötzlich an Schwung. Die Männer stürmten nicht mehr so schnell heran, wie sie konnten, sondern wurden langsamer und schienen zu zögern. Immer mehr von ihnen blickten nach rechts, wo sich Dragosz’ Männer näherten, und immer mehr fielen von einem rasenden Laufschritt in einen raschen Trab, gingen schließlich nur noch und blieben dann ganz stehen. Vielleicht dreißig oder vierzig Schritte, bevor sie wirklich heran waren, hielten die Männer an, die weit auseinander gezogene Kette begann sich zusammenzuziehen und bildete nun einen dicht geschlossenen Pulk, aber den Vorteil, den diese Formation ihnen vielleicht verschaffte, hatte die verlorene Zeit längst wieder aufgezehrt. Dragosz’ Männer kamen jetzt immer rascher näher. Wenn die Krieger nun angriffen, dann hatten sie es nicht mit zwei berittenen Kriegern und einem Kind tun, sondern mit zwei Dutzend gut bewaffneten und zu allem entschlossenen Gegnern.

»Was tun sie?«, murmelte Lea. »Warum greifen sie nicht an?«

»Sie wagen es nicht«, antwortete Dragosz. In seiner Stimme war ein schwacher Unterton von Hoffnung, den er mühsam zurückzuhalten versuchte, ohne dass es ihm gelang.

»Aber sie sind in der Überzahl«, antwortete Lea. »Sie sind fast doppelt so viele wie wir!«

»Vielleicht haben sie Angst, dass noch mehr von uns irgendwo verborgen sind«, murmelte Dragosz. Mittlerweile war der beinahe triumphierende Ton in seiner Stimme lauter geworden. Die ersten seiner Krieger waren noch ein Dutzend Schritte entfernt und damit praktisch schon da. Er schüttelte den Kopf. »Und selbst, wenn es nicht so wäre, sie wurden losgeschickt, um ein entflohenes Kind einzufangen. Nicht, um in eine Schlacht zu ziehen.«

Vielleicht hatte Dragosz ja Recht, dachte Arianrhod. Diese Männer waren nicht darauf vorbereitet gewesen, auf ein ganzes Heer zu stoßen, sondern allenfalls auf sie, ihre Mutter und Dragosz, und vielleicht noch auf einen ehemaligen Fischer, einen blinden Schmied und einen einarmigen Jäger. Vielleicht erinnerten sie sich auch noch zu gut an das, was am Morgen geschehen war, um sich unvorbereitet auf einen Gegner zu werfen, über den sie nichts wussten, der ihnen aber schon einmal so schreckliche Verluste zugefügt hatte.

Vielleicht war es so. Es musste so sein.

Und es war so.

Die Männer kamen nicht näher. Während sich Dragosz’ Krieger rings um sie herum zu einem dicht gestaffelten, lebenden Schutzwall formierten, begannen die Krieger heftig gestikulierend miteinander zu reden, vielleicht auch zu streiten. Aber niemand hob eine Waffe. Niemand machte auch nur einen Schritt in ihre Richtung.

»Da ist Jamu«, sagte Lea plötzlich. Arianrhod strengte die Augen an und gewahrte den schwarzhaarigen Krieger tatsächlich zwischen all den anderen. Er hielt einen Speer in der rechten und ein Schwert in der linken Hand und deutete aufgeregt in ihre Richtung.

»Ich habe immer gesagt, der Kerl ist ein Feigling«, sagte Dragosz verächtlich.

Lea warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Dann hoffe ich, dass du Recht hast. Wenn sie uns angreifen, haben wir verloren.«

»Das werden sie nicht«, antwortete Dragosz überzeugt. Er schüttelte grimmig den Kopf. »Und wenn doch, sollen sie es versuchen. Ich habe keine Angst vor ihnen.«

Arianrhod war einen Moment lang verwirrt. Von der hörbaren Erleichterung in Dragosz’ Stimme war nichts mehr übrig. Ganz im Gegenteil klang er beinahe enttäuscht. Konnte es sein, dass er sich auf den Kampf gefreut hatte?

Doch wenn es so war, dann wurde auch diese Freude enttäuscht. Die Männer debattierten noch eine Zeit lang heftig miteinander. Ihre aufgeregten, wütenden Stimmen drangen bis zu ihnen hinüber, doch schließlich drehten sich die ersten um und gingen.

Lea atmete erleichtert auf. »Sie ziehen tatsächlich ab. Du hattest Recht, Dragosz. Sie wagen es nicht, uns anzugreifen.«

»Ich sagte doch, sie sind Feiglinge«, sagte Dragosz abfällig.

»Vielleicht sind sie auch nur besonnen«, widersprach Lea. »Sie sind weit weg von Goseg. Sie können nicht auf Verstärkung hoffen, und sie könnten auch ihre Verletzten nicht behandeln. Und du hast Recht - sie können nicht wissen, ob nicht noch mehr von deinen Männern in der Nähe sind.« Sie lachte leise. »Schade, dass ich Sarns Gesicht nicht sehen kann, wenn ihm klar wird, dass der Unsinn, den er über die Barbaren aus dem Osten erzählt hat, letztendlich doch seine Wirkung tut.«

Dragosz sah sie einem Herzschlag lang verwirrt an, aber dann lachte er. »Irgendwann werde ich zu ihm gehen und es eben selbst erzählen.«

Er drehte Sturmwind auf der Stelle herum, ritt die paar Schritte zu einem seiner Männer - vermutlich deren Anführer - und stieg ab, und auch Lea drehte Nachtwind, sodass sie Arianrhod nun direkt ins Gesicht sehen konnte. Ein Ausdruck unendlicher Erleichterung und großen Glücks lag auf ihren Zügen. »Siehst du, Arri«, sagte sie, »manchmal lohnt es sich doch.«

Arianrhod ließ ihr Schwert sinken und setzte dazu an zu antworten, und in diesem Moment sah sie aus den Augenwinkeln, wie Jamu seinen Speer mit aller Kraft schleuderte.

»Pass auf!«, schrie sie.

Ihre Warnung kam zu spät. Lea zögerte nur einen winzigen Moment, den Bruchteil eines Lidschlages vielleicht, und doch zu lange. Endlich riss sie Nachtwind herum. Der Hengst stieg mit einem erschrockenen Wiehern auf die Hinterbeine und schlug mit den Vorderläufen aus, als er das tödliche Geschoss heranrasen sah, und Lea riss ihr Schwert in die Höhe und schlug nach dem Speer, der mit unglaublicher Präzision und ebenso unglaublicher Kraft auf sie zielte.

Das Zauberschwert zerbrach.

Die Klinge brach dicht über dem Griff ab und flog davon, und der Speer, von der gewaltigen Kraft des Hiebes abgelenkt, traf nicht sie, sondern bohrte sich tief in Nachtwinds Brust. Der Hengst kreischte, trat noch einmal hilflos mit den Vorderläufen in die Luft und brach dann wie vom Blitz gefällt zusammen.

Das Geräusch, mit dem er Lea unter sich begrub, sollte Arianrhod nie wieder völlig vergessen.

Dragosz schrie gellend Leas Namen und war mit zwei, drei gewaltigen Sätzen bei ihr, und auch Rahn kam in die Höhe, erstarrte dann jedoch mitten in der Bewegung. Arianrhod aber stand wie gelähmt da. Sie begriff nicht, was geschehen war. Ein Teil von ihr wusste es sehr wohl, derselbe Teil, der ihr die ganze Zeit über zugeflüstert hatte, dass das Leben nicht so gnädig war, dass alles, was bisher geschehen war, nur dem Zweck gedient hatte, sie am Ende umso härter zu treffen, aber der weitaus größte Teil konnte nur dastehen und das gestürzte Pferd anstarren. Wie bei etwas, an dem sie nicht wirklich beteiligt war, nahm sie wahr, wie ringsum für einen Moment fast Panik aufkam. Etliche von Dragosz’ Männern hoben ihre Speere, und zwei oder drei schleuderten sie sogar, warfen aber allesamt zu kurz, und auch die Krieger auf der anderen Seite rotteten sich rasch wieder dichter zusammen, machten jedoch auch ihrerseits keinen Versuch, den begonnenen Angriff fortzusetzen.

Irgendwann überwand Arianrhod die Lähmung, die Besitz von ihr ergriffen hatte, und ging mit langsamen Schritten um den gestürzten Hengst herum.

Dragosz kniete vor ihr, sein gekrümmter Rücken verwehrte ihr den Blick auf ihre Mutter, aber sie musste sie nicht sehen, um zu wissen, was geschehen war. Sie hatte das Geräusch gehört, einen schrecklichen, knirschenden Laut, als würde ein großer Ast verdreht und zerbrochen.

Dieses schreckliche Geräusch.

Ihre Schritte wurden langsamer, und ihre Hände begannen immer heftiger zu zittern. Sie wollte nicht sehen, welcher Anblick sich ihr bot.

Aber sie ging weiter.

»Helft mir!«, befahl Dragosz fast schreiend. Keiner seiner Männer rührte sich, und er wiederholte die Aufforderung in seiner Muttersprache. Drei oder vier Krieger eilten herbei, und Dragosz machte ihnen mit heftigen Gesten klar, dass sie den gestürzten Hengst hochheben oder zumindest zur Seite schieben sollten, doch bevor auch nur einer von ihnen damit anfangen konnte, hob Lea die Hand und schüttelte mühsam den Kopf.

Arianrhod, die stocksteif neben und halb hinter Dragosz stand, wunderte sich ein bisschen, wie friedlich und entspannt ihre Mutter plötzlich aussah. Und wie wenig sie empfand. Lea starb, hier, jetzt, und vor ihren Augen, und sie sollte verzweifelt und hysterisch oder doch wenigstens traurig sein, aber sie spürte... nichts.

»Nein«, sagte ihre Mutter mit leiser, fast schon brechender Stimme. Ihre Zähne, die bisher stets so weiß wie frisch gefallener Schnee gewesen waren, schimmerten jetzt rot, und ein dünner Blutfaden rann aus ihrem Mundwinkel und den Hals hinab.

»Aber wir müssen das Pferd wegbekommen«, protestierte Dragosz. »Wir müssen dich...«

»Nein«, sagte Lea noch einmal. »Lass ihn... liegen. Bitte.«

Dragosz wirkte hilflos. Verstört hob er die Hände, setzte dazu an, etwas zu sagen, und brachte dann nur ein stummes Kopfschütteln zu Stande. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.

»Aber... aber wir können doch nicht...«

»Es ist gut«, unterbrach ihn Lea. Plötzlich war aller Schmerz aus ihrer Stimme gewichen, aber sie war zugleich auch leiser geworden; fast nur noch ein Flüstern, das selbst Arianrhod kaum noch hörte, obwohl sie gerade einen Schritt entfernt war. Leas Blick begann sich zu verschleiern.

»Lasst mich einfach... hier liegen«, bat sie. »Zusammen mit Nachtwind. Er... hätte es so gewollt. Und ich auch.«

Dragosz wollte etwas sagen, aber Lea unterbrach ihn mit einem matten Kopfschütteln. Ihr Blick flackerte, drohte sich im Nichts zu verlieren und tastete dann umher, bis er Arianrhod gefunden hatte.

»Arianrhod«, flüsterte sie. »Bitte lass mich... mit Arianrhod...«

Dragosz starrte sie an. Er rang sichtlich um seine Fassung, und er verlor diesen Kampf. Nach einer Weile, und nachdem Tränen sein Gesicht benetzt hatten, stand er auf und trat einen Schritt zurück. Ganz plötzlich war sein Gesicht wie Stein.

Zitternd ließ sich Arianrhod neben ihrer Mutter auf die Knie sinken. Sie empfand immer noch nichts, nicht die geringste Spur von Trauer, keinen Schmerz, keinen Zorn, aber die Welt begann auf sonderbare Weise rings um sie herum zu verblassen, bis sie in einem Meer aus grauem Nebel dahinzutreiben schien, in dem nur noch das Gesicht ihrer sterbenden Mutter Wirklichkeit war.

»Arianrhod?«, murmelte Lea. Der Blick ihrer weit geöffneten, schon halb verschleierten Augen war direkt auf Arianrhods Gesicht gerichtet, aber sie schien sie nicht mehr zu erkennen. Sie starb, begriff Arianrhod. Jetzt. Warum empfand sie nichts? »Bist du... da?«

Arianrhod konnte nicht antworten, denn ihre Kehle war einfach zugeschnürt. Sie konnte auch nicht atmen. Schweigend griff sie nach der Hand ihrer Mutter und hielt sie fest.

»Arianrhod«, flüsterte Lea. Die Andeutung eines Lächelns erschien auf ihren Zügen und verschwand wieder. Ihre Haut war so kalt wie Eis. »Du... du musst mir etwas... versprechen.«

Arianrhod konnte immer noch nicht antworten, aber sie griff fester nach den Fingern ihrer Mutter, und irgendwie brachte Lea noch einmal die Kraft auf, die Berührung zu erwidern. Schmerz erschien jetzt auf ihrem Gesicht, aber er wirkte seltsam unwirklich, als befände sie sich schon halb in einer Welt, in der er keine Bedeutung mehr hatte.

»Geh mit... Dragosz«, flüsterte sie. »Du musst mir versprechen... mit ihm... zu gehen. Heirate ihn und... und hüte unser Erbe.«

»Unser Erbe?« Die beiden Worte auszusprechen tat weh.

»Du bist... die Letzte... unseres Volkes«, flüsterte Lea. Das hellrote Rinnsal, das aus ihrem Mundwinkel lief, wurde breiter. »Es darf... nicht... untergehen. Versprich mir das.«

»Ich verspreche es«, antwortete Arianrhod. Sie fühlte immer noch nichts. Selbst die Tränen, die jetzt über ihr Gesicht liefen, schienen irgendwie nicht zu ihr zu gehören. Was geschah mit ihr?

»Das... das Schwert«, hauchte Lea, und Arianrhod spürte, dass sie es nun mit ihren unwiderruflich letzten Atemzügen tat. Ihre freie Hand tastete suchend umher, und Arianrhod beugte sich zur Seite und drückte ihr sanft den abgebrochenen Schwertgriff mit dem matt-grünen und goldenen Abbild des Himmels darin in die Finger. Lea hatte nicht mehr die Kraft, die Hand darum zu schließen.

»Was immer auch geschieht«, flüsterte sie. »Du musst sie... bewahren. Hüte... die... Himmelsscheibe.«

Und damit starb sie.

Ihre Augen blieben offen. Nichts an ihren bleichen Zügen änderte sich, nur ihre Finger öffneten sich plötzlich wieder und ließen den Schwertgriff los, aber Arianrhod konnte spüren, wie sich etwas von ihr löste, noch einen Augenblick wie ein unsichtbarer Hauch in der Luft schwebte und sie ein allerletztes Mal berührte, eine körperlose, sanfte Hand, die sich zum Abschied noch einmal auf ihr Herz legte und es mit einer Wärme erfüllte, die sie nie, nie wieder im Leben wirklich verspüren sollte, und dann einfach verging.

Und dann war der Schmerz da, auf den sie bisher vergeblich gewartet hatte, ohne eine Warnung, von einem Atemzug zum anderen und mit so unwiderstehlicher Wucht, dass Arianrhod schreiend über ihrer Mutter zusammenbrach.

Es war dunkel geworden. Nachdem die Sonne untergegangen war, hatten Dragosz’ Krieger eine Anzahl großer Feuer entzündet, die flackernde Inseln aus rotem und gelbem Licht in die Schwärze stanzten, die sich über der Welt ausgebreitet hatte, und zumindest in ihrer unmittelbaren Nähe die Kälte zurückhielten, die mit Einbruch der Nacht noch viel schlimmer geworden war. Aber es waren nur die äußere Kälte, und die äußere Dunkelheit, denen sie Einhalt zu gebieten vermochten. Die Schwärze, die von Arianrhods Seele Besitz ergriffen hatte, vermochten sie nicht aufzuhellen; so wenig wie sie das Gefühl der Kälte lindern konnten, die aus ihrem Inneren emporstieg und schlimmer war als das, was die Nacht mit sich brachte, und vielleicht nie wieder vergehen würde.

Arianrhod hörte das Geräusch leiser Schritte hinter sich, und sie erkannte an ihrem Rhythmus, dass es Dragosz war, der sich ihr näherte. Sie blickte nicht auf, straffte aber ein wenig die Schultern und versuchte, sich in eine etwas aufrechtere Haltung zu setzen, den sie wollte nicht, dass er sah, wie niedergeschlagen und mut- und kraftlos sie dasaß. Sie zitterte am ganzen Leib, aber dagegen konnte sie nichts tun, denn es war tatsächlich nur die eisige Nachtluft, die dafür verantwortlich war. Arianrhods Rücken fühlte sich an, als wäre er zu Eis erstarrt, während ihr Gesicht, ihre nackten Unterarme und Hände, die sie dem Feuer zuwandte, zu glühen schienen.

Sie konnte hören, wie Dragosz zwei oder drei Schritte hinter ihr stehen blieb und sich unbehaglich auf der Stelle bewegte. Vielleicht wartete er darauf, dass sie etwas sagte, vielleicht suchte er auch selbst nach Worten. Arianrhod hatte nicht die Kraft, sich zu ihm umzudrehen oder ihm gar ins Gesicht zu sehen. Es hatte lange gedauert, bis sie aufgehört hatte, sich weinend an ihre Mutter zu klammern und hysterisch nach jedem zu schlagen, zu treten oder auch zu beißen, der versucht hatte, sie auch nur zu berühren. Irgendwann waren ihre Tränen versiegt, aber der Schmerz war nicht vergangen, sondern nur zu einer anderen, vielleicht stilleren, aber nicht weniger schlimmen Art von Leid geworden, eine blutende Wunde auf ihrer Seele, die nie wieder heilen würde. Trotzdem war ihr die Erinnerung an jene Augenblicke peinlich. Sie schämte sich nicht ihrer Tränen, aber sie hatte nicht gewollt, dass Dragosz sie so sah.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er nach einer Weile.

Arianrhod reagierte auch darauf nicht, aber ihre Hände begannen mit dem abgebrochenen Schwertgriff zu spielen, den sie, seit sie hier am Feuer saß, abwechselnd in ihren Schoß gelegt und dann wieder wie einen kostbaren Schatz an die Brust gedrückt hatte. Hüte die Himmelsscheibe.

Als Dragosz klar wurde, dass er keine Antwort bekommen würde, ging er halb um das Feuer herum und ließ sich auf der anderen Seite in die Hocke sinken. Er streckte die Finger über den Flammen aus, so dicht, dass sie seine Hände schon fast berührten, und starrte für endlose Momente aus blicklosen Augen in die prasselnde Glut. Sein Gesicht, das von den roten Flammen erhellt und von Schatten mit dem Trugbild von Bewegung überzogen wurde, die es nicht gab, war vollkommen ausdruckslos, aber Arianrhod sah auch die verschmierten Spuren, die die Tränen in den Schmutz auf seiner Haut gemalt hatten. Auch seine Hände waren schmutzig, und trotz der Kälte glänzte seine Stirn vor Schweiß. Obwohl seine Krieger danach gegiert hatten, die Männer aus Goseg zu verfolgen und für den feigen Mord bezahlen zu lassen, hatte er es ihnen verboten und gut die Hälfte von ihnen dazu eingeteilt, rings um das eilig errichtete Lager herum Wache zu halten. Die anderen hatten Steine und Erdreich herbeigeschleppt, so weit sie nicht damit beschäftigt gewesen waren, die Feuer zu entfachen, mit denen er ganz allein ein flaches Hügelgrab über Lea und Nachtwind errichtet hatte.

Eine Arbeit für zehn Männer und eine halbe Nacht, die er ganz allein bei Einbruch der Dunkelheit vollbracht hatte. Er hatte vorgeschlagen, Lea auf die Art seines Volkes zu bestatten, die darin bestand, den Körper zu verbrennen, damit Rauch und Flammen die Seele hinauf zu den Göttern trugen, und es war das einzige Mal gewesen, dass Arianrhod das Schweigen, in das sie verfallen war, nachdem die Tränen endlich versiegt waren, gebrochen hatte. Sie hatte darauf bestanden, dass der letzte Wunsch ihrer Mutter erfüllt und sie zusammen mit ihrem Hengst genau dort beigesetzt wurde, wo sie lag. Sie hatte gespürt, wie schwer es Dragosz gefallen war, ihr diesen Wunsch zu erfüllen, aber er hatte sich nicht widersetzt.

»Das war eine dumme Frage, ich weiß«, knüpfte Dragosz nach einer langen Zeit an das unterbrochene, einseitige Gespräch an. Er zog die Hände zurück, als spüre er die Hitze der Flammen erst jetzt, und versuchte in ihrem Gesicht zu lesen. Was er darin erkannte, schien ihn traurig zu stimmen. »Es wird nie wieder alles in Ordnung sein, nicht wahr?«

Arianrhod spürte, wie sich ein trauriges Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Fast zu ihrer eigenen Verwunderung fühlte sie, wie sie den Kopf schüttelte und zugleich den zerbrochenen Stumpf des Schwertes wieder fest an die Brust drückte. Der abgebrochene Rest der Klinge lag neben ihr im Gras, und manchmal blitzten in den silberfarbenen Metall rote und gelbe Reflexionen der Flammen auf, als wäre es von einem geheimnisvollen, inneren Feuer erfüllt.

»Wir müssen bald weiter«, sagte Dragosz. »Ich würde gern die Nacht über hier bleiben und dir die Zeit geben, in Ruhe Abschied von deiner Mutter zu nehmen, aber das Risiko ist zu groß.« Obwohl sie mit keiner Miene darauf reagiert hatte, schüttelte er den Kopf, um seine Worte noch zu bekräftigen. »Jamu und seine Krieger könnten zurückkommen.«

»Ich weiß«, sagte Arianrhod.

Dragosz wirkte für einen Moment überrascht, als hätte er niemals damit gerechnet, dass sie überhaupt antwortete. Sie spürte auch, wie schwer es ihm fiel, weiter zu sprechen und die Frage zu stellen, derentwegen er überhaupt hierher gekommen war. »Hast du dich entschieden, was du jetzt tun willst, kleines Mädchen?«, fragte er.

Arianrhod nahm ihm diese Anrede nicht übel, denn sie spürte, dass nichts Abfälliges oder Spöttisches darin lag, sondern nur eine Art von Zuneigung, über deren wirkliche Natur er sich wohl selbst nicht im Klaren war. Wie sollte sie sich entscheiden? Sie hatte ihrer Mutter ein Versprechen gegeben.

Als sie auch darauf nicht antwortete, fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen und fuhr fort: »Wir gehen wieder zurück in die Berge, wo wir den Winter verbringen werden. Willst du mit uns kommen?« Arianrhod empfand ein neuerliches, warmes Gefühl von Dankbarkeit, dass er ihr diese Wahl ließ. Er hätte es nicht nötig gehabt. Für jeden anderen Mann, den sie kannte - außer vielleicht für Rahn -, wäre es nicht einmal eine Frage gewesen. So wenig, wie es für sie eine war.

Dennoch antwortete sie auch jetzt nicht gleich darauf, sondern nahm den Schwertgriff nun in beide Hände, blickte für eine kleine Ewigkeit wortlos auf die grüngoldene Scheibe in seinem Knauf und machte dann eine Kopfbewegung auf Rahn und die beiden anderen, die ein Stück entfernt an einem anderen Feuer saßen und in ein dumpfes Brüten verfallen waren, das kaum weniger schwer lastete als das ihre. »Und sie?«

Dragosz schüttelte kaum sichtbar den Kopf. »Du weißt, dass das nicht geht«, sagte er traurig.

»Und wenn ich es will?«, fragte Arianrhod. »Wenn es der letzte Wunsch meiner Mutter gewesen wäre?«

»Selbst wenn ich es wollte, wäre es unmöglich«, antwortete Dragosz sanft. »Meine Männer würden es nicht zulassen.«

»Ich dachte, du wärst der Herrscher deines Volkes.«

»Das ist wahr«, antwortete Dragosz, schüttelte zugleich aber auch den Kopf. »Ich bin sein Führer. Aber ich bin nicht die Art von Herrscher wie Sarn, oder wie Nor es war. Unser Volk wählt einen Anführer, von dem es glaubt, dass er der Beste für diese Aufgabe ist. Ich kann nicht einfach befehlen und mich über seinen Willen hinwegsetzen.«

»Weil dein Volk niemanden in seinen Reihen dulden würde, der zu nichts nütze ist«, sagte sie.

Dragosz’ Blick wurde noch eine Spur trauriger. »Ich hätte es anders ausgedrückt, aber... du hast Recht. So wenig wie deines.«

Sie hatte keine andere Antwort erwartet. Wieder verging Zeit, in der sie nur scheinbar ins Leere starrte. Dann fragte sie: »Und wenn ich dafür bezahle?«

Dragosz sah sie fragend an. »Wie meinst du das?«

»Ich weiß alles, was meine Mutter wusste«, antwortete Arianrhod. »Vielleicht nicht wirklich alles, aber doch das meiste. Sie hat mich viel gelehrt, und was sie mir nicht beigebracht hat, werde ich noch lernen. Du weißt, dass das so ist. Ich kann für dein Volk dasselbe tun, was meine Mutter für Sarns Leute getan hat. Mehr, denn dein Volk ist nicht mein Feind.«

Dragosz schien einen Moment lang ernsthaft über dieses Angebot nachzudenken, aber dann schüttelte er abermals und noch trauriger den Kopf. »Selbst dann nicht«, sagte er bedauernd. »Ich weiß, dass das, was du mir anbietest, hundertmal mehr wert ist als das Essen für die beiden Männer, aber mein Volk würde es nicht verstehen. Es tut mir Leid, Arianrhod.«

Sie war nicht überrascht, und auch nicht enttäuscht. Sie lächelte nur matt, ergriff die abgebrochene Klinge des Schwertes mit der anderen Hand und stand auf. Langsam drehte sie sich um und ging zu dem Feuer hinüber, an dem Rahn und die beiden anderen saßen. Sie konnte hören, wie Dragosz noch einen Moment zögerte und ihr schließlich folgte, dann aber abermals stehen blieb, kurz, bevor sie die Feuerstelle erreichte.

Rahn und der einarmige Jäger sahen auf, als sie ihre Schritte hörten. Ein plötzlicher Ausdruck von Betroffenheit erschien auf Rahns Gesicht, und er setzte dazu an, etwas zu sagen, fand aber dann nicht die richtigen Worte und schluckte nur ein paar Mal hart. Krons Gesicht war einfach nur leer, aber unter dieser vermeintlichen Leere spürte Arianrhod eine Betroffenheit, die sie überraschte. Sie war bisher der Meinung gewesen, ihre Mutter wäre dem Jäger mehr oder weniger gleichgültig gewesen, doch vielleicht gehörte auch das zu den - gar zu vielen - Dingen, in denen sie sich getäuscht hatte. Der Schmerz des Jägers war echt.

Arianrhod schenkte ihm ein kurzes, aber sehr warmes Lächeln und umrundete das Feuer, bis sie den Schmied erreicht hatte. Achk war so nahe ans Feuer herangerutscht, wie er es gerade noch wagte, ohne sich zu verbrennen, und obwohl er die Hände über die Flammen ausgestreckt und den Oberkörper und das Gesicht weit vorgebeugt hatte, um auch nur jedes bisschen kostbare Wärme aufzufangen, zitterte er vor Kälte. Aber er musste Arianrhods Schritte gehört haben, denn plötzlich hob er den Kopf und suchte mit seinen leeren Augen die ungefähre Richtung ab, aus der sie sich näherte.

»Wer... wer ist da?«, fragte er.

Statt zu antworten, ließ sich Arianrhod vor ihm in die Hocke sinken, griff nach seinem linken Arm und drückte ihm den Schwertgriff in die Hand. Achk fuhr heftig zusammen.

»Was...«, stammelte er. »Wer... wer ist da? Arianrhod?«

Sie sagte nichts, sondern griff nun auch nach seinem anderen Arm und drückte ihm die zerbrochene Klinge in die Rechte. »Das Schwert meiner Mutter, Achk«, sagte sie. »Es ist zerbrochen. Kannst du es mit Kron neu schmieden, wenn ich euch sage, wie?«

Achks erloschene Augen wurden groß. Arianrhod bemerkte aus den Augenwinkeln, wie sich Kron neben ihr kerzengerade aufrichtete, und sie hörte auch, dass Dragosz hinter ihr ungläubig die Luft zwischen den Zähnen einsog, aber sie behielt Achks Gesicht starr im Auge. Die Finger des blinden Schmieds strichen über das silberfarbene Metall, tasteten über die Bruchkanten und den goldgrünen Knauf und schließlich die gefährliche Schneide, und sein erloschener Blick irrte immer wilder zwischen Arianrhods Gesicht und dem zerbrochenen Schwert hin und her, als wolle er mit verzweifelter Kraft das Augenlicht zurückzwingen, das er längst nicht mehr hatte.

Und schließlich nickte er. »Ja.«

Ein warmes Gefühl von Dankbarkeit durchströmte Arianrhod. Sie lächelte Achk noch einmal zu, obwohl er es nicht sehen konnte, dann stand sie auf und drehte sich zu Dragosz um. Der fremde Krieger war in vier oder fünf Schritten Abstand stehen geblieben, aber ein einziger Blick in sein Gesicht machte Arianrhod klar, dass er jedes Wort verstanden hatte.

»Du hast es gehört«, sagte sie.

Dragosz schwieg. Sein Gesicht war wie Stein, aber Arianrhod sah ihm trotzdem an, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Zeit verging, unendlich viel Zeit, wie es ihr vorkam. Dann, zögernd und wie gegen einen körperlichen Widerstand ankämpfend, nickte er. »Also gut«, sagte er. »So soll es sein.«

Arianrhod sah ihn noch einen allerletzten Augenblick lang prüfend an, aber da war kein Anzeichen von Unehrlichkeit oder gar Betrug in seinem Blick. Sie war nicht einmal sicher, dass er sein Wort würde halten können; aber er würde es versuchen, und das war vielleicht schon mehr, als sie von ihm verlangen konnte.

Und alles andere?, dachte sie. Was würde die Zukunft bringen? Sie wandte den Blick in die Richtung, wo sie Goseg vermutete, verborgen hinter den Schleiern der Nacht und Entfernung, und sie wartete darauf, dass sie Zorn verspürte, Hass oder zumindest Groll, aber nichts von alledem wollte sich einstellen. Goseg war dort irgendwo, eine schwärende Wunde im Herzen des Landes, wie ein Hort des Bösen, der verdorben war und jeden verdarb, der sich zu weit mit ihm einließ, und möglicherweise würde sie eines Tages dorthin zurückkehren, aber nicht mit Feuer und Schwert, nicht, um Leid und Unrecht durch noch mehr Leid und Unrecht zu tilgen. Sie empfand keinen Rachedurst, und auch das war etwas, was ihre Mutter irgendwann, vor sehr langer Zeit, einmal zu ihr gesagt hatte und was sie wie so vieles erst jetzt wirklich verstand. Rache machte nichts wieder gut, sondern alles nur noch viel schlimmer.

Arianrhod drehte sich in die andere Richtung, dorthin, wo das Hügelgrab ihrer Mutter lag, ebenso verborgen in der Schwärze wie Goseg, aber näher, vertrauter und wärmer. Der Schmerz in ihrer Brust war immer noch nicht verstummt, und ganz würde er das vielleicht nie tun, aber nun auf eine schwer greifbare Art dennoch versöhnlicher. Vielleicht, weil sie spürte, dass ihre Mutter zwar tot war, trotzdem aber auf eine gewisse Weise immer bei ihr sein würde.

Nein, sie wollte keine Rache. Sie würde tun, was ihre Mutter von ihr verlangt hatte - was sie wirklich gemeint hatte -, und mit Dragosz gehen, und all das uralte und kostbare Wissen, das sie von ihr geerbt hatte, würde ganz gewiss nicht der Rache dienen, auch wenn Dragosz das vielleicht im Augenblick noch annehmen mochte. Sie würde seinem Volk helfen, so wie ihre Mutter Nors Volk geholfen hatte, und vielleicht würde sie ihm ermöglichen, in eine Zukunft zu gelangen, in der das Leben ein winziges bisschen besser war. Und bis dahin - und darüber hinaus bis ans Ende ihres Lebens - würde sie das sein, wozu ihre Mutter sie erzogen hatte: die Hüterin der Himmelsscheibe.

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